Natalie Bechthold

Einen Schurken zum Bräutigam


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Vater kannte meine Mutter schon viel früher. Sie war die Tochter einer Magd, im Hause meiner Großeltern. Und somit auch weit unter dem Adelsstand, um einen Lord, wie meinen Vater, heiraten zu können.“

      „Mhm, ich verstehe“, sagte Cassie leise mitfühlend und erriet den Fortgang seiner Geschichte.

      Dann stand er wieder auf, nahm ihr die Laterne ab und leuchtete auf das nebenstehende Familiengrab. Interessiert zählte Cassie die Namen auf dem riesigen Grabstein. Es waren neun. Sieben Generationen, sowie die Daten es verrieten. Vier davon waren noch Kinder, als sie der Tod holte. Drei Jungen und ein Mädchen. Der letzte Name war das einer Frau. Helen Thomas Darton Lady of Harwich. Ralphs Mutter, wenn sich Cassie recht erinnerte.

      „Aber …, wo ist Dad?“

      Caleb zählte noch einmal die Namen. Aber auch dieses Mal zählte er nur neun.

      „Der Name meines Vaters fehlt.“

      „Bist du dir sicher?“

      „Ja.“

      „Wie kann das sein?“, fragte er sich.

      „Er ist doch vor einem Jahr gestorben. Lang genug, um seinen Namen auf das Grabstein eingravieren zu lassen.“

      „Vielleicht ist er gar nicht gestorben?!“

      Caleb sah verwirrt auf seine Frau und ahnte nicht, dass sein Blick ihr Angst einjagte.

      „Tut mir leid, war nur so ein spontaner Gedanke“, entschuldigte sich Cassie.

      „Wenn es wahr ist, dann hat Ralph mich angelogen“, sprach er leise, mehr zu sich selbst.

      Plötzlich hörte Cassie Gras rascheln. Der Wind konnte es nicht sein. Denn wie ein Reisender ist er weiter in den Süden gezogen und hinterließ eine angenehme Erinnerung an wohltuende Stunden.

      Vielleicht ist es eine Maus, die einen Weg durch das dichte Gras zu ihrer Höhle sucht, in der hungrige Mäusekinder auf sie warten. Oder auch eine Katze auf Mäusejagd. Alles war Cassie recht, nur nicht das.

      Wie aus einem Nichts schlug jemand mit einem Holzklotz auf Caleb ein und traf ihn unglücklicherweise am Rücken. Mit einem kurzen Aufschrei prallte er mit dem Gesicht gegen den riesigen Grabstein, verletzte sich an der Stirn und landete anschließend seitlich auf dem Boden. Rote Blutsfäden zogen quer über sein Gesicht. Die Laterne fiel zu Boden und zerbrach. Die Kerze erlosch und tauchte alles, was sie umgab, in die tiefste Dunkelheit. Rasch drehte sich Caleb auf den Rücken, ohne auf seine Kopfschmerzen zu achten und suchte in seiner Hosentasche nach einem Klappmesser, den er zur Sicherheit immer bei sich trug. Cassie hörte sein Klicken, konnte ihn aber an seinem Geräusch nicht erkennen und auch nicht zuordnen, wem der Gegenstand gehörte.

      Cassie stand noch immer auf demselben Fleck und lauschte gebannt in die dunkle Nacht. Vor ihren Augen war alles Schwarz. Und auf einmal wurde es ganz still. Ist er noch da?, fragte sie sich.

      In derselben Minute tauchte der Mond hervor und gab einen Schatten zu erkennen, wie er mit einem Klotz über Caleb gebeugt stand.

      Dann fuhr der Holzklotz blitzschnell hinunter und Cassies Schrei zerriss die warme Nachtluft.

      Caleb, der die Gefahr längst gerochen hatte, stach sofort auf seinen Gegner blind ein und spürte, wie der Schattenmann anschließend sein Ziel verfehlte. Der Klotz verlor sich auf dem Boden und der Fremde fiel bäuchlings auf die kalte Erde, und rammte das Messer noch tiefer in die Magengegend ein. In der Stille hörten beide noch wie der Fremde zum letzten Mal Atem holte.

      „Komm, wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden“, sagte Caleb zu Cassie noch im Aufstehen.

      „Aber wir können ihn doch nicht einfach so liegen lassen?!“

      Cassie spürte seinen festen Griff um ihre Hand.

      „Wir müssen!“, sagte er nur kurz und knapp und zog sie hinter sich her.

