Eva Pflüger

Der Coach


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orientierungslos umherirrt.“

      „Können wir bitte kurz unterbrechen?“ Bis ich ihr folgen konnte, war sie schon in der Diele und schaute sich um. Ich zeigte ihr den Weg zum WC und schickte den überflüssigen Verlegenheitssatz hinterher: „Lassen Sie sich Zeit“.

      In meinem Beratungsraum wartete ich auf sie. Es war klar, ich musste in dieser Sitzung eine Entscheidung darüber treffen, ob und wie ich weitermachen wollte. Die Frage der Klientin, ob ich das Coaching beenden wolle, hatte ich nicht beantwortet. Mein Gefühl war ein unberechenbarer Einflüsterer. Es stimmte, dass die Arbeit mit dieser Frau mich zunehmend ärgerlich machte. Es stimmte auch, dass es spannend war, sie wiederzusehen. Sie war eine schöne Frau und sie gefiel mir. Dass sie mich nach der letzten Sitzung in meinen Träumen beschäftigt hatte, war ein ernstzunehmendes Alarmzeichen, wenn es noch eines solchen bedurft hätte. Nicht nur meine Kundin, sondern vor allem ich als ihr Coach war auf einem völlig unangemessenen Pfad unterwegs.

      „Bitte entschuldigen Sie. Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist.“ Petra Bastians Lächeln war eine Mischung aus Schüchternheit und Trotz, als sie sich wieder auf ihrem Stuhl niederließ. Ich schloss das Fenster, kehrte zum Tisch zurück, schaffte es, sie nicht an der Schulter zu berühren und füllte unsere Gläser mit Wasser. Sie hatte geweint.

      „Sollen wir für heute Schluss machen?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Wie soll es denn weitergehen?“

      „Lassen Sie uns für einen kurzen Augenblick zu dem Laubwald zurückkehren, Frau Bastian, um ihn hoffentlich endgültig verlassen zu können. Ich schlage Ihnen eine weitere Sitzung vor, in der wir klären, ob eine Unterstützung durch Coaching für Sie das passende Instrument ist.“

      Ich hoffte, mein Lächeln signalisierte so etwas wie Zuversicht und Unbefangenheit.

      „Ist Ihr Anliegen, das Sie bearbeiten wollen, wirklich im beruflichen Kontext im weitesten Sinne angesiedelt? Ist Coaching die für Sie passende Unterstützung?“

      Petra Bastian drehte sich in ihrem Stuhl ein wenig von mir weg und schaute aus dem Fenster.

      „Ich gewinne zunehmend den Eindruck, dass Sie unter Druck stehen, was auch immer der Auslöser sein mag. Vielleicht gibt es neben den beruflichen Themen ungelöste Fragen in Ihrem Privatbereich. Vielleicht Erfahrungen der Vergangenheit, die eine Rolle spielen. Wenn das so ist, bin ich nicht der passende Unterstützer für Sie.“

      Tellergroße Augen blickten mich verwundert an.

      „Wie kommen Sie darauf, dass ich private Probleme habe?“

      „Verstehen Sie es bitte als eine Hypothese. Ich versuche, mich zu orientieren, Klarheit in unsere Beziehung, also die zwischen Klientin und Coach, zu bringen. Eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Coaching das Instrument der Wahl ist oder ob sie beispielsweise mit einem Psychotherapeuten besser arbeiten könnten, halte ich für wichtig und notwendig. An diesem Punkt sind wir angekommen. Ich möchte mit Ihnen beim nächsten Mal besprechen, welche Alternativen sinnvoll sein könnten.“

      „Was soll ich tun?“

      „Ich möchte Sie bitten zwei Fragen zu klären: Bin ich bereit, gemeinsam mit meinem Coach ein spezifisches, messbares, realisierbares Ziel zu formulieren? Bin ich damit einverstanden, beim nächsten Treffen zu klären, welche Möglichkeiten der Unterstützung für mein Anliegen es gibt und welcher Weg der passende wäre. Sei es Coaching, Psychotherapie, andere Verfahren oder nichts von alledem.“

      Während ich sprach, hatte ich ein Flipchart in die Mitte des Raumes gerollt. Die beiden Fragen, die es aus meiner Sicht zu klären galt, schrieb ich darauf.

      „Ich schicke Ihnen ein Foto mit den Fragen per Email zu. Lassen Sie sich Zeit und rufen Sie mich an, wenn Sie sich entschieden haben.“

      „Wollen Sie überhaupt noch mit mir arbeiten?“

      „Ich arbeite mit meinen Klienten, so lange ich erkennen kann, dass es sie voranbringt.“

      „Wenn ich Ihr Coach wäre, würde ich Sie jetzt fragen, woran Sie das erkennen könnten. So geht das doch, oder, Herr Kafka?“

      Den Flirtversuch oder was immer das sein sollte ließ ich unbeantwortet.

