Karlotta Jung

Plazenta, -18°


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Redaktion sich einig waren, welche inhaltliche Richtung die zweite Staffel nehmen sollte. Ich schrieb eine Fassung nach der anderen, und jedes Mal ereilten mich neue Anmerkungen. Mal sollte der Verdächtige geändert werden, mal der komplette Bogen der Ermittlungen, mal sollte sich der Hauptkommissar in die Täterin verlieben, dann wieder nicht. Ich arbeitete die Geschichte jedes Mal nach den geforderten Richtlinien um, verlor aber immer mehr den Bezug dazu, das Warum erhielt keine Antwort mehr, ich kam mir zunehmend vor wie ein Spielball des Irrsinns.

       Irgendwann konnte ich nicht mehr auf die Emails der Produzentin antworten, ließ sie ungelesen im virtuellen Papierkorb verenden. Und dann brach die Stille über mich herein, zunächst wie eine Verheißung. Bis sie zur Bedrohung wurde und sich das Magma meines Inneren glühend über mich ergoss.

       Manchmal senken sich all die sich drehenden, taumelnden Gedanken in meinem Kopf wie ein Schleier herab, und ich tauche ins Dunkel, ins tröstende Federweich meiner Kissen. Bis ich wieder hochschrecke, geschüttelt von dem Geräusch des Traktors, der sich langsam nähert, erbarmungslos brüllend. Ab und zu sitzt dann Jan an meinem Bett, er ist von mir unbemerkt nach Hause gekommen und sieht mit einer Mischung aus Irritation und Zärtlichkeit auf mich herunter, doch ich kann diesen Blick nicht ertragen und schäle mich aus meinen zerwühlten Decken, murmele, dass ich mich nur kurz hingelegt habe und dabei wohl eingenickt sei. Ich setze mich vor meinen Laptop und tue beschäftigt, rufe Dokumente auf, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet habe, und Jan trollt sich, fürs erste, mit unbefriedigtem Blick.

       Deshalb kommt er später noch einmal unter irgendeinem Vorwand in mein Zimmer, schleicht um meinen Schreibtisch herum. Er hat schon mehrfach in unserer Beziehung mitbekommen, dass ich in einen solchen Zustand gleite wie jetzt, doch gewöhnlich waren diese nach ein paar Tagen wieder vorbei. Nun ist er verunsichert, schlenkert wie ein Kind mit den Armen und will von mir wissen, ob er etwas einkaufen soll, was ich essen möchte, ob ich den und den Artikel schon gelesen habe, voreinander die Wahrheit auszusprechen, scheuen wir uns schon immer, als ließe sie sich dadurch aussperren. Doch ich weiß keine Antworten auf seine vielen Fragen, ich kann mir keine Gedanken über leere Kühlschränke machen, und eine Zeitung habe ich schon seit Wochen nicht mehr angefasst, ich weiche seinen forschenden Augen aus, nagele meinen Blick am Bildschirm fest und gebe einsilbige Antworten, dennoch quält mich Jans verzweifelte Bemühung, einen normalen Alltag aufrecht zu erhalten, mit Gesprächen, Übereinkünften, Einkaufslisten.

       Schließlich gibt er auf, verlässt aber trotzdem nicht das Zimmer, sondern drückt sich an meinem Bücherregal herum, nimmt das eine oder andere Buch heraus und blättert darin, ich beobachte ihn dabei verstohlen über meine Tastatur hinweg, seinen schmalen Rücken, seinen Nacken, den ich so liebe. Oder geliebt habe? Wenn wir früher miteinander schliefen, verbiss ich mich gerne in seinem Nacken, bis Jan den Schmerz nicht mehr ertrug und mich von sich abschälte wie ein hartnäckiges Insekt, jetzt würde es mir reichen, ihn nur vorsichtig mit den Fingern zu berühren, um zu sehen, wie es sich anfühlt, um zu spüren, ob dieser Kontakt etwas in mir auslöst, was mich vielleicht an eine frühere Empfindung erinnert. Doch es gibt keine simplen Berührungen, nirgendwo, denn sie können nie nur für sich stehen, immer wird ihnen eine ganz bestimmte Bedeutung verliehen oder sie gelten als Zeichen für irgendetwas anderes, ich darf Jan nicht einfach nur berühren, ohne Gefahr zu laufen, selbst berührt zu werden, obwohl ich schon die Vorstellung gerade nicht ertrage. Aber ihm das zu erklären, übersteigt meine momentanen Möglichkeiten, also bleibe ich still auf meinem Stuhl sitzen, schweige und beobachte ihn, der sich ein weiteres Buch genommen hat, zwischen seine Augen ist eine Konzentrationsfalte gestiegen, weil er sich so bemüht, nicht aufzufallen in meinem Zimmer, er will zu einem Teil des Inventars werden, um nicht hinausgeschickt zu werden.

       Doch plötzlich dreht er sich um, ich sehe an seinem Blick, dass er für den Moment vergessen hat, warum er hier ist, was für eine Situation gerade zwischen uns herrscht, er ist einen Augenblick lang der Jan von früher, ohne Angst vor meinen Launen. Wann hast du zum letzten Mal dieses Buch gelesen, das ist ja unglaublich, jubelt er und trägt mir ein paar Absätze vor, ich kann mich kaum auf das konzentrieren, was er da vorliest, aber ich genieße kurz seine Begeisterung, sein Leuchten. Früher haben wir ganze Vormittage im Bett verbracht und uns gegenseitig Stellen aus unseren Lieblingsbüchern vorgelesen, Sätze, die unseren Atem stocken ließen vor Schönheit oder Prägnanz, mit dieser Beschäftigung konnten wir Stunden verbringen, versunken in uns selbst und unserer Freude. Heute sind wir nur noch fliehende Schatten in unserer eigenen Wohnung.

