Claudia Karsunke

Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit


Скачать книгу

es in seine Kladde ein und schrieb noch etwas daneben. Dann klappte er das Heft zu. Richie war so verblüfft, dass ihm nur ein Gedanke in den Sinn kam: Kramer. Das da unten konnte nur, ja, das musste Kramer sein! Allerdings war er plötzlich unsicher, ob das wirklich die letzte Reise des Naturforschers war. Oder ob es sich vielleicht doch eher um seine erste Expedition handelte, die ihn und seine Männer erfolgreich bis hinauf an die Nordküste geführt hatte. Richie überlegte und entschied sich, dem Reiter zu folgen, bevor er die anderen informierte. Jetzt, wo er so zufällig auf ihn gestoßen war, wollte er unbedingt herausfinden, woran er war. Wenn sich das alles nur als Hirngespinst herausstellte, würde es ihn in diesem Augenblick nicht wundern. Aber er musste trotzdem an dieser Sache dranbleiben, solange es eben möglich war. Die beiden Männer hatten sich inzwischen von der Quelle zurückgezogen, und ihr Beobachter war gezwungen, ihnen zu folgen, denn er verlor sie bereits aus dem Blickfeld. Die dichte Vegetation verdeckte sie. Richie eilte den Hügel hinunter bis zur Quelle, umrundete sie und trat auf der gegenüberliegenden Seite aus dem dichten Grün der Paperbarks heraus. Wie ein breiter Vorhang hatten die tief herunterhängenden Äste seinen Blick zuvor versperrt. Dahinter öffnete sich nun zu seinem Erstaunen eine weite Ebene am Fuß des Hügels. Dort unten lag unübersehbar das Expeditions-Camp mit den Tieren, die zum größten Teil beladen und zum Abmarsch bereitstanden. Die Mulis trugen, das konnte Richie trotz der Entfernung erkennen, große und prall gefüllte Wassersäcke aus Tierhäuten. Andere Lastenträger schleppten dicke Bündel aus getrocknetem Gras. Kramer ritt zügig dem Lager entgegen, während sein schwarzer Begleiter einige Mühe hatte, ihm zu Fuß zu folgen. Der Zeitpunkt erschien Richie sehr günstig, um zurückzulaufen und die anderen über seine Entdeckung zu informieren. Das, was er gesehen hatte, bestärkte ihn in der Einschätzung, dass dies nur die letzte Expedition sein konnte, von der Kramer und all diese Kreaturen da unten nicht zurückkehren würden. Plötzlich fand er sich in einer eigenartigen Vorstellung wieder. Er erlebte sich an der Nahtstelle verschiedener Teile, die in diesem Augenblick und an diesem Ort irgendwie zusammengefügt worden waren. Richie hatte das Gefühl von Gegenwart. Gleichzeitig war das Geschehen hier Vergangenheit und alles auch Zukunft. Richie verlor jetzt keine Zeit mehr. Er rannte zurück zum eigenen Camp, so schnell er überhaupt laufen konnte. Auch wenn es sicher noch eine ganze Weile dauerte, bis der Treck diese weite Ebene verlassen haben würden, mahnte ihn irgendetwas zu dieser Eile. Wenn er um die Anhöhe herumlief, würde er vermutlich schneller bei den Autos sein. Scheinbar nur wenige Augenblicke später rannte er bereits auf der anderen Seite hinab. Das Gesehene verlieh ihm Flügel.

      Die Sonne schien inzwischen bis tief in die Senke hinein. Die angenehm kühle Morgenfrische wich schon merklich der aufsteigenden Hitze des Tages. Dianne bereitete in einem Billytopf über dem Feuer den Tee für das gemeinsame Frühstück, während Hans und Paddy eines ihrer Dachzelte zusammenfalteten und Jim die Ölstände prüfte.

       Bill kam mit einer Papierrolle unter dem Arm aus der Buschtoilette. Richie lief ihn beinahe über den Haufen.

       „Wer ist denn hinter dir her?“

       „Schnell, beeilt euch... Da oben... Es ist Kramer. Hans, das musst du sehen... Es ist einfach unglaublich, was da passiert!“ Richie hatte Mühe, seinen Atem wiederzufinden. Ein überwältigendes Gefühl hatte ihn fast schwerelos zu den anderen getragen. Völlig außer Puste, musste er nun endlich verschnaufen.

       „Beruhige dich erst einmal und dann erzähl der Reihe nach.“ Jim hatte den Ölmessstab mit dem Lappen noch in der Hand, und Frank stand mit seiner Zahnbürste im Mund abwartend da.

       Der Ankömmling keuchte. Nur langsam bekam er wieder ausreichend Luft. Er fuchtelte wild mit seinen Armen und zeigte immer wieder zu diesem Hügel.

       „Kramer ist da oben. Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen.“

       „Du hast ... was?“ Jetzt vergaß auch Dianne ihren Tee und kam auf Richie zu.

