Karlotta Jung

Plazenta, -18°


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Die offiziellen Fotos vom Brautpaar stellen diesen Eindruck jedoch seltsamerweise wieder infrage. Meine Eltern strahlen darauf um die Wette, sie mit einem leicht ironischen Klein-Mädchen-Lächeln und er mit einer fetten Zigarre im Mundwinkel, sie kokettieren mit ihrem Geschlecht, ihrer Rolle, als wüssten sie genau, was von ihnen erwartet wurde, und versuchten gleichzeitig, sich darüber lustig zu machen. Diesen kurzen Anflug von Selbstironie haben sie jedoch nicht in ihren Alltag retten können.

       Ein paar Jahre später wurde meine Mutter mit mir schwanger. Sie behauptet bis heute, es erst sehr spät gemerkt zu haben, da sie weiterhin ihre Tage bekam, zu dem Zeitpunkt sei es für einen Abbruch schon zu spät gewesen. Sie habe darüber nachgedacht, weil mein Vater eigentlich keine Kinder gewollt habe. Eine Aussage, die ich ihr bis heute übel nehme, denn egal, ob sie der Wahrheit entspricht oder nicht, es gibt Dinge, die man seinen Kindern besser verschweigen sollte. Aber Taktgefühl war noch nie eine ihrer großen Stärken. Außerdem glaube ich bis heute, dass sie eigentlich von sich gesprochen hat.

       Meine Mutter behauptet außerdem, während der Schwangerschaft keine großen Probleme gehabt zu haben. Keine Übelkeit, keine Müdigkeit, kaum Gewichtszunahme. Sie habe auch ganz am Ende immer noch in ihre alten Hosen gepasst. Ein kleines Wunder. Ein Kind, das kaum an Größe zulegt. Eine unsichtbare Schwangerschaft. Sollte sie sich patentieren lassen. (Auch von dieser Zeit gibt es keine Fotos, so dass ich lange Zeit dachte, adoptiert worden zu sein. Eine tröstliche Kinderphantasie, irgendwann, so hoffte ich, würden meine wahren Eltern auftauchen und mich abholen. Ich habe das Warten dann schließlich aufgegeben.)

       Einige Wochen vor dem Entbindungstermin zogen meine Eltern um. Während mein Vater arbeiten ging, packte und schleppte meine Mutter bis zum Umfallen. Noch am Tag meiner Geburt putzte und schrubbte sie und schleppte schwere Tüten nach Hause, obwohl sie schon erste Wehen hatte, dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die Wehen wurden rasch stärker, sie rief meinen Vater an, der zunächst nicht kommen wollte, weil er das Ganze für falschen Alarm hielt, und sie schließlich doch ins Krankenhaus fuhr. Wenig später war ich auf der Welt, zwei Wochen zu früh, geboren am 7. August 1974 in einem gewöhnlichen, nach Essensresten und Desinfektionsmitteln stinkenden, mitteldeutschen Krankenhaus in dumpfem Graublau.

       Kein großes Drama, hätte aber auch besser laufen können. So kam meine Mutter nach drei Tagen Klinikaufenthalt in eine neue Wohnung, in der nur unausgepackte Kisten standen und das Chaos regierte. Mein Vater ging weiterhin arbeiten, während sich meine Mutter mit der neuen Situation zu arrangieren versuchte. Schöne, kleine Elternwelt.

       Erst viel später, als ich ungefähr acht oder neun Jahre alt war, habe ich erfahren, was noch an meinem Geburtstag passiert ist. An diesem Morgen gingen die Menschen wie immer und überall auf der Welt zur Arbeit, so auch in New York City. Sie waren müde, sie waren erschöpft, denn ein Tag wie jeder andere wartete auf sie, in einem Büro, das aussah wie alle anderen, sie trugen ihre Aktentaschen, sie sahen zu Boden, um etwaigem Müll auszuweichen, sie verfluchten ihr Leben. Doch plötzlich stand vor ihnen eine Frau, mitten auf dem Bürgersteig, mit verzückter Miene, eine junge Frau mit langen Haaren deutete mit ihrem Zeigefinger nach oben, in den Himmel, als wolle sie darauf hinweisen, dass in diesem Augenblick der jüngste Tag anbreche und ihre Erlösung unmittelbar bevorstehe. Die Leute blieben stehen, in New York ist man zwar Verrückte gewohnt, aber diese Frau wirkte so überzeugend in ihrer Begeisterung, dass sie alle an deren Ursache teilhaben wollten. Zunächst sahen sie kaum etwas, denn der Tag war etwas diesig, zwischen den Wolkenkratzern hingen Nebelschwaden, vor allem zwischen den noch im Bau befindlichen Türmen des World Trade Centers, aber dann erahnten sie doch etwas, eine zarte Linie, einen dünnen Strich, der sich zwischen den beiden Türmen abzeichnete, und darauf ein winziger Punkt, der sich bewegte, was war das, doch nicht etwa ein Mensch?

