Claudia Karsunke

Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit


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Bill hatte sowieso keinen Zweifel gehegt, dass Richie gesponnen hatte.

       „Du hast das doch nicht etwa geglaubt, was dein Freund da gesehen haben will? Schlimm genug, dass wir alle hinterhergelaufen sind.“

       Richie tauchte kurze Zeit später aus dem grünen Vegetationsvorhang auf. Obwohl er ganz sicher wusste, dass er Kramer und seine Expedition entdeckt hatte, konnte er nun nicht glauben, dass beides genauso spurlos wieder verschwunden war. Es war Richie vergönnt gewesen, auf diesen Forscher zu stoßen. Was davon geblieben war, ließ sich so leicht nicht ausradieren. Auch nicht von Bill, der vermutlich nie von irgendetwas überzeugt sein würde. Außer vielleicht von dem, was er selbst tat.

       Richie ließ das Geschehen noch einmal kurz Revue passieren. Hatte er sich vielleicht doch nur eingebildet, Kramer zu sehen? War er einer Täuschung zum Opfer gefallen? Nein. Richie gab sich einen Ruck und ging zurück zu Hans und dem Kamerateam, die auf ihn warteten. Er trug dieses Gefühl von Gleichzeitigkeit noch immer in sich. Für ihn war das alles andere als eine Verunsicherung. Diese Begegnung mit Kramer hatte da etwas freigelegt, was nur sehr langsam in seiner ganzen Dimension für Richie erfassbar wurde. Es war der Beweis, dass sich heute Morgen, da bei der Quelle, etwas Unerklärliches zugetragen haben musste, etwas, das er noch nie erlebt hatte. Und dieses Gefühl würde ihm niemand jemals mehr nehmen können. Auch, wenn es im Laufe der Zeit vielleicht verblasste. Er würde sich in Zukunft an dieses Gefühl erinnern. Es würde da sein, wenn er es brauchte. Ermutigt von dieser Sicherheit hatte Richie nun auch keine große Mühe, sich bei den Männern zu entschuldigen.

       „Es tut mir wirklich leid, wenn ich euch umsonst hier heraufgescheucht habe. Aber ich versichere euch, es war kein Hirngespinst, das ich gesehen habe. Das Lager war wirklich da unten. Und Kramer mit seinen Leuten auch. Wie auch immer: Wir sind hier auf seine letzte Expedition gestoßen. Das wird uns einen entscheidenden Schritt weiterbringen.“

