Birgit Rüsch-Neuhaus

Eine mörderisch gute Schule


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anders.“

      „Weiß ich doch, bin ja nicht blöd! Außerdem will ich mich nicht umbringen; ich brauch was, um weitermachen zu können. Du erzählst doch dauernd, dass sie dich fit und wach und glücklich machen. Genau das brauch ich jetzt. Ich will nicht in meinen eigenen Tränen ersaufen. Außerdem muss ich mal wieder Omi besuchen - donnerstags, nach x Stunden Schule. Da muss ich mich dann noch auf ’n Alzi einstellen, da kann ich nicht ’rumheulen!“

      Ich sah, dass Steffi schluckte und dass ihre Pupillen unnatürlich weit waren.

      „Wie viele nimmst du - ich meine, am Tag?“

      „Am Tag?“, sie schien zu überlegen. „Drei... , eher vier“, gab sie schließlich zu und fing sofort an, sich zu rechtfertigen. „Weil wir so viele Tests hatten, für die ich lernen musste... und das Referat in Geschichte... und das Jugend forscht’- Projekt in Chemie - G8 ist hammerhart, weißt du doch!“

      „Das ist teuer - oder?“, fragte ich nun stirnrunzelnd zurück.

      „Ach was!“, antwortete sie zu meinem Erstaunen. „Das Problem liegt woanders: bei der doppelten Verschreibung, die musst du erst mal kriegen!“

      „Aber du hast doch... “

      „Ich hab einen Onkel, der ist Arzt, und zwei kleine Brüder, die haben ADHS. Mein Onkel verschreibt denen andauernd dieses Zeug gegen ihre Zappeligkeit. Wir müssen in der Apotheke nicht mal zuzahlen.“

      „Dann nimmst du also einfach ihre Pillen?“

      Steffi grinste. „Merkt keiner. Ab und zu tausche ich ihre Pillen durch Vitaminpillen aus, die genauso aussehen. Und wenn die lieben Kleinen daraufhin mal wieder komplett abdrehen, schmeiß ich vor ihren Augen ein ganzes Glas Vitaminpillen ins Klo. Sie rennen dann sofort zu unseren Eltern und jammern, dass sie neue Droge brauchen.“

      „Also, wie viele?“

      „Du musst mit einer anfangen“, erklärte Steffi, „sonst drehst du ab.“

      ***

      Ich drehte nicht ab, denn ich hielt mich streng an Steffis Anweisung: Morgens nach dem Frühstück eine Pille. Die Wirkung war verblüffend: Schlagartig war meine düstere Stimmung verflogen, meine geistige Trägheit dahin. Der Himmel war wieder blau. Ich sah wieder klar, wusste, worauf es ankam. Ich konnte wieder denken, mich vernünftig mit Mum und Sascha unterhalten. Ich konnte jeden Donnerstag Omi im Heim besuchen - nach der Schule, nach x Stunden Unterricht - und dazu ein fröhliches Gesicht machen. Ich konnte sogar auf sie eingehen und sie mit echtem Interesse nach ihren Lieblingsbeschäftigungen fragen. Die Pflegerin staunte nicht schlecht, als sie uns einmal kurz nach dem Abendbrot beim Singen erwischte: Da saßen wir nebeneinander auf Omis Bettkannte und sagen aus voller Brust: „Alle Vögel sind schon da“.

      Für die Schule war das erst recht gut: Ich konnte wieder lesen - und was das Tollste war, ich konnte mir sogar merken, was ich gerade gelesen hatte!

      Drei Wochen lang ging das so. Wenn mir während dieser Zeit jemand gesagt hätte, ich sei auf „Katastrophenflug Juli“, dann hätte ich ihn ausgelacht. Ich kam locker auch noch durch die vierte Woche.

      Am Sonntag darauf fühlte ich mich so stark, dass ich Lenny auf dem Friedhof besuchte. An seinem Grab zog ich den silbernen Ring vom Finger, hielt ihn in die gleißend weiße Wintersonne und kriegte sogar ein Lächeln hin: „Glaub mir, Lenny, es wird immer so bleiben: Lenny & Juli - friends forever!“

      Binnen Sekunden holte mich alles wieder ein. Der schwarze Schatten sprang mir eiskalt ins Genick. Zu Hause brauchte ich zum ersten Male eine zweite Pille.

      Als die Schule wieder anfing - es war inzwischen Ende Januar und alles renoviert worden, was im Dezember oberflächlich Schaden genommen hatte - ging der Stress wieder los: Zuerst drückte man mir ein mittelmäßiges Halbjahreszeugnis in die Hand. Dann folgten zwei Sporttage, in denen ich mit meiner höchstens drittklassigen körperlichen Kondition konfrontiert wurde. Danach machte der Findling genau wie alle anderen Lehrkräfte weiter wie immer: scheinbar freundlich, sogar mit offenem Unterricht, selbstverantwortlichem Lernen - und hinterher Testen, die uns an die Spitze von PISA treiben sollten. Wir krochen auf dem Zahnfleisch, mein Pillenkonsum stieg binnen eines Monats auf vier pro Tag.

