Martin J. Ost

Unheimliche Tage


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aufgestanden war, ergriff mich eine merkwürdige Unruhe. Es war, als würde mich eine unbekannte Kraft von hier fortziehen wollen. Nervös lief ich im Haus auf und ab, denn nahm ich mir einen längeren Waldspaziergang vor, in der Hoffnung, dass dieser mir ähnlich gut tun würde, wie der vom Vortag, Die Hitze war noch schlimmer geworden, und mit jedem Meter, den ich mich vom Haus entfernte, wuchs meine innere Unruhe weiter. Nach einer Viertelstunde kehrte ich schließlich um und ging zum Haus zurück.

      Eine merkwürdige Stimmung hatte mich erfasst. Wie in Trance öffnete ich einen Schrank, holte eine Reisetasche hervor und warf ein paar Kleidungsstücke hinein. Mechanisch schloss ich offen stehende Fenster, verriegelte die Terrassen- und die Haustür und begab mich zu meinem Auto. Ich fuhr einfach los, ohne irgendein Ziel zu haben. Es war, als habe irgendeine, sonst im Verborgenen liegende Instanz des Geistes, die Führung übernommen. Meine Reaktionen als Verkehrsteilnehmer waren davon vollkommen unberührt. Ich hatte mich immer für einen sicheren Fahrer gehalten, und auch jetzt reagierte ich der Verkehrslage entsprechend. Eine andere Ebene meines Bewusstseins bestimmte die Fahrtrichtung. Ich wusste immer noch nicht, wo ich überhaupt hinwollte, aber überall dort, wo ich die Wahl zwischen zwei oder mehr Richtungen hatte, zögerte ich nicht eine Sekunde bei der Entscheidung, wohin ich fahren musste. Gut vier Stunden nach meinem spontanen Aufbruch verließ ich hinter dem rheinland-pfälzischen Landau die Autobahn. Wie ein programmierter Roboter fuhr ich weiter, wechselte an Kreuzungen und Abzweigungen wie selbstverständlich die Fahrtrichtung, ohne zu wissen, auf welches Ziel ich mich zu bewegte. Etwa zwanzig Minuten, nachdem ich die Autobahn verlassen hatte, entdeckte ich ein großes Waldgebiet in einer Ebene. War dies die Gegend, von der ich in den letzten beiden Tagen geträumt hatte? Zumindest bestand eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem „Traumland“. Ich kam auf einem Parkplatz am Waldrand zum Stehen. Sollte dies etwa mein Ziel sein?

      Mein Kopf war wieder frei und die Unruhe, die mich bisher vorangetrieben hatte, war wie weggeblasen..Ich zog eine Autokarte hervor und rekapitulierte die Namen der letzten Orte, die ich durchfahren hatte. Danach musste ich mit meinem Auto vor dem Bienwald, einem größeren Waldgebiet an der deutsch-französischen Grenze stehen. Ich beschloss auszusteigen und mir nach der langen Fahrt etwas Bewegung zu gönnen. Als ich die Autortür öffnete, traf mich die Hitze wie ein Schlag. Während der Fahrt hatte die Klimaautomatik in meinem Auto die Temperatur auf 26° gehalten, ein Blick auf die Anzeige am Armaturenbrett zeigte, dass die Außentemperatur bei 37° lag. Zügig ausschreitend beeilte ich mich daher in den Wald hineinzukommen, in dessen Schatten es ein wenig angenehmer wurde. Und wieder griff etwas Unbekanntes nach meinen Bewusstsein und schien es beeinflussen zu wollen. Mittlerweile war mir das Gefühl, bekannt und mit einer Mischung aus Furcht und Neugier bewegte ich mich weiter in den Wald hinein.

      Bereits nach kurzer Zeit waren alle Geräusche der Zivilisation verstummt, und abgesehen von Vogelgezwitscher, welches ich gelegentlich aus größerer Entfernung vernahm, war es unnatürlich ruhig. Roboterhaft bewegte ich mich immer weiter in den Wald hinein. Endlich blieb ich in einer Lichtung mitten im Wald stehen. Plötzlich war mein Kopf wie in der kurzen Zeitspanne am Parkplatz wieder frei. Es war, als wäre nie etwas in meinem Kopf gewesen. Was war bloß mit mir los?

      Nachdem ich einige Minuten unschlüssig herumgestanden hatte, setzte ich mich auf eine Wiese in der Lichtung. Bald darauf döste ich in der Hitze ein. Als ich nach kurzer Zeit wieder wach wurde, hatte mich ein merkwürdiges Gefühl ergriffen. Ich spürte, dass ich nicht mehr allein war. Langsam stand ich auf und sah mich um. Etwa zehn Meter, schräg hinter mir, stand eine Person. Ich verhielt mich völlig ruhig und auch die Person hinter mir bewegte sich nicht. Träge verrannten die Minuten in der schwülen Hitze. Dann hörte ich plötzlich eine Stimme: „Warten Sie auf mich?“ Sie gehörte zu einer jungen Frau. Da mir im Moment der Sinn nicht im Geringsten nach einer Unterhaltung, geschweige denn einem Flirt stand, wollte ich gerade eine unfreundliche Bemerkung machen. Ich drehte mich halb in ihre Richtung.