      „Wie geht es Ihnen jetzt?“

      Meine Klientin hatte geweint und ich wollte sicher sein, dass sie sich wieder gefangen hatte.

      „Sie haben mir eine Menge Hausaufgaben gegeben. Vielleicht war das ja überfällig.“

      Was dann kam, hätte sie weglassen sollen. Ich empfand es als übergriffig.

      „Danke, Leo Kafka!“ Sie stand vor mir.

      „Ungewöhnlicher Name. Den vergisst man nie wieder.“

      Grenzen zu erkennen und einzuhalten gehörte nicht zu den Stärken von Petra Bastian. War das vielleicht Teil ihres Problems?

      Ein völlig zerknülltes Taschentuch war auf dem Boden gelandet, als sie aufgestanden war. Sie musste es die ganze Zeit in der Hand gehalten haben. Als sie sich bückte, um es aufzuheben, fiel ihr die geöffnete Tasche aus der Hand. Schlüssel, Brieftasche, Tempotücher, Schminktasche rutschten über das Parkett. Zwei Dinge gehörten eindeutig nicht zu dem traditionellen Programm einer Damenhandtasche. Ein kleiner Buddha aus Holz war vor meinen Füßen gelandet, beide Hände hatte er entspannt in seinen Schoß gelegt.

      Das andere war der Ausdruck eines Fotos von mir, das auf meiner Internetseite zu finden ist.

      

      Kapitel 4

      Es war zwischen 5 und 6 Uhr am Samstagmorgen, als ich meine schier endlose Suche nach Schlaf beendete und in einen Dämmerzustand fiel, in dem mir Martha erschien, um mir mitzuteilen, dass sie mich verlassen werde. Später dann ein gescheiterter Meditationsversuch und ein unerfreulicher Vormittag am Computer ohne nennenswerte Ergebnisse.

      Ich betrachte meinen Schreibtisch. Er befindet sich im gleichen unaufgeräumten Zustand wie mein Innenleben. Mehrere Ansätze, mich in das eine oder andere Buch zu versenken. Nichts bleibt hängen. Ich denke an Petra Bastian. Was wird sie mir mitteilen, wenn wir uns am Montag gegenüber sitzen? Sie habe sich entschlossen auszupacken, verkündete sie in der für sie typischen burschikosen Art, als sie mich wenige Tage nach unserer letzten Sitzung anrief. Schnell sollte es gehen, fügte sie hinzu. Ihr Lachen klang hell wie das eines Kindes. Egal was sie mir erzählen wird, ich werde die Arbeit mit ihr nicht fortsetzen können. Der Tag dümpelt dahin. Ich bin froh, als es Zeit ist, den Pokerabend vorzubereiten.

      Am Abend, als ich in der Küche stehe, fühle ich mich leichter. Ich höre das Lachen der Anderen, die sich an dem großen Esstisch versammelt haben. Meine Pokerfreunde. Es ist gut, dass sie heute da sind, denke ich. Jeder von ihnen wird auf seine Art dazu beitragen, dass ich meine schwierige Klientin und die ungelösten Fragen für ein paar Stunden vergessen kann.

      Ich öffne eine Flasche Wein für meinen ältesten Freund, Thomas Borowski. Vor mehr als vier Jahren unterbreitete ich ihm die Idee eines regelmäßigen Pokerabends. Er war begeistert, wollte aber mit keinerlei organisatorischer Arbeit oder irgendwelchen Verpflichtungen, außer der des regelmäßigen Erscheinens, belästigt werden. Ich erklärte mich bereit, drei oder vier weitere Teilnehmer zu suchen. Einziges Auswahlkriterium, neben der Ambition zum Pokerspielen natürlich, war, dass wir zusammen passen mussten. Was genau das bedeutete, wusste keiner von uns beiden. Ich beschloss, meine Suche dem Zufall und meinem Gefühl zu überlassen.

      Thomas und ich kennen uns seit der Studienzeit. Neben vielem anderen verbindet uns die Begeisterung für die Neurowissenschaften. Gelegentlich treten wir auf Veranstaltungen gemeinsam auf. Meiner insistierenden Hartnäckigkeit, die ich als engagierter Laie auf diesem Gebiet bei Disputen an den Tag lege, begegnet der anerkannte Wissenschaftler mit nie endender Geduld. Als ich ihn einmal in einer hitzigen Debatte vor Publikum als engstirnigen Reduktionisten beschimpfte, der selbst soziale und psychologische Zusammenhänge letztlich auf biologische Vorgänge zurückführe, quittierte er meine verletzende Kritik mit freundlich herablassendem Lächeln