      Begegnungen

      27° 28’ 16.53’’ S / 153° 02’ 11.99’’ .O Brisbane, QLD Jonathan saß in seinem Büro in der City und schaute aus dem Fenster hinunter auf den Brisbane River. Die merkwürdigen Ereignisse, von denen Richie ihm erst vor wenigen Stunden berichtet hatte, ließen ihn für diesen Tag Schluss machen mit der Alltagsroutine und in Ruhe über die Entwicklung seiner Kramer-Such-Expedition nachdenken. Nicht, dass er Angst hatte, die Dinge könnten ihm oder seinen Leuten entgleiten. Jonathan fühlte sich eher mit diesem Anruf, den er von Richie erhalten hatte und mit den damit verbundenen Neuigkeiten weiter in seiner Theorie bestätigt. Er hatte sich schließlich selbst lange genug mit Kramer und dessen Entdeckungsreisen in die unbekannten Teile Australiens beschäftigt und kannte die Ausgangslage seiner Such-Expedition sehr gut. Er hatte zusammen mit Richie alle Möglichkeiten in der Theorie durchgespielt, die er für die Mission, die Überreste dieses Mannes zu finden oder zumindest auf dessen Vermächtnis zu stoßen, als wichtig betrachtet hatte. Jonathan ließ Kramer jetzt noch einmal in seinem Geiste erscheinen und die Szene, die Richie ihm nach dem Erlebnis im Springhill-Nationalpark beschrieben hatte, an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Seine Gedanken entfernten sich von diesem Ort und gruben sich langsam tiefer hinein in das Leben und Schaffen dieses Forschungsreisenden, auf dessen Spuren seine Leute unterwegs waren. Jonathan merkte, wie er mehr und mehr von dieser Person in sich selbst entdeckte und wie er schließlich ein Teil von ihm wurde. Gänzlich unbeabsichtigt schlich sich wieder sein Fernsehauftritt und dieser Eklat ein, den er durch seinen Ausstieg aus einer Livesendung besiegelt hatte. Schon einige Male stellte er sich seit diesem Abend dieselbe Frage, ohne jedoch eine Antwort darauf zu erhalten. Seine Vergangenheit barg zugegebenermaßen einen wunden Punkt, aber nicht etwa, weil sie kriminell oder mit Leichen gepflastert war, sondern weil er sie nicht lückenlos kannte. Wer konnte das auch schon von sich behaupten? Seine Geschichte war die eines Mannes, der als Ingenieur in Charleville begonnen hatte. Der alte Morley bot ihm damals einen Job an, den Jonathan nicht ausschlagen konnte. Wann immer in den Sechzigern und Siebzigern des letzten Jahrhunderts in den abgelegenen Regionen Queenslands auf einer Station ein Brunnen gebohrt werden sollte, machte sich Morley mit seinem Bohrgerät und dem alten Diesel auf den Weg. Er holte für die Farmer und ihr Vieh das Wasser aus der steinigen Erde, das sie so dringend brauchten und das so kostbar war, dass sie diese Investition in ihre und die Zukunft ihrer Viehbestände nicht scheuten. Jonathan hatte seinen Boss stets begleitet, sehr viel über die immense Ausdehnung der unterirdischen Wasservorkommen im so trockenen Landesinnern gelernt und wie man sie aufspürte. Er machte Bekanntschaft mit der Eintönigkeit des Outbacks, den dort lebenden Menschen, erfuhr am eigenen Leibe, was sie in die Abgeschiedenheit getrieben hatte und dort mitunter jahrzehntelang ausharren ließ. In dieser Zeit zeigte ihm Morley stolz diesen alten Brief, den schon sein Großvater von dessen Vater geerbt hatte. Er stammte von einem gewissen Frederic William Kramer und war an Morleys Vorfahren gerichtet, der damals schon eine kleine Farm auf halbem Wege zwischen der Küste und Charleville besaß. Jonathan erfuhr, dass es sich um diesen verschollenen Forscher handelte, der vor der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts versucht hatte, den Kontinent zu durchqueren und nie an seinem Ziel an der Westküste angekommen war. Trotz mehrerer Such-Expeditionen blieb er verschwunden. Niemand fand jemals seine sterblichen Überreste oder die seiner Begleiter. Sein Interesse an diesem Mann war nachhaltig geweckt, als Jonathan in Queensland zum ersten Mal auf einen Hinweis stieß, dass dieser Entdeckungsreisende dort seine Spuren als Wissenschaftler hinterlassen hatte. Während der junge Miller mit Morley im Land unterwegs war, lernte er selbst die ganze Palette der Extreme kennen, die das australische Klima im Laufe der Jahre zu bieten hatte. Er traf die Menschen des Outbacks in den Pubs, er lernte ihre Marotten kennen, und er schätzte sie in ihrer Art, die man nur in dieser Abgeschiedenheit zu schätzen wusste. Er war froh und glücklich, eine ganze Weile dieses unbeschwerte Leben führen zu können. Morley war beliebt bei den Menschen, was auch ihm nutzte. Jonathan trat in seine Fußstapfen, denn irgendwann wollte oder konnte sein väterlicher Chef nicht mehr. Er zog sich zurück und überließ dem Jüngeren seine Firma mitsamt den inzwischen veralteten Bohrgeräten als Sprungbrett für die eigene berufliche Zukunft. Und die seiner Familie. Schon Jahre zuvor waren sich Jonathan und Morleys Tochter Maggie bei einem ihrer Besuche während der Semesterferien begegnet. Sie studierte damals Publizistik in Townsville. Seitdem gehörten er und Maggie zusammen. Zwei Jahre später heirateten sie, und ihr Sohn Thomas wurde geboren. Kramer, der Jonathan noch gelegentlich in der unermesslichen Weite von Outback Queensland auf die eine oder andere Weise begegnet war, trat völlig in den Hintergrund, als der alte Morley starb. Nach dem Tod seines Schwiegervaters verlegte Jonathan den Hauptsitz seines Unternehmens nach Brisbane. Er hatte es Zug um Zug modernisiert, was die Bohrtechnik betraf und sich inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten auch auf dem Gebiet der Entwicklung von Sonnenkollektoren erfreulich hervorgetan, was die Reputation von MorleysPartnership Enterprises weiter verstärkte. Hier, an der Ostküste, fand er optimale Voraussetzungen für die Planung und die besten Mitarbeiter für sein Unternehmen. Außerdem wollte Jonathan, dass sein Sohn in Brisbane zur Schule ging. Er sollte auch dort studieren. Nach Abschluss seines Studiums war Thomas als Jurist für das Unternehmen tätig. Auch er hatte inzwischen ein sehr großes Interesse an dem entwickelt, was ihre Ingenieure für diesen Kontinent leisteten. Thomas sah, genau wie sein Vater, die Notwendigkeit, die Zukunft alternativ zu gestalten, anders, als es die Vergangenheit erlaubt hatte. Auch er würde deshalb stets auf neue Technologien für sein Land setzen. Und auf die Menschen im Outback. Wenn nicht dort, wo sonst konnte man besser neue, vielversprechende technische Entwicklungen austesten? Das Solarversuchsfeld in Windorah war solch ein Projekt, wo es auf gegenseitiges Vertrauen und eine offen geführte Kommunikation ankam, wo neue Technologien getestet wurden und ihre Bewertung objektiv verlaufen sollte. Die Menschen im Landesinneren waren schon immer auf sich selbst angewiesen. Als Pioniere brauchten sie eigene Generatoren, um ihren Strom zu erzeugen. Der Diesel kam über Jahrzehnte von weit her, verpestete die Luft und machte Lärm. Wenn die Maschine ausfiel oder während der Nacht abgeschaltet wurde, gab es keinen Strom. Das erschwerte eine reibungslose Versorgung mit frischen Lebensmitteln. Was lag da näher, als den Leuten ein Sonnenkraftwerk zur Erprobung und beinahe kostenlos zur Verfügung zu stellen? Und gleichzeitig an der Effizienz von Akkus oder anderen alternativen Speichermodulen zu arbeiten? Wo konnten er und die Ingenieure seiner Firma besser und effektiver an ihre Messdaten gelangen als dort, wo für Jonathan alles begonnen hatte?