      Am 21. März, es war Frühlingsanfang, aber dennoch ein kühler, fahler Wintermorgen, da geschah es: Ich hatte eben mein Rad aus dem Schuppen geholt und war auf dem Weg zum Gartentor, da war es, als löse sich alles um mich herum in Luft auf. Ich merkte gerade noch, dass das Teil mir unter dem Hintern wegrutschte...

      Ein gleichförmiges, hohes Piepen war des erste, was ich irgendwann viel, viel später hörte. Es klang orange; ich fühlte es wie Nadelstiche durch die Schale einer reifen Apfelsine. Mühsam schlug ich die Augen auf: Ringsherum war alles weiß, steril - Krankenhaus!

      „Mein Gott, Juli!“, hauchte meine Mutter und ergriff meine Hand.

      Sie saß auf meiner Bettkante - gerade in dem Moment, als ich aufwachte. Eine Mischung aus Erleichterung und banger Erwartung stand ihr ins Gesicht geschrieben; ihre Augen pendelten unruhig hin und her und ihr Make up konnte die hektischen Flecken auf ihren Wangen nicht kaschieren.

      „Ist alles wieder gut?“

      Während ich noch in meinem Gedächtnis angestrengt nach einer Antwort kramte, die mir geeignet schien, meine Mum nicht allzu sehr zu beunruhigen, tippte die bereits ziemlich hektisch eine SMS in ihr himmelblaues Handy. „Ich muss los - zu Omi, ist ja Donnerstag.“

      Donnerstag - der öde, lange, zähe, schokoladenbraune Donnerstag! Und Omi!

      Die Heimleitung wartete darauf, dass jemand um fünf kam; das war so abgemacht. Mum musste mich vertreten. Eigentlich müsste das ja er machen, schoss es mir durch den Kopf; es war ja schließlich seine Mutter. Aber das stand wohl nicht zur Debatte, und ich war auch zu schwach um nachzufragen.

      Mum stand auf, gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Na ja, erstmal bist du in Sicherheit! Und die ,Grünen Damen’ werden sich ab jetzt bestimmt rührend um dich kümmern.“

      Mein Kopf schwirrte wie von tausend Flügeln. Wo war ich überhaupt?

      Die Antwort auf meine Frage bekam ich erst, als ich zum zweiten Male aufwachte: Da saß mein Vater auf der Bettkante.

      Über seiner Nasenwurzel stand eine tiefe senkrechte Falte, seine graublauen Augen sahen heute mausgrau aus, die Pupillen waren weit und schimmerten schwarzsilbern wie Kanonenkugeln; er hatte wohl stundenlang neben meinem Bett gewacht, komplett gestresst. Entsprechend misstrauisch klang seine erste Frage an mich:

      „Bist du wieder klar?“

      „Glaub’ schon“, murmelte ich und versuchte mich aufzurichten, aber ein paar dünne Schläuche waren irgendwie im Wege.

      „Warte, ich helf dir.“

      Er rollte den piepsenden Monitor näher an mein Bett. Die orangefarbenen Stiche wurden lauter. Dann zog er meinen Körper behutsam in Richtung Kopfende. „So, jetzt fahr ich das Kopfende hoch. Sag Bescheid, wenn es genug ist!“ Er drückte einen Knopf der Fernbedienung, die neben dem Bett baumelte. Gleich darauf saß ich beinahe aufrecht und konnte ihn ohne allzu große Anstrengung ansehen. Aber die Stiche taten weh.

      „So geht das nicht weiter, Juli!“

      „Klar“, antwortete ich. Nicken mochte ich nicht; dafür war mein Kopf zu schwer. Diskutieren wollte ich auch nicht; dafür war ich zu müde. Aber wissen wollte ich zwei Dinge: Wo war ich? Und wo war mein Ring?

      „Elmshorn“, sagte mein Vater tonlos, „Krankenhaus.“

      Klar, logisch: Man hatte mich in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht. Bei Notfällen war das so, ein Automatismus sozusagen. Also war ich „ein Notfall“ gewesen! Ich fragte nicht weiter nach; denn darüber wollte ich auf keinen Fall diskutieren. Dass sie mich nicht in die Psychiatrie gebracht hatten, beruhigte mich allerdings ein bisschen: Sie stuften mich also nicht als Selbstmordkandidatin ein. Gut so!

      Mein