Eva Pflüger

Der Coach


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Er gähnt, die Biere und Joints haben ihn sediert. Da wird die Beifahrertür aufgerissen, ein langes nacktes Bein schiebt sich in den Wagen, eine Tasche fliegt hinterher. Die Göttin der Liebe ist aus dem Tizianplakat herab gestiegen, wischt den Müll vom Sitz und lässt sich hinein fallen. Er will etwas sagen. Mit diesem Kinderlachen, dass ihn schon auf der Party irritiert hat, kommt sie seinem Protest zuvor. Sie wendet sich ihm zu, beginnt ohne jede Hast und in der offensichtlichen Gewissheit nicht gestoppt zu werden, nach und nach alle Verschlüsse seiner Kleidung zu öffnen, unterbrochen von warmen hin gehauchten Küssen. Sie spricht kein einziges Wort. Sein Kopf bastelt an der Aufforderung sie möge verschwinden. Sein Körper ist längst woanders unterwegs. „Nicht bewegen!“ ist das einzige was sie sagt, während sie seine Hand nimmt und sie langsam abwärts führt, von ihrer Wange zum Hals, über den glatten Stoff ihres Kleides bis zu den nackten Beinen; eine Geste, sinnlich und verletzlich zugleich. Das Kleid ist so dünn. Er hat das Gefühl verrückt zu werden vor Verlangen. Es ist heiß in dem Auto.

      Er hätte das verdammte Dach offen lassen sollen.

      Unter dem Kleid ist nur ihre Haut. Sonst nichts. Der Augenblick, in dem er aufgibt, sie zu sich zieht. Das Gefühl, in unendlicher Langsamkeit in einem warmen See zu versinken. Wieder aufzutauchen, um in atemberaubendem Tempo und schwindelnden Höhen die Erde zu umrunden. Er vergräbt sein Gesicht in ihren Haaren. Hofft, dass sie seine Schreie einfangen.

      Gut, dass er das Dach geschlossen hat.

      Er könne schon mal starten, teilt sie ihm mit, während sie ihr Kleid überwirft. Fragt, ob er sie ein Stück mitnehmen könne. Wo sie wohne, will er wissen. Spandau, die entgegen gesetzte Richtung. Er ist schon viel zu spät dran, wollte längst zu Hause sein. Vielleicht ein anderes Mal, lügt er. Er weiß nicht einmal ihren Namen, fragt auch nicht. Dass er in wenigen Stunden Berlin für lange Zeit verlassen wird, lässt sie aufhorchen. Ein Anflug von Zorn verändert ihr Gesicht nur kurz. Sie schaut ihn an, nimmt die Tasche vom Boden, öffnet die Tür, dreht sich um, als sie draußen steht. „Du warst ziemlich gut, Arschloch!“ Ob sie noch etwas sagt, kann er nicht hören, sie knallt die Tür zu.

      Er sitzt hinter dem Steuer, will sich sammeln, bevor er losfährt. Das ist definitiv ein sensationeller Einstieg in sein neues Leben gewesen. Er blickt in den Rückspiegel. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne leuchten die roten Haare. Er startet den Motor und lässt die Ente langsam anrollen. Auf dem Bürgersteig kommt ihm ein Paar entgegen, das sich aneinander festhält und lachend in einem Hauseingang verschwindet. Bevor er abbiegt, schaut er noch einmal zurück. Alles ist ruhig. Sie winkt ihm zu, während sie rückwärts geht. Sein latent schlechtes Gewissen weicht einem federleichten Glücksgefühl.

      Die Schatten, die sich weit hinter ihr am Ende der Straße aus dem diffusen Licht eines spärlich beleuchteten Schaufensters lösen, nimmt er nicht wahr.

      Teil I

      Berlin-Mitte, April 2011

      Kapitel 1

      Der Gedanke einen Menschen getötet zu haben, hat lange Zeit mein Leben bestimmt. Es war mein Zwillingsbruder, den ich umgebracht haben soll, Tatort der Uterus meiner Mutter. Meine Kindheit und Jugend habe ich in der Überzeugung gelebt, dass es besser gewesen wäre, wenn ich mich gleich nach der Geburt wieder von der Welt verabschiedet hätte.

      Meine Eltern legten weit mehr Interesse füreinander an den Tag als für mich, das ungebetene Ergebnis ihrer symbiotischen Beziehung. Um es auf den Punkt zu bringen: nachdem ich nun mal da war, hat man mich groß gezogen.

      Meine Mutter hatte nicht den Hauch einer Ahnung, welche Schuld sie ihrem Sohn in den Kinderrucksack packte, als sie auf Familienfesten oder im Kreis der Freunde mit Begeisterung die immer gleiche Geschichte erzählte. Ich sei so wild entschlossen gewesen, als erster auf die Welt zu kommen, dass ich meinen hinter mir wartenden Bruder tot getrampelt haben müsse. Genau so drückte sie sich aus, pflegte an dieser Stelle amüsiert zu lächeln und hinzuzufügen, der andere Junge habe jedenfalls nicht mehr gelebt, als er ans Licht kam.

