Karlotta Jung

Plazenta, -18°


Скачать книгу

und mein Handy gleichzeitig klingeln, sie bohrt solange nach, bis ich preisgegeben habe, was mit mir los ist. Sie ist wie ein Splitter, den man sich ins Fleisch gerammt hat, zuerst versucht man, ihn zu ziehen, doch er sitzt so tief drin, dass man nicht richtig drankommt, so sehr man auch mit der Nadel herumbohrt. Schließlich hofft man, dass Haut darüber wachsen wird und man damit leben kann, aber immer wieder fängt die Stelle an zu pochen. Als ich während meines Studiums einige Semester in einer anderen Stadt absolvierte und eines Samstags aus verschiedenen Gründen keine Lust hatte, ans Telefon zu gehen, stand meine Mutter am nächsten Morgen vor meiner Tür. Sie hatte sich sofort in den Zug gesetzt und war zu mir gefahren, obwohl die Reise zehn Stunden dauerte. Es gibt kein Entkommen. Das hat Jan seltsamerweise noch nicht verstanden, obwohl wir uns schon so lange kennen.

       Früher waren wir beide ein ganz normales Pärchen. Wir lernten uns mit Mitte Zwanzig bei einem seltsamen Praktikum kennen, einem mehrtägigen Kurzfilmdreh im Schlosspark eines kleinen ostdeutschen Kaffs kurze Zeit nach der Wende. Während Jan als Fahrer arbeitete, war ich „Mädchen für alles“. In dieser Funktion kroch ich jeden Morgen über die Schlosswiese und fing Wespen, die in dem Film eine tragende Rolle spielten. Mit einem Einmachglas bewaffnet lockte ich sie mit Obststückchen und genoss den Triumph, den Schraubdeckel über ihnen zuzudrehen. Damals glaubte ich noch, solche Aktionen würden mich irgendwohin bringen. Untergebracht waren wir in einem ehemaligen Landschulheim, einem Plattenbau mit metallenen, viel zu kurzen Doppelstockbetten, über dessen Hof sich jeden Abend rechtsradikale Musik erbrach. Das Klischee reizte uns zum Lachen und schweißte uns zusammen.

       Nach dem Praktikum und zurück in Berlin zogen wir zusammen durch die Nächte, lachten über unser gemeinsames Abenteuer in der ostdeutschen Provinz und hofften auf weitere. Wir liebten das Unerwartete, das damals die Stadt beherrschte, das Unfertige. Überall illegale Bars in Ruinen und Kellern, lächerliche Alkoholpreise, spontane Aktionen. Wir suchten das Ungewöhnliche, ließen uns gerne gemeinsam treiben, hierhin und dorthin, ohne festes Ziel. Wir verbrachten die Zeit bis zum Morgengrauen in zufällig entdeckten Cafés, lästerten über die Gäste und Passanten, ergötzten uns an unserer eigenen Überheblichkeit. Und tanzten bis zur Bewusstlosigkeit in neuen Clubs, besuchten provisorische Galerien, diskutierten unsere Zukunft und unsere Erwartungen. Alles schien uns möglich.

       Wir studierten, bekamen unsere Zeugnisse. Wir machten weiterhin unzählige Praktika, bekamen schließlich unsere ersten Stellen, natürlich befristet. Wir arbeiteten uns trotzdem langsam nach vorne. Jan betreute wechselnde IT-Projekte, ich Drehbücher fürs Fernsehen. Wir hatten das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein.

       Unser Alltag wurde geregelter, aber wir liefen immer noch am Wochenende gemeinsam durch die Stadt. Die illegalen Bars existierten nicht mehr, auch nicht die provisorischen Galerien. Der Osten wurde jetzt vom Westen bewohnt, doch auch darin fanden wir noch das Absurde. Wir wussten immer noch, welche Filme im Kino liefen, und welche Ausstellung man gesehen haben sollte. Auch wenn beides nun Eintritt kostet. Wir zogen abends immer noch um die Häuser. Auch wenn wir inzwischen früher müde wurden und nicht mehr die letzten waren. Oder die ersten, die morgens den Joggern entgegen taumelten. Irgendwann spürten wir, dass auch wir älter wurden und nicht länger unsterblich waren.

       Schließlich zogen wir zusammen. In einen Altbau mit zwei Balkonen, abbröckelndem Stuck und maroden Elektroleitungen in einem der inzwischen heruntergekommenen Westbezirke. Eine Wohnung, wie sie jeder von unseren Freunden gerne hätte, weil sie einem ganz bestimmten Bild entspricht. Das man gerne von sich haben möchte.

       Wir wurden ein Paar, das zusammen wohnt. Das sich nicht mehr verabreden muss, um sich zu sehen. Das die Nähe genießt, die sich dadurch ergibt. Und manchmal flucht, weil es kein Alleinsein mehr gibt. Weil lieb gewonnene und hart erarbeitete Rituale sich plötzlich abgenutzt anfühlen, weil sie nun immer möglich sind. Als Paar, das zusammen wohnt, freut man sich irgendwann nicht mehr mit derselben Innigkeit über den anderen, weil man sich sowieso jeden Tag sieht. Das ist alles normal und vorhersehbar, dennoch hatten wir geglaubt, dass wir dieser Regel entgehen würden. Falsch gedacht.

