Martin J. Ost

Unheimliche Tage


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Name war Christine, sie war 26 Jahre alt und kam aus einem der noch kleineren Nachbarorte. Sie fuhr jeden Tag in das rund 25 Kilometer entfernte Warburg, wo sie als Büroangestellte in einem Großhandelsunternehmen arbeitete. Als ich ihr meinen Namen nennen wollte, bedachte sie mich mit einem spitzbübischen Grinsen und sagte dann: „Dein Name ist Werner Caldenberg, du bist 31 Jahre alt, seit zwei Jahren bei Naarmann & Co. beschäftigt, ledig und an den Wochenenden meist mit deinen Kumpeln auf Sauftour. Meines Wissens nach keine ernsten Frauengeschichten in den letzten Jahren. Ist das soweit korrekt?“. Ich musste sie ziemlich verblüfft angesehen haben, jedenfalls amüsierte sie sich offensichtlich königlich, bevor sie mir erklärte, dass diese Informationen von einer meiner Arbeitskolleginnen stammten, die von mir unbemerkt an jenem Schützenfestabend auch an dem Bierstand gewesen war. Immerhin, sie hatte Interesse an mir.

      Ein Jahr später waren wir verheiratet. Die nächsten zwei Jahre waren die bisher glücklichsten meines bisherigen Lebens, wir ergänzten uns ideal. Die Arbeit machte uns beiden Spaß, wir kamen mit unserem Geld gut aus und einen großen Teil unserer Freizeit verbrachten wir gemeinsam. Wir waren glücklich.

      Bis zu jenem 10. Juli, der nun 15 Tage zurücklag. Es war ein sonniger und warmer Tag, seit über einer Woche beherrschte ein Hoch das Wetter. Mit 25 – 27 ° bewegten sich die Temperaturen in einem angenehmen Bereich. Ich ging die 1,5 km zur Firma wie fast immer zu Fuß, während Christine in ihr Auto stieg, um zur Arbeit zu fahren.

      An diesem Tag gegen neun Uhr kam das Grauen zu mir in der Gestalt von zwei Polizisten, die sich in der Begleitung des Firmeninhabers und meines Chefs Wolfgang Benner befanden. Als ich sah, wie die Streifenbeamten mit gesenktem Blick auf meinen Schreibtisch zusteuerten, wurde mir schlagartig eiskalt. Wie durch dicke Watte gedämpft kamen Wolfgangs Worte in meinem Gehirn an: „Werner, es tut mir leid, aber es ist etwas Schreckliches passiert ...“

      Ein Autofahrer hatte auf der im Sommer mäßig befahrenen Nebenstraße, die Christine auf ihrem Weg zur Arbeit benutzte, ein Auto mit laufendem Motor und geöffneter Fahrertür mitten auf der Straße stehend aufgefunden. Er hielt an, um gegebenenfalls Hilfe zu leisten. Ein paar Meter abseits von der Straße fand er Christine auf dem Waldboden liegend. Sie war tot.

      Zehn Tage später wurde sie endlich beerdigt. Der zuständige Staatsanwalt hatte aufgrund der Umstände dieses Falles ihre Leiche beschlagnahmen und obduzieren lassen. Als Diagnose wurde schließlich plötzliches Herzversagen festgestellt. Eine merkwürdige Todesart für eine bisher gesunde junge Frau, die noch nicht einmal 30 Jahre alt gewesen war.

      Die Tage zwischen ihrem Tod und der Beerdigung verbrachte ich abwechselnd unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln oder Alkohol, manchmal nahm ich auch beides zusammen. Ohne meine Schwester Norma, zu der ich immer ein gutes Verhältnis hatte und der Hilfe meiner ebenfalls geschockten Schwiegereltern hätte ich die Vorbereitungen zur Beerdigung und diese selbst nicht durchgestanden.

      Nach der Beisetzung, an der über 200 Personen, darunter viele Arbeitskollegen von Christine und mir teilnahmen sowie dem anschließenden Kaffeetrinken in einer Gaststätte kam ich mir vor wie nach einem Spießrutenlauf. Ich war fast verwundert darüber, dass ich nicht irgendwo als ein Häufchen Elend laut heulend zusammengebrochen war. Das passierte dann in meiner Wohnung. Norma hatte mich aus der Gaststätte heraus in ihr Auto bugsiert und nach Hause gefahren. Während ich meinen Tränen freien Lauf ließ, brachte sie die Wohnung in Ordnung. Sie blieb noch bis zum nächsten Tag und fuhr dann zurück nach Würzburg, wo sie als Rechtsanwältin in einer Sozietät arbeitete.

      Über eine Stunde war nun vergangen, aber ich lag noch immer mit meinem Kopf auf dem Küchentisch. Die Hitze in der Küche war entsetzlich. Am Tag nach der Beerdigung hatten schwül-heiße subtropische Luftmassen das angenehm trocken-warme Sommerwetter abgelöst und die Temperaturen stiegen seit Tagen bei hoher Luftfeuchtigkeit auf über 35°. Schlaftrunken erhob ich mich, um ins Bett zurückzugehen. Es war kurz vor vier Uhr morgens und es war noch dunkel. Zur Arbeit war ich seit Christines Tod nicht mehr gewesen, bis gestern hatte mich mein Hausarzt krankgeschrieben. Danach hatte ich nach Rücksprache mit meinem Arbeitgeber und Chef, der mittlerweile auch mein Freund war, erst einmal vier Wochen Urlaub eingereicht. Ich musste mir nun über einiges klar werden, z. B. ob ich in diesem Ort und bei diesem Unternehmen, wo ich bis vor kurzem sehr glücklich gewesen war, noch weiter leben und arbeiten konnte. „Nimm dir Zeit und überstürze jetzt bloß nichts“, hatte mein Chef Wolfgang Benner gesagt. Es sprach für ihn, dass er mir ohne Zögern den gewünschten Urlaub gewährte, denn durch mein Fehlen vergrößerte sich die Personallücke, die durch Urlaub immer in dieser Jahreszeit bestand, bis an die Schmerzgrenze.