       Bill winkte wortlos ab.

       Richie konnte es nicht glauben. Er war gerannt, um seinen Leuten diese unglaubliche Entdeckung mitzuteilen. Und nun zweifelten sie an seinem Wort? Selbst sein Freund Hans schien zu dieser frühen Stunde noch zu verschlafen, um ihn zu verstehen. Dabei handelte es sich doch um den eigenen Verwandten des Deutschen, auf den Richie soeben getroffen war. Und dieses undefinierbare Gefühl von Gleichzeitigkeit war auch noch da. Was konnte er nur tun, um seine Gefährten zu überzeugen? Richie versuchte es noch einmal. „Wenn ich es euch doch sage. Es kann nur Kramer sein. Ich habe ihn ganz deutlich erkannt.“

       Jetzt meldete sich Bill doch zu Wort.

       „Sag mal, hast du Halluzinationen, mein Freund? Aber kein Wunder, wenn man sich mit nichts anderem beschäftigt als mit diesem Zombie.“

       Endlich war Hans bei der Sache.

       „Also, das glaube ich dir erst, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe.“ Er zog sich in Windeseile die Boots an und während er sie zuband, erkundigte er sich. „Wo, sagst du, ist er?“ Als hätte auch er plötzlich den Sinn dieser Neuigkeit erfasst, rannte der Deutsche los.

       „Hinter dem Hügel und hinter dieser Quelle.“

       Bill, der Hans davonlaufen sah, setzte sich unwillkürlich in Bewegung, als sei auch sein Einsatz gekommen. Er wollte sich auf keinen Fall nachsagen lassen, dass er diese einmalige Chance, Kramers Expedition zu filmen, verpatzt hatte.

       „Also gut. Frank, hol die Kamera. Einen Versuch ist es wert. Unsere Bilder lügen nicht. Das glaubt uns sonst kein Mensch, noch nicht einmal Jonathan.“

       Frank griff nach seinen Schuhen, um hineinzuschlüpfen. Sie waren weg.

       „He, warte mal. Meine Boots...!“

       Hans drehte sich im Lauf um.

       „Tut mir leid, nimm meine! Die sind doch eh alle gleich!“

       Frank schaute sich um.

       „Und wo finde ich die?“

       Bill ging es jetzt plötzlich zu langsam. Verzögerungen dieser Art lagen ihm überhaupt nicht.

       „Nimm halt irgendwelche. Nur beeil dich! Dafür wirst du schließlich bezahlt.“

       Frank ergriff ein Paar in seiner ungefähren Größe, von diesen TurtleJack-Boots, die sie alle trugen, weil sie zu ihrer Ausrüstung gehörten und weil sie gerade in seiner Nähe standen. Er fragte sich dabei, ob der Sponsor eine solche Situation wohl bedacht hatte?

       Annette hatte inzwischen in Ruhe ihre Morgentoilette beendet. Sie war die Einzige, die sich nicht aus ihrem Rhythmus hatte bringen lassen. Jetzt musste sie jedoch lachen.

       „Typisch Hans. Macht vor nichts Halt und bringt alles durcheinander, wenn es um seinen Ururgroßonkel geht.“ Dann kam sie ohne weitere Verzögerung zur eigenen Tagesordnung zurück. „Also Leute, irgendwann muss gewaschen werden. Unsere Klamotten stehen vor Dreck. Vom Geruch will ich gar nicht erst reden.“

       Jim schaute sie mitfühlend und lächelnd an.

       „Sobald wir eine Waschmaschine gefunden haben, Süße, kannst du loslegen. Bis dahin wirst auch du dich gedulden müssen. Ob dir das passt oder nicht.“

       Jim hatte sehr bestimmt geklungen. Annette machte demonstrativ eine beschwichtigende Handbewegung.

       „Okay, Boss. Ist ja schon gut. Ich füge mich ergeben in mein Schicksal.“

       Während Bill bereits mit der geschulterten Kamera den Hügel hinaufstieg und Frank ihm in einigem Abstand mit der restlichen Ausrüstung folgte, würden Jim und die anderen hier mit dem Frühstück warten, bis alle zurückkamen. Sie packten in der Zwischenzeit die Ausrüstung zusammen, damit sie nach dem Frühstück ohne größere Verzögerung weiterfahren konnten.

      Als Bill und Frank, der ihn schon bald einholte, sich der Quelle auf der anderen Seite des Hügels näherten, kam ihnen Hans ein paar Schritte entgegen.

       „Zu spät. Sie sind nicht da!“

       Bill wischte sich erschöpft die Schweißperlen von der Stirn.

       „Soll das heißen, dass wir umsonst hier raufgerannt sind?“

       „Tut mir leid, Bill. Als wir da vorne ankamen, war nichts mehr zu sehen. Richie ist noch da und sucht den Horizont