       Philippe Petit hatte diese Aktion mehrere Jahre lang geplant, immer wieder war er nach New York geflogen, um den Fortgang des Baus zu beobachten, um seine Möglichkeiten genauestens zu eruieren, um Helfer zu finden, die ihn bei seinen Vorbereitungen unterstützen sollten, aber er wählte sich exakt meinen Geburtstag, den 7. August 1974, um seinen Drahtseilakt auszuführen. 45 Minuten schwebte er dort oben auf 417 Metern Höhe, tanzte auf dem Seil hin und her, kniete nieder und verbeugte sich, legte sich sogar in seiner ganzen Länge darauf, als wolle er ein Nickerchen machen, während die Zuschauer auf der Straße ihren Augen zuerst nicht trauen und dann ihren Blick überhaupt nicht mehr lösen konnten von diesem Zauber zwischen den Wolken, von diesem Wunder, das sie plötzlich alles vergessen machte, ihren Alltag, ihr Leben, ihre Angst.

       Als ich das erste Mal Fotos von Petit sah, dort oben zwischen den Türmen, konnte auch ich es nicht glauben. Wie konnte ein Mensch dies schaffen, wie konnte er in dieser Höhe über ein nur fingerdickes Seil laufen, wie gelang es ihm, von seiner Furcht nicht so übermannt zu werden, dass er in die Tiefe stürzte? Ich begriff es nicht, es ist mir bis heute ein Rätsel. Aber irgendwie hatte ich als Kind immer das Gefühl, dass das kein Zufall sein konnte, sein Drahtseilakt zwischen den Türmen und mein Geburtstag, sie waren in mir auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft, als sei auch ich dazu auserwählt, irgendwann einmal etwas so Wundervolles zu vollbringen.

       Später glaubte ich das nicht mehr, irgendwann verlor ich diese Gewissheit. Und am 11. September 2001 konnte ich, wie die meisten Menschen um mich herum, wie all die Menschen auf der ganzen Welt, die den Zusammenbruch der Türme im Fernsehen live mitverfolgten, nicht begreifen, was dort gerade passierte, dass sie tatsächlich in sich zusammen fielen, zu grauem Staub, diese angeblich unzerstörbaren Riesen, und dabei Tausende von Menschen unter sich begruben, zu Kleinstteilen zermalmten. Dieses Ereignis machte mich fassungslos, es pulverisierte mein bisheriges Vorstellungsvermögen. Aber es erinnerte mich auch daran, dass diese Türme einmal mein Versprechen gewesen waren, meine Verheißung, und auch deshalb weinte ich schließlich.

       Früher konnte ich mich, wenn mich meine Zustände überfielen, in meine Arbeit flüchten. Ich bin ein ausgezeichneter Strukturalist, vielleicht habe ich es deshalb geschafft, in der Fernsehserienbranche so erfolgreich zu sein. Dort geht es nicht um Originalität oder Spritzigkeit, sondern um das Vermögen, sich in bestehende Strukturen einpassen zu können, das konnte ich schon immer gut, ich bin ein Meister der Unsichtbarkeit.

       Schon in meiner Kindheit hasste ich nichts mehr als das Chaos. Ich liebte es, mein Spielzeug zu sortieren, in verschiedene Kästen und Schubladen, und dabei Prinzipien zu finden, nach welchen die Dinge sortiert werden sollten, um am Ende eine Lösung zu finden, die mich beruhigte. Weil alles seinen Platz hatte. Ganz im Gegensatz zu mir wahrscheinlich.

       Meine Geschichten fand ich stets auf ähnliche Weise: Ich baute sie an einer Grundidee entlang, systematisch und geradlinig, wie eine mathematische Gleichung. Das gerät selten verblüffend, aber das ist auch nicht gefordert, im Endeffekt möchte keiner gerne überrascht werden, sondern doch immer nur das sehen, was er schon kennt. Alles andere wäre wohl zu verunsichernd.

       Als ich noch studierte, hatte ich die Vision, Filme zu schreiben, die berühren. Ich beschäftigte mich monatelang mit der Psyche meiner Figuren, dachte mir Hunderte von Plots aus - und verwarf sie wieder. Ich war wie elektrisiert von all den Möglichkeiten, den Bildern in meinem Kopf und den Dialogen, die ich zu hören glaubte, ich schrieb Stories über mystische Reiter, schicksalsträchtige Enthüllungen, überwundene Kindheitstraumen, kein Thema war mir zu abstrus, keine Anstrengung zu mühselig. Doch irgendwann musste ich erkennen, dass sich niemand für meine Geschichten interessierte, von Filmhochschulen und Förderungen kamen stets nur Absagen. Deshalb bewarb ich mich irgendwann bei einer Produktionsfirma und wurde nach einer endlosen Zeit als unbezahlte Praktikantin Dramaturgin für eine Krimiserie, deren inhaltliche Geistlosigkeit mich an den Rand des Wahnsinns trieb. Zwei Jahre hielt ich es aus, dann warf ich erschöpft das Handtuch. War mehrere Monate arbeitslos, zunehmend verzweifelt. Und nahm deshalb schließlich das Angebot an, als selbständige Autorin für eben diese Serie zu schreiben, schließlich kannte ich sie besser als jeder andere. Immerhin wieder ein Job – wenn er auch nicht im Entferntesten mit meinen Vorstellungen von früher zu tun hat. Aber funktionieren konnte ich schon immer ganz ausgezeichnet. Bis vor kurzem.

       In den letzten Monaten habe ich an einem Buch für eine neue Krimiserie gearbeitet, deren erste Staffel gerade ausgestrahlt wird. Erst freute ich mich über diesen Auftrag, weil er viel Geld bedeutete und ich mich dadurch erst einmal nicht mehr um weitere bemühen musste.