      Wieder im Bett angelangt, fiel ich in einen unruhigen Halbschlaf. Es dauerte nicht lange und ich fing wieder an zu träumen. Dieses Mal unterschied sich der Traum von den vorhergegangenen, die immer wieder die gleiche Szene zum Inhalt hatten. Nun sah ich eine weite Ebene, über der die Luft in der Sommerhitze flirrte. Ein Teil dieser Ebene war mit Wald bedeckt, daneben konnte ich Getreidefelder sehen. Darüber hinaus gab es noch andere Gewächse, die in langen Reihen standen. Ich konnte sie nicht erkennen, da sie nur undeutlich zu sehen waren. Irgendetwas zog mich im Traum zu dem Wald hin, es war, als läge dort der Schlüssel, der es ermöglichen würde, die schrecklichen Vorgänge um den Tod meiner Frau zumindest zu verstehen.

      Schweißgebadet erwachte ich schließlich gegen acht Uhr morgens aus meinem Dämmerzustand. Die Hitze im Schlafzimmer war schon jetzt unerträglich, dabei war der Tag gerade erst angefangen. Ich warf ein paar Eiswürfel in meinen Kaffee, um ihn abzukühlen und tauchte dann ein trockenes Brötchen hinein. Mehr konnte ich nicht essen. So ging es mir, seitdem ich die Nachricht von Christines Tod erhalten hatte, und ich hatte schon den Eindruck, dass meine Kleidung um meinen Körper herum bereits zu flattern anfing.

      Wie stets in den seit der Beerdigung vergangenen Tagen machte ich mich auf den Weg zum Friedhof. Ein Großteil der Blumen auf dem Grab war bereits verwelkt und der Berg aus Kränzen und Blumen war in sich zusammengesunken. Auch hatte ich den Eindruck, als wäre die Erde über den Sarg bereits abgesackt. Um mich von meiner Verzweiflung abzulenken, begann ich, einige der verwelkten Blumensträuße auszusortieren und die verbliebenen Gebinde neu zu arrangieren. Ein paar Schalen mit Blumenschmuck, die etwas abseits standen, versorgte ich mit frischem Wasser. Anschließend begab ich mich auf direktem Weg zurück in meine Wohnung. Der Traum vom frühen Morgen kam mir wieder in den Sinn. Immer wieder zog die Landschaft, die ich im Traum gesehen hatte, vor meinem geistigen Auge vorbei. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, obwohl ich mir andererseits sicher war, diese Gegend in meinem bisherigen Leben noch nicht gesehen zu haben.

      Ich schaltete meine Stereoanlage ein und legte eine CD mit Meditationsmusik ein. Eingehüllt von der beruhigenden Musik ließ die Spannung der vergangenen Tage ein wenig nach. Wieder zogen die Landschaftsbilder meines Traums an mir vorbei. Das irrationale Gefühl, dass dort der Schlüssel zum Verständnis der unmittelbaren Vergangenheit lag, verstärkte sich. Darüber hinaus vermittelte der Anblick dieses Waldes und der Felder mir einen gewissen Trost, mehr, als ich in den vergangenen Tagen von irgendetwas Anderem erhalten hatte. Aber diese Landschaft war ja nur ein Traumbild, und selbst, wenn sie tatsächlich existieren würde, ich kannte sie ja nicht, wo sollte ich suchen?

      Trotzdem fühlte ich mich nach zwei Stunden Musikhörens, begleitet von diesen Tagträumen, ein wenig besser. Ungeachtet der sengenden Hitze begab ich mich in den Wald, dessen Schatten wenigstens ein wenig Illusion von Kühle bewirkte. Zum ersten Mal seit langer Zeit machte ich einen ausführlichen Spaziergang. Die hügelige Landschaft des Eggegebirges zusammen mit dem vielfältigen Flickenteppich der bewirtschafteten Felder tat mir gut, und die körperliche Anstrengung, die das Gehen in dieser Hitze erforderte, lenkte mich ab. Als ich am frühen Abend den Wald verließ, war ich durstig und hungrig. In einem nahe gelegenen Supermarkt kaufte ich frischen Käse und Wurst. Anschließend gönnte ich mir auf der Terrasse das erste üppige Abendessen seit langem. Ich spülte es mit kühlem Bier herunter. Die Bewegung, das Essen, der Alkohol und die Hitze hatten mich müde gemacht, und als ich an diesem Abend ins Bett ging, schlief ich tief und fest, lediglich vor dem Aufwachen erinnerte ich mich an einen kurzen Traum, in dem die Blitze vor dem Fernsehturm in dunkler Nacht mit der Landschaft, die ich in den letzten beiden Tagen gesehen hatte, ineinander verschmolzen. Mitten