Natalie Bechthold

Einen Schurken zum Bräutigam


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der sie schon seit Jahren träumte. Geprägt aus Stärke und Selbstsicherheit. Ein Mann der ganz genau weiß, wo es lang geht. In dessen Armen sie sich beschützt und geborgen fühlen darf. Ihr Herz sehnte sich nach Ralphs Liebe. Starken Liebe. In der sie sich wünschte zu ertrinken.

      Als Irenes Kutsche die Kirche erreichte klopfte ihr Herz vor Freude. Ein Page half ihr aus der Kutsche und sie ging vorsichtig die Stufen hinauf. Und zwar allein. Schade!, dachte sie insgeheim. Ihre Eltern waren schon lange tot und Ralphs Vater, der einzig Lebende, der war nicht einmal von seinem Sohn eingeladen worden. Die Tür stand offen und Irene trat ein. Im Foyer hörte sie eine Orgel spielen. In den Reihen drehten die Gäste neugierig ihre Köpfe zu ihr. Mit einem warmherzigen Blick lächelten sie Irene an und machten ihr Mut auf ihren Bräutigam zuzugehen.

      Ralph stand vor dem Altar und wartete auf seine Braut. Er hörte, wie der Orgelspieler das Musikstück zu Ende spielte und zum Hochzeitsmarsch wechselte. Ralph sah auch, wie seine glückliche Braut mit einem strahlenden Lächeln langsam, mit dem Rhythmus des Musikstücks, auf ihn zu kam, aber er hatte für seine Braut kein Lächeln übrig. Kalt und lieblos empfing er seine glückliche Braut und schwor ihr vor Gott und den Menschen ewige Liebe und Treue.

      ***

      Zur gleichen Zeit saß ein älterer Mann in seinem Rollstuhl gefangen. Gefangen in seinem Körper und gefangen in seinem eigenen Dachbodenzimmer. Er ahnte nicht, was in dem Herzen seines Sohnes, genauso wenig in dem Herzen seiner Schwiegertochter vorging. Aber er wusste, dass heute Morgen für das junge verlobte Paar ein ganz besonderer Tag war. Ihre Hochzeit. Natürlich, irgendwo in seinem alten Herzen wäre er gerne eingeladen worden, aber nicht hingegangen. Viel zu groß war der Hass auf seinen eigenen Sohn, der auf Grund einer einzigen Schwäche ihm alles genommen hatte, auch die Freiheit. Und so lebte er seit einem ganzen Jahr, tagein und tagaus, nur vor sich hin. Die Einsamkeit wurde zu seinem Freund.

      Plötzlich klopfte es an der Tür.

      „Herein!“, rief der ältere Mann.

      Die Tür ging auf und sein Freund trat ein.

      „Harvey, welch eine Überraschung. Ich dachte, du wärst auf der Hochzeit.“

      Sein alter Freund nahm den Hut ab und sagte: „Ich hoffe, ich störe nicht.“

      „Nein, im Gegenteil. Ich freue mich, dass du gekommen bist. Setz dich doch“, bot Charles seinem Freund den einzigen Stuhl an, den er hatte.

      „Danke.“

      Doktor Harvey öffnete seinen dünnen Mantel, den er stets immer trug. Denn als Dorfarzt wusste er nie so ganz genau, wo er heute sein wird und welches Wetter ihn erwarte. So auch heute nicht. Und setzte sich.

      „Wie geht es dir heute?“, fragte er aus Gewohnheit.

      Der alte Mann im Rollstuhl lächelte.

      „Seit gestern Abend sehr gut!“

      „Das freut mich“, sagte Doktor Harvey, ohne zu wissen, was sein langjähriger Freund damit meinte.

      Er nahm seine Brille ab und rieb sich die leichtrot unterlaufenden Augen.

      „Du arbeitest zu viel, mein Freund.“

      Doktor Harvey seufzte.

      „Ja, da gebe ich dir Recht.“

      Seine große Erschöpfung stand in seinem hageren Gesicht geschrieben. Er legte seinen Kopf zurück, in den Nacken und schloss für eine Minute die Augen.

      „Aber Charles, ich muss.“

      „Ich weiß, Harvey. Ich weiß und ich hätte dir sehr gerne dabei geholfen, wenn ich könnte.“

      Das hättest du früher tun müssen, wenn du es gewollt hättest, wollte der Doktor sagen, aber entschied sich seine Gedanken lieber für sich zu behalten.