       Schon der bloße Gedanke an eine körperliche Berührung verursacht mir gerade Schmerzen, als sei meine Haut offen und gebe darunter schimmerndes Fleisch frei. Wir haben uns deshalb schon längere Zeit nicht mehr berührt geschweige denn miteinander geschlafen. Aber ich kann mich noch an unser letztes Mal vor einigen Monaten erinnern. Es war Sonntag, der letzte Sex war einige Wochen her, und dieser Gedanke trieb mich in seine Arme. Früher waren es andere Gedanken – oder, besser gesagt, überhaupt keine.

       Wir küssten uns ein wenig, unsere Finger beschritten die bekannten Pfade, die wohl recht ausgetreten wirkten, würde man sie kartografieren. Es existierten einmal auch andere Wege, doch wir gehen sie inzwischen nicht mehr, ob aus Bequemlichkeit oder aus Angst, vermag ich nicht zu sagen. Seine Haut war kühl und trocken, und während ich mit den Fingerkuppen über seinen Körper fuhr, bemerkte ich, dass sich auf dem Kopfkissen eingetrocknete Flecken befanden. Ich versuchte, woanders hinzusehen, hinauf zu seinem Gesicht, doch aus meiner Perspektive wirkten seine Züge seltsam verzerrt, seine rechte Wange hing ein bisschen herab, und ich fragte mich, ob sie das im letzten Jahr auch schon getan habe. Und im Jahr davor? Ich zwang mich, mich wieder zu konzentrieren, Nachdruck in meine Hand zu geben, Variabilität, Mitgefühl. Doch es nützte nichts, ich erkenne seine Haut nicht mehr, früher war sie wie ein Buch, das ich oft gelesen habe, wie ein Spiel, dessen Regeln ich kenne, heute spricht sie nicht mehr zu mir. Sein Gesicht gab nicht preis, ob er den Unterschied bemerkte, aber ich fragte mich: Liegt es an mir? Oder an ihm?

       Schließlich setzte ich mich auf ihn. Ich war noch nicht feucht genug, schob ihn mir aber trotzdem zwischen die Beine. Es dauerte ja auch nicht lange. Dann rollte ich mich neben ihn, wir lagen noch eine Anstandsviertelstunde nebeneinander, die Augen fest geschlossen. Wurden schließlich vom Telefon erlöst, Jan stürzte mit einer nachlässig gemurmelten Entschuldigung hinaus.

       Es ist sicher nicht so, dass wir uns nicht mehr lieben. Aber wir kommen nicht einmal mehr ins Schwitzen, wenn wir miteinander schlafen, es ist wie ein Glas Milch, das man ab und zu trinkt, weil irgendjemand mal gesagt hat, dass das Calcium gut für die Knochen sei.

       Trotzdem haben wir natürlich über Kinder gesprochen. Klammheimlich haben die meisten unserer Freunde inzwischen welche bekommen. Am Anfang lästerten wir noch, wenn wir von irgendwelchen Treffen kamen, auf denen frischgebackene Eltern von den neuen Fähigkeiten ihrer Sprösslinge schwärmten, wir standen sprachlos daneben, als eine Freundin von ihrem Zweijährigen erzählte, der auf dem Spielplatz zwei kopulierende Käfer beobachtet und daraufhin gemeint hatte, die beiden spielten „Anhänger“. Alle lachten lauthals und schienen die Pointe zu verstehen – nur wir nicht.

       Doch irgendwann wurden wir nachdenklich. Und je älter wir wurden, desto stärker wurde auch bei uns der Wunsch nach einem Kind. Ist das biologisch? Haben wir alle einen unsichtbaren Schalter eingebaut, der zu einem genetisch festgelegten Zeitpunkt plötzlich umspringt und diesen Wunsch gebärt? Oder ist es das Leben, das seine Spuren hinterlässt und einem einflüstert, es müsse doch noch etwas anderes geben als Überlebenskampf und Langeweile? Jan war sich auf jeden Fall sicher, dass er Nachwuchs wollte. Mit mir.

       Ich war mir das eigentlich auch. Aber zur gleichen Zeit wuchs irgendwo in mir ein Geschwür heran, dunkelrot und schimmernd. Es blähte sich auf wie ein riesiges Furunkel, und wenn ich manchmal nachts wach lag, flüsterte es mir sogar hässliche Worte zu. Sein Name sei Zweifel. Und dieser Zweifel nagte an mir. Konnte ich wirklich eine Mutter sein?

       Meine Mutter sah mir sofort an, dass etwas nicht stimmte, sie spürt jede kleinste Veränderung in meiner Seismografie, immer schon. Diese Kunst wurde ihr in den Jahren meines Lebens allmählich zur Passion, sie hat sie zur Perfektion gebracht, denn auf diese Weise muss sie nicht über ihr eigenes verpfuschtes Leben nachdenken, sie kann es ganz der Erforschung ihrer Tochter widmen. Als sie mir in unserem Stammcafé gegenüber saß, trug sie wieder ihre Mädchenklamotten, die mich wie ihre ältere Schwester aussehen lassen, und betrachtete mich prüfend, was hast du denn, mein Schatz, irgendetwas stimmt doch nicht mit dir, hast du dir was eingefangen, bist du etwa wieder ohne Mütze raus gegangen, ich habe dir doch gesagt, dass es jetzt kälter wird, oder ist etwas mit deinem Job, haben sie dir das Geld immer noch nicht gezahlt? Ich zögerte, und dieses kleine Abwarten meinerseits provozierte sie, wie geht es denn Jan, fragte sie scheinheilig, mit gezwungen