       Schließlich werden die Nächte schlimmer. Ich kann nicht mehr einschlafen, sondern liege im Bett und verfolge wie gebannt die Wanderungen der Autoscheinwerfer auf der Wand, als müsste ich nur ihre Botschaft verstehen, um wieder schlafen zu können, oder laufe stundenlang wie ein Geist durch die dunkle Wohnung, die immer gleichen Wege - von meinem Zimmer durch den Flur in die Küche, ins Wohnzimmer, vor Jans Tür, durch die sanftes, genüssliches Röcheln dringt, ich möchte an seine Tür hämmern und vor Wut schreien, ich möchte an sein Bett gehen und ihn schütteln, warum kann er vergessen und ich nicht? Das ist eine Frage, auf die es nur Antworten gibt, die ich nicht hören möchte, deshalb setze ich mich auf den Balkon, zittere in der kühlen Nachtluft und lausche den Geräuschen der Stadt, jede Nacht das gleiche Spiel, bis ich schließlich körperlich so erschöpft bin, dass ich anfange zu weinen, ich knie vor meinem Bett und schlage mit dem Kopf auf den Boden, als wolle ich mich bewusstlos schlagen, eine Verzweiflung, die ich gut kenne. Doch der Schlaf, der kommt nicht.

       Ich werde hohlwangig und immer gereizter, und sogar Jan hält es schließlich nicht mehr länger aus mit mir, du solltest zum Arzt gehen, das ist doch nicht normal, so lange nicht schlafen zu können, beginnt er vorsichtig. Fängst du jetzt auch noch an, meine Mutter nervt mich schon seit Wochen mit nichts anderem, stöhne ich und verdrehe die Augen. Normalerweise will er nichts weniger, als mit meiner Mutter gleichgesetzt zu werden, und gibt dann meistens auf, aber diesmal bleibt er hartnäckig, ich meine es ernst, sieh dich doch mal an, ich mache mir wirklich Sorgen um dich, wenn du es schon nicht für dich tust, dann tue es wenigstens für mich. Alle Achtung, er ist meiner Mutter tatsächlich ähnlicher, als er wahrhaben will, emotionale Erpressung ist ihr Steckenpferd.

       Aber ich tue ihm schließlich den Gefallen und gehe zum Arzt. Der ist hager und ungefähr mein Alter, was mich kurzzeitig verunsichert, früher hat einen das Alter von Fachleuten noch irgendwie beruhigt, wenn sie älter waren als man selbst, mussten sie doch auch mehr wissen, heute sitzt man vor Gleichaltrigen oder, noch schlimmer, Jüngeren und weiß nicht, wohin man seinen Blick wenden soll. Aber vielleicht gibt er mir eine Diagnose, die mich entlastet, deshalb schildere ich ihm meine Beschwerden und sehe ihn erwartungsvoll an, ich will nicht, dass wahr ist, was ich glaube, dass sich immer alles wiederholt, dass ich wieder nicht entkomme.

       Ich bekomme Blut abgenommen, pinkele in einen Becher und fülle endlose Fragebögen aus. Ob ich diese Symptome schon einmal gehabt habe? Ja, kreuze ich an, ich kenne sie seit über zwanzig Jahren, sie gehören zu mir wie der Leberfleck an meinem Kinn, sie überfallen mich immer wieder, aber meistens vergehen sie nach einigen Tagen. Diesmal ist es anders, stärker, finsterer. Ob ich einen Auslöser ausmachen könne? Nein, kann ich nicht, andere verkraften das Leben ja auch, warum ich nicht? Dann sitze ich wieder vor dem Arzt, der noch hagerer zu sein scheint als bei unserem ersten Gespräch und mich über seinen Schreibtisch hinweg ernst ansieht. Ob ich schon einmal über eine Therapie nachgedacht habe? Ich lache heiser, ich habe bereits die dritte hinter mir, die letzte liegt jedoch schon über zwei Jahre zurück. Phantastisch, jubiliert der Arzt, dann ist es einfach, nun eine neue zu beantragen, er scheint froh zu sein, mich mit einem Häkchen versehen zu können. Als ich aus der Praxis wanke, weine ich.

       Alle paar Tage kommt meine Mutter vorbei, zu Zeiten, bei denen sie sicher sein kann, dass Jan nicht zuhause ist. Sie bringt mir Obst, Vitamintabletten, Zeitschriften, als mache sie einen Besuch im Krankenhaus, sie trägt wieder ihre bunten und viel zu kurzen Kleinmädchenklamotten, in denen man sie häufig für meine Schwester hält, und auch jetzt wirken wir wie Schwestern, allerdings durch eine andere Äußerlichkeit vereint, denn uns beide scheint durch einen seltsamen Zufall dieselbe Krankheit ereilt zu haben, auch sie wirkt müde und erschöpft, ihr Blick leer. Ich ertrage es nicht mehr lange, wie es dir geht, kannst du nicht endlich mal etwas dagegen tun, ich laufe nachts auch nur noch durch die Wohnung und kriege keine Luft, ich reiße die Fenster auf, aber es hilft nicht, außerdem