      Obwohl Charles die Gedanken seines Freundes nicht lesen konnte, erkannte er selbst seinen eigenen Fehler. Und jetzt zahlte ihm das Schicksal alles zurück. Nie im Traum hätte er einmal gedacht, dass er so ein Leben führen würde. Ein Leben, das eines Gefangenen in seinem eigenen Haus.

      „Eigentlich bin ich aus einem anderen Grund hierher gekommen und zwar …“, er holte aus seiner Arzttasche eine Zeitung heraus und reichte sie seinem Freund.

      „Es ist besser, wenn du den Artikel selber ließt“, sagte er und schloss erneut seine Augen.

      Wie gut ihm das Zurücklehnen tat.

      Der großgedrückte, fette Titel MÖRDER aus dem HAUSE DARTON wird gesucht auf der Titelseite fesselte den Blick des Lesers.

      Charles Darton las den Artikel und Doktor Harvey entspannte sich in der Stille. Je näher der ältere Mann dem Ende kam, desto blasser wurde sein faltiges Gesicht.

      „Ich kann das nicht glauben“, unterbrach Charles entsetzt die Stille und ließ seine Hände sinken.

      Die Zeitung raschelte für eine kurze Sekunde.

      „Was kannst du nicht glauben, Charles? Es steht alles drin“, sagte der Doktor gefühlskalt.

      „Das Harvey!“, und Charles zeigte auf den Artikel: „Sie behaupten, mein Sohn hätte einen Mord begannen. Das kann und will ich nicht glauben.“

      Dann schlug Doktor Harvey die Augen auf.

      „Vielleicht solltest du es jetzt tun, mein Freund. Die Presse wird die Geschichte nicht einfach so aus der Luft gegriffen haben, sondern wissen, was sie da schreibt.“

      „Nein, Caleb ist nicht dumm. Er würde nie einen Mord begehen. Und schon gar nicht an dem Tag der Verlobung seines Bruders.“

      „Halbbruders“, korrigierte der Doktor ungeduldig.

      „Bruder …, Halbbruder, hin oder her, … nicht Caleb.“

      „Kaum ist er wieder da, wird ihm ein Mord angehängt, … findest du es nicht komisch?“, fragte Charles seinen Freund in Gedanken versunken.

      „Ich weiß nicht, Charles. Wir wissen beide nicht wo er sich das ganze Jahr rumgetrieben hat. Wer weiß, vielleicht ist Caleb inzwischen ein anderer geworden.“

      Es folgte eine kurze Pause.

      „Bitte Harvey, du bist der einzige, der mir noch helfen kann, finde für mich die Wahrheit heraus. Bitte!“

      Doktor Harvey sah zu seinem Freund und das Mitleid überkam ihn. Eigentlich schuldete er Charles nichts, aber er konnte noch nie Nein sagen.

      „Mhm …, nur, wenn du mir etwas versprichst.“

      „Alles, mein Freund, alles.“

      „Versprich mir dann, dass du es niemandem erzählst.“

      „Versprochen!“, und sein Lächeln kam wieder zurück.

      „Nun gut, mein Freund, ich muss jetzt gehen. Meine Patienten warten.“

      Er schloss seinen dünnen Mantel, setzte seinen Hut auf und meinte anschließend: „Ich werde dir berichten, sobald ich etwas weiß.“

      „Danke, mein Freund!“

      „Danke mir nicht zu früh“, sagte der Doktor, denn er glaubte nicht an Calebs Unschuld.

      ***

      Kaum war der Dorfarzt gegangen, versank der alte Charles in seine Gedanken.

      Ist es nicht komisch? Noch vor einem Jahr war ich ein einflussreicher Mann. Ein Viscount. Charles Darton, der Viscount of Harwich. Wie das schon klingt, lachte der alte Mann in sich hinein. Ja, damals hatte ich noch meinen Titel, mein Vermögen, meinen Besitz, seine Gedanken gingen noch tiefer und er erkannte, damals kannte ich meinen Wert und wusste meine Gesundheit nicht zu schätzen und jetzt, wo alles verloren ist, wird mir bewusst, was für ein Narr ich gewesen bin. Ein Egoist! Obwohl er seine Fehler inzwischen einsah, wusste er, dass er sie nicht mehr rückgängig machen konnte. Sein jetziges, trauriges Schicksal war dafür seine Strafe