Karlotta Jung

Plazenta, -18°


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diesmal kein Entkommen. Sie hat sich einfach zu tief unter meine Haut gebohrt.

       Und schließlich erzählte ich ihr von dem Furunkel, das mich nicht schlafen ließ, von seinen Einflüsterungen. Davon, dass ich über ein Kind nachdachte. Es haben wollte. Dann wieder nicht. Ich hätte wissen müssen, dass meine Mutter der denkbar schlechteste Ansprechpartner für dieses Thema ist, denn sie hat nie nach Enkeln gefragt wie andere Mütter, war immer voller gedankenlosem Desinteresse gegenüber einer möglichen Großmutterrolle, aber ich war müde und einen kurzen Augenblick nachlässig, manchmal habe selbst ich noch die Vision einer von Blumenranken umflorten Mutter-Tochter-Beziehung, in der man nicht ständig sein Visier oben haben muss. In der man etwas über sich erzählen kann.

       Schätzchen, mach dir nicht so viele Gedanken, meine Mutter schüttelte nachsichtig den Kopf, du machst dir immer so viele Sorgen, aber das Leben ist ganz anders, als man es sich immer vorstellt, ich weiß, dass alle deine Freundinnen gerade Kinder bekommen, aber das bedeutet nichts, ich kann verstehen, dass dich das verunsichert, aber nicht alle müssen Kinder kriegen, weißt du. Wie meinst du das, erwiderte ich irritiert, nicht alle MÜSSEN - aber wenn man es doch WILL? Meine Mutter sah zweifelnd aus, nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino, um sich ein wenig Bedenkzeit zu verschaffen, verschluckte sich dabei und fing an zu würgen, das passiert immer, wenn sie nervös wird, ein Kind zu haben, ist sehr anstrengend, weißt du, wisperte sie dann, mit um den Hals gelegten Händen, als wolle sie sich selbst erdrosseln, und dir geht es ja manchmal nicht so gut, ich will damit nur sagen, dass so etwas gut überlegt sein muss. Meinst du, das tue ich nicht, schrie ich auf einmal, habe ich dir nicht gerade erzählt, dass ich schon monatelang darüber nachdenke und zu keiner Lösung komme? Jetzt reg dich doch nicht so auf, Kleines, raunte meine Mutter daraufhin und sah sich unruhig um, um sich zu vergewissern, ob wir schon die Blicke der anderen Gäste auf uns zogen, die ersehnte Verwirklichung eines harmonischen Nachmittags ließ wieder einmal auf sich warten. Ich rege mich so viel auf, wie ich will, heulte ich, ich hätte wissen müssen, dass ich mit dir nicht darüber reden kann, verdammt noch mal, wieso musst du immer nur von dir reden, nur weil du mich nicht gewollt hast, muss das doch nicht auch auf alle anderen zutreffen?

       Wie gesagt: Wir können nicht gut miteinander reden.

       Meine Eltern lernten sich mit ungefähr 18 Jahren kennen, also sehr jung. Meine Mutter ist ein Jahr älter als mein Vater, was erklärt, dass sie schon damals ein gutes Stück reifer und durchtriebener war als er. Es folgte die übliche Romanze zwischen Frischverliebten, aber die beiden mussten sich oft heimlich treffen, weil ihre Eltern möglichst wenig davon mitbekommen sollten, deshalb verließ meine Mutter ihr Jungmädchenzimmer häufig nachts, indem sie durchs Fenster kletterte und von dort auf die Garage sprang. Ihr eigener Vater war streng und verprügelte sie und ihre Geschwister in ihrer Kindheit fast täglich mit dem Gummischlauch, allerdings bekamen die Mädchen dabei seltsamerweise immer mehr Prügel als die Jungen. Die Anlässe waren nichtig: ein paar verspritzte Tropfen im Bad, ein nicht abgeräumter Teller. Die Mutter meiner Mutter schwieg dazu und versteckte sich in der Küche, mein Großvater war der erste Mann in ihrem Leben und sollte auch der einzige bleiben. (Perfiderweise starb sie vor einigen Jahren kurz nach ihm, verwirrt und allein. Wie die meisten Frauen ihrer Generation bekam sie keine Chance auf ein paar Momente selbst bestimmten Lebens.)

       Die Mutter meines Vaters war zu dieser Zeit schon zum zweiten Mal verheiratet und arbeitete fünf Tage die Woche als Vertreterin für Kristall. Sie war eine der wenigen Frauen, die zu jener Zeit einen Führerschein besaß und selbständig arbeitete, war aber dadurch den Großteil der Woche unterwegs. Mein Vater wurde daher den Großteil seiner Kindheit und Jugend von Kindermädchen und Köchinnen groß gezogen, ein Leben in bescheidenem Luxus, aber dafür ohne Mutter in unmittelbarer Reichweite. (Meine Eltern hatten somit beide eine eher auf Abwesenheit gründende Beziehung zu ihrer Mutter, denn es ist wohl egal, ob sich die Mutter in der Küche versteckt oder mit dem Auto durch halb Deutschland fährt. Jedoch ist die Kränkung im ersteren Fall wahrscheinlich sogar größer.)

