Eva Pflüger

Der Coach


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und breitete die Arme aus, nicht um meinem Leben ein Ende zu setzen, sondern weil ich so komplett zugekifft war, dass ich glaubte fliegen zu können. Ebenso deutlich habe ich eine meiner Berliner LSD-Halluzinationen in den 70er Jahren vor Augen, als ich mich aus dem Fenster meines WG-Zimmers lehnte und fasziniert beobachtete, wie die einzelnen Steine des unter mir liegenden Kopfsteinpflasters abwechselnd aufleuchteten und zu tanzen begannen.

      Nach meinem Studium startete ich eine Achterbahnfahrt durch verschiedene Jobs in Forschungsinstituten und sozialen Einrichtungen. Brotlose Engagements in politischen Think Tanks wechselten mit Zeiten der Arbeitslosigkeit. Eine Karriere als Taxifahrer habe ich in meiner Biographie ebenfalls aufzuweisen. Von der Erfahrung zehre ich noch heute. In Berlin, zumindest im westlichen Teil der Stadt kenne ich jeden Winkel. Ich glaube auch, dass diese Zeit, in der ich Menschen aller sozialen Schichten und in vielen Stadien des Glücks und der Verzweiflung begegnet bin, in mir die unersättliche Neugier geweckt hat auf das was hinter den Fassaden an Faszinierendem, Liebenswertem, Überraschendem und Abgründigem zu sehen ist.

      Das graue Einerlei des Tages ist einer tristen Dämmerung gewichen. Es regnet, mir ist kalt, ich schließe das Fenster. Auf der anderen Straßenseite stößt ein Hüne mit einer Hand einen Kinderwagen der Tausend-Euro-Variante vor sich her, der jedes Mal ein paar Meter unkontrolliert an der Bordsteinkante entlang rollt. Mit dem anderen Arm zerhackt der Mann die Luft um sich herum. Was er zu verkünden hat, gilt offensichtlich der Frau, die ihm mit einigen Schritten Abstand folgt. Außer ihr ist niemand in der Nähe. Ich kann seine Worte nicht verstehen, aber die mühsam verdeckte Aggression, die dieser Mensch ausstrahlt, spüre ich noch hinter geschlossenen Fenstern.

      Die Aussicht auf ein entspanntes Wochenende mit einem Treffen meiner Pokerfreunde ist leicht getrübt durch zwei Herausforderungen, die am folgenden Montag auf mich warten. Die eine ist der Besuch bei meiner Mutter.

      

      Kapitel 2

      „Ich werde dir fehlen.“

      Mit geschlossenen Augen sitze ich in meinem Arbeitszimmer. Denke über diesen Satz nach. Ich bin sicher, ihn schon einmal gehört zu haben. Wahrscheinlich ein Zitat aus einem Film.

      Mit diesem Spruch hat Martha sich in der vergangenen Nacht von mir verabschiedet, um mich wieder einmal zu verlassen. Nicht für immer. Sie nimmt eine Auszeit von zwei oder drei Monaten, das hat sie schon öfter getan. Martha und ich sind ein Paar, seit mehr als zehn Jahren. Für uns beide die längste Beziehung, die wir je hatten. Vielleicht auch die beste. Wir haben gelernt zu akzeptieren, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse gelebt und respektiert werden müssen, wenn wir ein Paar bleiben wollen. Genauer gesagt, hat Martha es gelernt. Ich habe schon immer nach meinen Vorstellungen gelebt.

      Marthas Leidenschaft für ausgedehnte Reisen teile ich nicht. Wie ich meine Auszeiten gestalte, löst bei meiner Gefährtin resigniertes Kopfschütteln aus. Manchmal auch Besorgnis, sagt sie. Ich kann wochenlang hinter Bergen von Büchern verschwinden. Wenn ich wieder auftauche, verfüge ich über mehrere grob skizzierte Entwürfe für neue Beratungskonzepte, die ich dann eine Zeit lang für ebenso genial wie umsatzträchtig halte. Einige dieser Ideen setze ich um. Andere landen in der Bibliothek der nicht realisierten Visionen und ungelebten Träume, die ich in meinem Kopf eingerichtet habe. Dort werden auch die Vorsätze für einen gesünderen Lebensstil gesammelt, die ich von Zeit zu Zeit gerne fasse. Sie sind zahlreich und meistens folgenlos.

      Es stimmt, Martha wird mir fehlen. Das leere Gefühl in mir kenne ich schon. Ich weiß, dass es vorübergehen wird. Nicht zum ersten Mal konnte ich mich nicht entschließen, meine Arbeit liegen zu lassen und Martha wenigstens bei einem Teil ihrer Reise zu begleiten. Der Vorstellung, mit ihr die Welt zu entdecken, kann ich durchaus etwas abgewinnen. Aber ich mache es dann doch nicht. Das hat im Laufe unserer Beziehung immer wieder zu größeren Verwerfungen geführt. Geändert hat das nichts, wir sind noch immer zusammen und Martha reist meistens allein. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Das legt sich, wenn ich wieder in meine Arbeit eintauche.