      Als ich sie sah, gaben meine Knie nach und eine Gänsehaut, verursacht von einem eisigen Frösteln, überlief meinen gesamten Körper. Vor mir stand die Frau, von der ich immer wieder in den vergangenen Nächten geträumt hatte. Gleichzeitig war ich mir absolut sicher, dass sie mir noch niemals zuvor im realen Leben begegnet war. Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit verging, in der ich sie lediglich anstarrte. Meine Gedanken und Gefühle befanden sich in Aufruhr, in meinem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Irgendwo in meinem Hinterkopf keimte die Hoffnung auf, ich wäre lediglich in einem Alptraum gefangen und mit dem Klingeln des Weckers würde ich mich in meinem Bett neben einer fröhlichen und munteren Christine wieder finden. Sekunden später spürte ich Fluchtinstinkte, ich merkte, wie das Adrenalin meinen Körper flutete. Dann hatte ich den Wunsch nach einer Pistole, mit der ich mir das Leben nehmen konnte, bevor der Wahnsinn vollends Besitz von mir ergriff.

      Mit einer energischen Willensanstrengung gelang es mir endlich, meine herum wirbelnden Gedanken in den Griff zu bekommen. Bewusst sah ich die Frau an. Sie hatte die ganze Zeit, nachdem sie mich angesprochen hatte, ruhig dagestanden. Meine konfuse Reaktion auf ihr Erscheinen nahm sie völlig gelassen hin. Sie war, auch nach genauem Hinsehen, ein ziemlich exaktes Abbild der Frau in meinen Träumen der letzten Tage. Etwa 1,75 Meter groß, schlank, sportliche Figur, schwarze Haare und fast schon olivbraune Haut. Sie erwiderte meinen Blick und wartete geduldig auf eine Reaktion von mir. Endlich hatte ich mich einigermaßen gefasst. „Um ihre Frage zu beantworten: ich weiß es nicht. Ich sehe Sie heute zum ersten Mal in der Realität. In meinen Träumen der letzten Tage habe ich jedoch eine Frau gesehen, die aussieht wie Sie.“ Sie wirkte zu meiner Verblüffung nicht sonderlich überrascht. „Ich habe nie daran geglaubt, dass Träume irgendeine Bedeutung haben könnten. Aber seit dem plötzlichen Tod meines Mannes hatte ich einige merkwürdige Träume in einer Art, wie ich sie noch nie hatte. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat.“

      „Der plötzliche Tod meines Mannes“ – diese Worte schlugen in meinem Kopf wie eine Bombe ein. „Wann ist Ihr Mann gestorben?“ – die Frage kam schroffer als ich sie beabsichtigt hatte, aber ich war in diesem Moment emotional viel zu angespannt, um dies überhaupt zu bemerken. Sie sah mich an und sagte dann: „Am 10. Juli, vor knapp drei Wochen.“ – „Um wie viel Uhr und woran?“ – „Entschuldigen Sie, aber warum glauben Sie, das Sie das etwas angeht?“ – Ich sah ihr in die Augen: „Bitte beantworten Sie meine Frage, es ist wichtig, ich werde es Ihnen erklären.“ Sie zögerte einen Moment und sagte dann: „Nun gut, warum nicht. Mein Mann starb gegen neun Uhr an plötzlichem Herzversagen. Er war mit dem Auto unterwegs gewesen.“

      Meine Überraschung über diese Auskunft hielt sich in Grenzen. Irgendjemand schien ein sehr übles Spiel eröffnet zuhaben und zwei Spielfiguren, die unbekannte Frau und ich, waren offensichtlich hier nicht zufällig aufeinander getroffen. Nur, mit wem hatten wir es zu tun? Ein Geheimdienst mit seinen vielfältigen Möglichkeiten war sicherlich in der Lage, zwei Menschen zum gleichen Zeitpunkt zu ermorden und dies wie einen natürlichen Tod aussehen zu lassen, aber konnte er schon Träume beeinflussen und Menschen dazu bringen aus eigenem Antrieb bestimmte Orte aufzusuchen? Was hatte das in unserem Fall für einen Sinn? Es musste noch andere Erklärungen geben.

      Die Frau sah mich erwartungsvoll an. Ich trat ein paar Schritte auf sie zu: „Wir kennen uns nicht. Trotzdem scheinen wir einiges gemeinsam zu haben. Ich möchte Ihnen einiges erzählen, aber ich würde mich dabei lieber bewegen. Was halten Sie davon?“ Wortlos nickte sie. Wir gingen los und ich erzählte ihr meine Geschichte der letzten Tage. Ich sprach vom Tod meiner Frau, von der tiefen Verzweiflung, die mich danach ergriffen hatte, von meinen seltsamen Träumen, in denen sie erschienen war und von diesem seltsamen Gefühl, immer wieder von außerhalb gelenkt zu werden und das mich letztendlich über mehrere hundert Kilometer an diese Lichtung geführt hatte.

      Sie hatte ähnliche Erlebnisse wie ich gehabt und erzählte, wie der Staatsanwalt die Leiche ihres Mannes, der bis dahin völlig gesund gewesen war, beschlagnahmt und obduzieren lassen hatte. Wie bei Christine wurde letztendlich als Todesursache plötzliches Herzversagen festgestellt. Nach der Beerdigung fingen auch bei ihr die Träume an, in denen immer wieder ein Fernsehturm vorkam. Ihre Beschreibung dieses Turms entsprach exakt dem Aussehen des Turms auf der Egge, nur wenige Kilometer von meinem zuhause entfernt. Auch hatte es in ihren Träumen ein heftiges Gewitter gegeben, das um den Turm herum tobte, aber