       Irgendwann scheiterte die erste Romanze meiner Eltern, vielleicht waren sie zu unreif, vielleicht war auch das ewige Versteckspiel auf Dauer zu anstrengend. Beide gingen daraufhin in verschiedene Städte: mein Vater, um zu studieren, meine Mutter, um als Sekretärin zu arbeiten. Sie verloren sich aus den Augen. Was mein Vater in dieser Zeit getrieben hat, weiß ich nicht, er hat mir gegenüber immer nur sehr vage Andeutungen gemacht, wenn ich ihn danach gefragt habe. Was ich nicht oft getan habe, denn unser Verhältnis hat solche Fragen selten zugelassen.

       Was meine Mutter gemacht hat, weiß ich dafür umso präziser, denn sie hat mir diese Geschichten wieder und wieder erzählt. Bei jedem Mal wurde sie dabei detaillierter, die Ausschmückungen gerieten immer farbenfroher, sie genoss das Erzählen sichtlich, ging geradezu darin auf. Zwischendurch lächelte sie immer verschmitzt, spielte Verlegenheit, die ich ihr nicht abnahm. Schon als Kind nicht. Denn ich kenne sie, ihr war und ist nichts davon je peinlich gewesen.

       Zu der Zeit war es einfach, Arbeit zu bekommen, und meine Mutter wechselte ein paar Mal die Arbeitsstätte. Gewöhnlich bestand ihre erste Arbeitsleistung im neuen Job darin, ihren Chef flach zu legen. Ob in seinem Büro, im Auto, in ihrer eigenen Wohnung, der Ort war egal. Drohte die Sache aufzufliegen oder gab es gar Probleme mit der Ehefrau des Chefs, kündigte sie einfach und fing woanders an. Eine glorreiche Zeit, möchte man meinen, man musste sich keine Gedanken machen. Um nichts und niemanden. Und man musste sich nicht verbiegen, um seine Arbeit oder seine Beziehung zu behalten, sondern man fing einfach wieder von vorne an.

       Einer dieser Chefs war so spendabel, dass er meiner Mutter eine Wohnung finanzierte. Eine kleine Dachgeschosswohnung mit teuren Möbeln und einigen Finessen. Bei dieser Arbeitsstelle blieb meine Mutter etwas länger, genoss die Großzügigkeiten und warf sich im Gegenzug abends ins Nachtleben. Brachte Männer mit nach Hause. Viele. Verschiedene. Manche blieben eine Nacht, andere ein paar Wochen. Letztere entwickelten manchmal eine Besitzgier, die sie an die Wohnungstür meiner Mutter treten und ihr Gewalt androhen ließen. Ihr Pech war, dass sie diesmal nicht aus dem Fenster klettern und davon laufen konnte. So kam es wohl einige Male zu recht dramatischen Szenen.

       Doch meistens war alles vergnügt. Einer ihrer Freunde fuhr sie stundenlang mit seinem Cabrio durch die Stadt oder sang ihr Lieder auf der Gitarre vor, ein anderer besaß ein kleines Schloss in der Nähe und badete sie in seiner Wanne in Champagner und Kaviarhäppchen. Ein einziges, nicht enden wollendes Fest von Begehren und Begehrt-Werden, ein ständiger Reigen von Personen, die im Endeffekt wohl austauschbar waren.

       Komischerweise gibt es keine Fotos meiner Mutter aus dieser Zeit. Entweder hat sie diese ganz tief in einer Kiste versteckt (was ich nicht glaube, denn dazu genoss sie das Erzählen zu sehr) oder diese Zeit war einfach auf Flüchtigkeit angelegt. Wie gewonnen, so zerrinnt.

       Ich weiß nicht, ob es die nachglühende Stimmung der 68-er war, die meine Mutter zu diesem Lebensstil getrieben hat, oder die diebische Freude über die gelungene Flucht aus ihrem spießigen und lebensfeindlichen Elternhaus. Vielleicht beides ein bisschen. Irgendwann jedoch erinnerte sich meine Mutter wieder an meinen Vater. Der lebte inzwischen sein eigenes Leben, hatte einen gut bezahlten Job in einer Werbeagentur und wollte nichts mehr von ihr wissen. Und dann begann eine Episode, die ich bis heute nicht verstehe. Meine Mutter reiste immer wieder zu ihm, legte sich heulend vor seine Tür. Ließ sich ihre Nase mittels einer zutiefst mittelalterlichen Prozedur operieren, weil sie glaubte, ihm dadurch mehr zu gefallen. Plötzlich wurde ihre Geschichte zu einer Leidensgeschichte, sie war plötzlich nicht mehr die ewige Verführerin, sondern nur noch eine verstoßene Magd. Vielleicht kannte sie diese Rolle im Endeffekt besser, denn schließlich wurde sie schon in ihrer Jugend von ihren Eltern zum Arbeiten als Telefonistin geschickt, während ihre Brüder studieren durften. Oder es war nur das Nicht-Mehr-Begehrt-Werden durch meinen Vater, das ihre Eroberungslust anstachelte.

       Aus mir ebenso unerfindlichen Gründen erhörte mein Vater irgendwann ihr Flehen. Obwohl seine eigene Mutter ihm davon abriet, weil sie sich wohl eine anständigere Schwiegertochter gewünscht hatte, heiratete er meine Mutter. Auf den Fotos von der Trauung trägt sie ein knielanges weißes Kleid und einen breitkrempigen Hut. Sie sitzt im Standesamt neben meinem Vater und sieht den Beamten an wie den Heiligen Vater höchstpersönlich, mit einem fast als unschuldig durchgehenden Augenaufschlag. Vielleicht wusste sie, dass ihre Zeit der Selbstbestimmung so nicht ewig hätte weitergehen können, ohne in