      „Aber vielleicht lebt er noch.“

      „Scheinbar hast du es bereits vergessen – er wollte mich vor wenigen Sekunden noch töten.“

      „Nein, das habe ich nicht, aber so würde dich jeder für seinen Mörder halten. Ich meine, mit deiner Flucht machst du dich verdächtig.“

      Die beiden gingen den Weg zurück, durch das Labyrinth aus grünen Hecken, aber kamen diesmal aus einem anderen Ende heraus.

      „Das ist mir schon klar, aber keiner wird mir Glauben schenken, egal was ich sagen werde.“

      „Warum bist du dir so sicher?“

      Dann drehte er sich zu ihr und sah sie an. Sah das Mädchen an, das noch zu sehr an eine unschuldige Welt glaubte. Zu gerne hätte er ihr die Gründe dafür erklärt, aber einige Stimmen im Hintergrund hinderten ihn daran.

      Besorgt warf er einen kurzen Blick in alle Richtungen und meinte anschließend: „Ich erkläre es dir später.“

      Bald saßen sie in der Kutsche und fuhren zum Hafen. Noch heute Nacht verließ das Schiff Melisse den Hafen von Harwich, auf der Flucht vor falschen Anschuldigungen.

      Kapitel 4

       machtlos

      

      Ein neuer Tag brach an. Für Ralph und Irene war es ein ganz besonderer Tag. Ihre Hochzeit. Heute ging für Irene ein Traum in Erfüllung, ein Traum, dem sie fast ihr ganzes Leben lang nach jagte. Für Ralph dagegen eine reine Enttäuschung. Für ihn war Irene alles andere, als Lady Cassandra. Fünf Jahre älter als er und längst keine Jungfrau mehr. Eine Frau ohne Geld kam ihm noch bis vor einem Tag nicht in Frage. Wenn das mit Cassie nicht gewesen wäre, dann hätte er Irene niemals geheiratet. Irene besaß nichts, nicht einen Cent, dafür aber einen ausgeprägten Charakter. Es wird mir schwer fallen meiner zukünftigen Frau beizubringen, wer hier das Sagen hat. Doch ich werde es ihr zeigen und wenn es notwendig sein wird, so werde ich sie daran erinnern, weshalb ich sie geheiratet habe, dachte Ralph, als er sich vor dem Spiegel betrachtete.

      Zufrieden wand er sich von seinem Spiegelbild ab und verließ eilig sein Zimmer.

      In der Hetze und dem ganzen morgendlichen Durcheinander fand Irene noch die Zeit zum Träumen. Die Mädchen, die ihr beim Ankleiden und Frisieren halfen, sahen das Strahlen ihrer dunklen Augen und das verträumte Lächeln ihrer leicht geschwungenen Lippen. Das typische Bild einer überglücklichen Braut, die es kaum erwarten kann ihrem Bräutigam gegenüber zu treten. Ein Glück, das sich jedes junge und unverheiratete Mädchen wünschte und sie zu tiefst beneidete. Und das wusste Irene. Und sie tat auch alles daran diesen Augenblick zu genießen. Die Eifersucht der anderen mittelloser, junger Frauen. Dank dem Schicksal für das große Glück, das ich heute erleben darf. Was für eine tiefe Freude erfüllt mein Herz, wenn ich daran denke. Bald, schon sehr bald werde ich die Viscountess dieses Hauses sein. Eure Herrin.

      „Perfekt!“, sagte die Friseurin und legte mit den letzten Handgriffen Irenes langen, weißen Schleier zurecht.

      Lady Cassandras goldene Haarspange mit weißen Diamanten besetzt funkelte verspielt im Tageslicht.

      „Sie sind fertig, Miss.“

      Irene nahm einen Handspiegel und überprüfte, ob ihr Make-up und das frisierte Haar ihren Wünschen entsprachen.

      „Wunderschön!“, antwortete sie zufrieden.

      Dann stand sie auf und eines der Mädchen legte ihr einen Schal aus schneeweißem Nerz über ihre nackten Schultern. Nur noch ein letzter Blick in den Spiegel und die Braut begab sich auf den Weg zu ihrer Kutsche.

      Wie die Tradition es verlangte, war der Bräutigam, der Viscount of Harwich, längst in der Kirche und wartete auf seine Braut. Miss Irene Hunter. Die Frau, die ihn viel zu sehr liebte, das sie seine Kälte, die er ihr gegenüber empfand und sie auch spüren ließ, nicht wahr nahm. Viel zu dick war der Mantel, den sie aus verträumter, einseitiger Liebe trug, dass seine