      Ich habe meine Mutter dafür gehasst. Sie weiß nichts von meinen Qualen. Meine Gefühle prallen an ihr ab wie ein Wasserstrahl an einer Plastikplane. Ich habe eine Menge Zeit und Geld in Therapien investiert, bis ich meiner Mutter verzeihen konnte. Trotz allem kümmere ich mich um sie, besuche sie jeden zweiten Montag und, wenn ich es nicht vergesse, auch an ihrem Geburtstag. Vor diesen Ritualen drücke ich mich nur selten. Wenn ich die Wohnung in Berlin Charlottenburg betrete, in der ich aufgewachsen bin und in der meine Mutter noch heute, nach dem Tod meines Vaters, lebt, gebe ich mir Mühe, die Gedanken zu verbannen, die wie kleine kalte Fische durch meinen Kopf huschen und die mich bei jedem Besuch den Erlös berechnen lassen, den ich eines Tages mit dem Verkauf der elterlichen Wohnung erzielen werde.

      Mein Name ist Leo Kafka. Ich will gleich an dieser Stelle anmerken, dass ich keine Ahnung habe, ob ich verwandt bin mit dem berühmten Schriftsteller. Eine Antwort auf diese Frage zu suchen ist nicht meine Absicht. Das hängt damit zusammen, dass ein Archivar und Spezialist für mittelalterliche Geschichte mir an der Theke einer Kneipe in Berlin Mitte ein Geheimnis verraten hat. Menschen, die unbedingt wissen wollen, wo sie herkommen und deshalb die Erforschung ihrer Ahnenreihe in Auftrag geben, würden in Insiderkreisen, also bei den Archivaren, als Geschlechtskranke bezeichnet. Er schien sich dabei köstlich zu amüsieren. Hätte ich jemals den Plan gehabt, in dieser Richtung tätig zu werden, jetzt war das Thema endgültig vom Tisch.

      Meinen Lebensunterhalt verdiene ich als Coach. Die Arbeit mit Menschen, die das Bedürfnis oder den Auftrag haben, an ihren Potenzialen zu arbeiten und sich beruflich und persönlich zu entwickeln, gibt mir das Gefühl in meinem Leben etwas Sinnvolles zu leisten. Die Mischung aus Dankbarkeit, Respekt und Achtung, die nahezu alle Klienten mir am Ende der gemeinsamen Arbeit entgegen bringen, erfüllt mich mit einer widersprüchlichen Mischung aus Demut und Stolz. Ich habe gelernt mich auch über kleine Erfolge zu freuen, mit denen ich weder Revolutionen auslöse noch sonst irgendwie die ganze Welt verändere. Basis meiner Arbeit ist die tiefe Überzeugung, dass jeder Mensch als biologisches, soziales und geistiges Wesen für sein eigenes Denken, Handeln und Fühlen Verantwortung trägt; dass jeder ein grundlegendes Recht auf die Entwicklung eigener Ziele und Werte besitzt; dass zu einem erfüllten Leben der wechselseitige Anspruch auf Achtung, Wertschätzung und Respekt gehört.

      Im Laufe von 15 Jahren habe ich es in meiner Profession zu einigem Ansehen gebracht. Heute kann ich mir alles leisten, was für mich zu einem komfortablen Leben gehört und meiner Vorstellung von Luxus entspricht. Meine großzügige Altbauwohnung in Berlin Mitte habe ich mit wenigen wertvollen und einigen bequemen Möbeln ausgestattet. Hier arbeite ich auch mit meinen Klienten. Der Anblick des Jaguar E Type Cabrio vor der Tür meines Mietshauses erfüllt mich jedes Mal mit postpubertärer Freude und einem schlechten Gewissen. In dieser Reihenfolge. Ich räume ein, dass meine Freude überwiegt. Und ich gebe zu, dass ihr manchmal eine Konnotation von Genugtuung beiwohnt. Nicht gegenüber konkreten Personen oder Ereignissen. Es ist eher ein diffuses Gefühl in Bezug auf meine nicht immer ruhmreiche Vergangenheit. Würde ich den Spießer in mir zu Wort kommen lassen, könnte ich sagen, dass ich es geschafft habe.

      Tage wie dieser, es ist ein später Freitagnachmittag im Frühling 2011, und die Tatsache, dass ich alleine bin, keine Termine mehr wahrzunehmen habe, sind wie geschaffen für frei mäandernde Gedanken. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer und betrachte, die Füße auf dem antiken Schreibtisch, die Kulisse vor dem Fenster. Gepflegte Altbauten unter einem grauen Deckel aus Regenwolken über Berlin. Mein bisheriges Leben oder Teile davon Revue passieren zu lassen ist wie der Blick durch ein Kaleidoskop, in dem ich eine atemberaubende Folge von bunten Mustern, Scheiternsszenarien und Erfolgen, beobachten kann.

      Noch einige Jahre nach der Studentenzeit legte ich missionarischen Eifer an den Tag, wenn es darum ging, an den Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft zu rütteln. Als einer der Höhepunkte meiner Aktivitäten zur Bekämpfung des Klassenfeindes auf den Straßen Westberlins ist mir meine Faust in gefährlicher Nähe eines Polizisten in Erinnerung. Die Aktion brachte mir eine Nacht im Knast ein. Eine klaustrophobische Erfahrung, die ich niemals vergessen werde. Ebenso wenig wie das denkwürdige Ereignis auf dem Dach eines Hauses in Tanger, wo ich nach meinem Examen auf