      In den Häusern auf der anderen Seite der Straße gehen die Lichter an. Es war mir entgangen, dass ich in der Dunkelheit sitze. Ein Glas Rotwein ist jetzt angesagt. Auf dem Weg in die Küche, vorbei an dem großen Spiegel in der Diele, begegnet mir ein Kerl mit grauen Bartstoppeln, ungekämmten Haaren, leicht kollabierter Haltung, in ausgebeulten Jogginghosen und fleckigem Sweatshirt. Zu allem Überfluss habe ich vergessen zu duschen. Aber egal, mit Gästen ist heute nicht zu rechnen, jedenfalls nicht ohne Vorwarnung.

      Auf dem alten Holztisch in der Küche liegt ein seidig glänzender Morgenmantel und verbreitet einen Hauch von Martha. Ihre Abschiedsbotschaft. Hier bewirte ich meine wenigen Freunde mit aufwändig zubereiteten Menüs und guten Weinen. Aus zwei ehemals kleineren Zimmern hat der Eigentümer der Wohnung eine Küche gestaltet, in der sich jeder ambitionierte Freizeitkoch ungehindert austoben kann. Daher fühlen sich auch meine Freunde, die sich um den großen Tisch versammeln, nicht gestört von dem Chaos, dass ich bei meinen Kochorgien produziere. So kurz nach Marthas Abreise ist der Raum beklemmend leer. Ich habe keine Lust, mich länger an diesem Ort aufzuhalten. Mit einem sardischen Rotwein, den wir am Vorabend zu zwei Dritteln geleert haben, und einem Hauch von Marthas Duft kehre ich zurück an meinen Schreibtisch. Vorbei an dem Typen mit den depressiven Falten im Gesicht, der in der Diele auf mich gewartet hat.

      Was ist los mit mir heute? Ich hatte mich in der Absicht, die kommende Woche zu planen, in mein Arbeitszimmer begeben. Der Monitor auf dem Schreibtisch glotzt mich mit seinem kalten schwarzen Auge an.

      Is’ was, Doc?

      Der Kultfilm aus den 70ern mit der bezaubernden Szene, in der Barbra Streisand dem ebenso liebenswürdigen wie schusseligen Musikprofessor Elmer Fudd mitteilt „Ich werde Dir fehlen!“ Mindestens fünfmal gesehen, zweimal mit Martha. Mir wird heiß bei der Erinnerung an den fulminanten Abschied, den Martha uns in der vergangenen Nacht bereitet hat. Bücher, Papiere, CDs, die ihr im Weg waren, hatte sie von dem schwarz lackierten antiken Schreibtisch gewischt. Alles lag auch jetzt noch verstreut auf dem Boden des Arbeitszimmers. Ein Sakrileg, es handelt sich schließlich um meine Arbeitsunterlagen. Ich war nicht fähig gewesen zu protestieren angesichts dessen was mich erwartete. Die einladende Bewegung, mit der Martha den leer gefegten Platz eingenommen hatte, gehört zu einer perfekten Inszenierung, die auch nach Jahren nichts von ihrer Faszination verloren hat. Beim ersten Mal hatte Martha erklärt, dies sei ihre einzige Chance, wenigstens für einige Minuten auf Platz Eins der Liste mit den wichtigsten Dingen in meinem Leben zu stehen, noch vor meinem Arbeitsplatz. Das ist natürlich völliger Unsinn, aber Martha glaubt fest daran und mir gefällt das Spiel.

      Mit meinem Leben bin ich so zufrieden wie man es mit 58 Jahren und ohne Familie nur sein kann. Die paar Kilo zu viel, die bei meiner Größe nicht sonderlich auffallen, bewege ich mit großer Gelassenheit durch meine Welt. Auf andere wirkt das Tempo entweder beruhigend oder provozierend, das hängt vom jeweiligen Kontext ab. Die Frage eines Freundes, wie ich es schaffe, ständig den Eindruck zu erwecken, als wandle ich durch den Kreuzgang eines Klosters, während um mich herum das Leben tobt, kann ich nicht beantworten. Mein Tempo war immer schon so, egal ob ich mich morgens aus dem Bett quäle oder Gefahr laufe einen Zug zu verpassen.

      Für gewöhnlich werde ich 10 Jahre jünger geschätzt. Außer dass es mein Ego bedient, bestärkt es mich darin, an der inzwischen weiß gewordenen Mähne im Trend der 70er Jahre festzuhalten. Die Haare in Hemdkragenlänge zu tragen ist aus der Mode, das ist mir bekannt. Und es ist mir gleichgültig. Es ist mir ebenso egal wie das Diktat der jeweils aktuellen Männermode oder der Kleiderordnung der Organisationen, in denen ich mein Geld verdiene. Es sind diese winzigen Nischen, die ich nutze, um einen Rest von Rebellion gegen das Diktat bürgerlicher Konventionen leben zu können.

      Mir fällt ein Erlebnis aus den Anfängen meiner Karriere als Coach ein, das ich hin und wieder nach dem Genuss von Rotwein auch in Gesellschaft zum Besten gebe; aus der Reaktion der Zuhörer schließe ich, dass es einigen Unterhaltungswert hat. Damals hat der Vorfall für ein paar Stunden meine schwer zu erschütternde Balance gestört. Ein börsennotiertes Unternehmen war auf der Suche nach Coaches für sein Topmanagement und man hatte mich zu einem Probecoaching vor Publikum eingeladen. Das kam mir ungefähr so vor, als fordere ein einfallsloser Personalchef die erfahrene