Claudia Karsunke

Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit


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„Ja, vielleicht.“ Annette beeilte sich, diese Unterhaltung mit dem blonden Australier zu beenden und ging zielstrebig zu Frank hinüber. Sie griff ohne jegliche Vorwarnung hinten an den Kragen seines Polohemdes und schaute hinein. Erschrocken zuckte er zusammen.

       „Sag mal, schnappst du jetzt vollkommen über? Was soll das denn werden?“ Frank schüttelte sie wütend ab.

       Irritiert über seine harsche Reaktion, zog Annette ihre Hände beschwichtigend zurück.

       „Du hast doch meine Größe. Also...“

       „Also was?“ Frank war stocksauer.

       „Entschuldige. Ich wollte nur mal nachsehen, ob du vielleicht...? Ich habe kein einziges frisches Oberteil mehr im Koffer.“

       „Du nervst ganz schön mit dieser Endlosnummer, weißt du das?“

       „Aber ich hab keine sauberen Sachen mehr.“

       „Du kannst eine von meinen haben.“ Dianne spazierte Hand in Hand mit Paddy vergnügt an den beiden vorbei und schmunzelte.

       Annette seufzte erleichtert.

       „Danke Dianne, du bist klasse.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich kann doch schließlich nicht dreimal hintereinander dasselbe Shirt anziehen.“ Sie blickte in Diannes verständnisvolles Gesicht.

       „Schon gut, Annette. Sobald wir zurück sind, gebe ich dir eins von meinen.“

       Während die beiden Verliebten ihren Weg hinein in das Gewirr der Felsendome fortsetzten, schaute sich Annette sehr erleichtert um. Richie war nirgendwo zu entdecken. Auch Hans nicht. Bestimmt hatten sie ihre Köpfe wieder in diese vergilbten Karten gesteckt oder sie durchforsteten die Kramer’sche Datenbank des Laptops nach bislang unentdeckten Gemeinsamkeiten. Wenn das so war, wusste sie auch, wo sie die beiden Männer fand.

      Bills Blick schien sich auf dem Weg zwischen den eng zusammenstehenden Felsen zu verlieren, die Dianne und den Aborigine jeden Augenblick zu verschlucken drohten. Er saß noch immer neben seinem Assistenten auf der Abgrenzung und trank sein Bier. Ohne ihn anzusehen, wandte er sich an Frank.

       „Was hältst du davon, wenn wir uns da drin auch mal umsehen, Junge? Es ist noch hell genug. Schaden kann es jedenfalls nichts, wenn wir uns jetzt schon ein paar Gedanken machen, wie wir dieses Motiv auflösen. Dann haben wir die Bilder morgen früh auch schneller im Kasten.“ Ohne die Antwort abzuwarten, erhob er sich und ging, wie in Trance, hinter den beiden her.

       „Okay, ich komme mit.“ Frank ahnte, was seinen Boss tatsächlich bewegte. Er grinste, bis er zu ihm aufgeschlossen hatte.

      Als die Weißen kamen, drangen sie auch in das Stammesgebiet der Barunggan vor und nahmen sich, was sie zu benötigen meinten. Sie nahmen ihnen den Platz weg, und sie raubten ihre Frauen, ihre Mütter und ihre Schwestern. Wer sich ihnen und ihrer Gier in den Weg stellte, wurde erschossen. Oder verjagt. Der Clan von Billy und Jonny wich den Eindringlingen aus, soweit das möglich war. Als Nomaden durchstreiften sie weiterhin den Busch und hielten sich nie lange an einem Ort auf. War die Nahrung erschöpft, sorgten sie zwar für das darauffolgende Jahr vor, indem sie einfach ein paar Früchte zurückbehielten, ihre Samen in die Erde steckten und sich darauf verließen, dass sie bei ihrem nächsten Besuch hier wieder genug zu essen fanden. Schon immer hatten sie es so gemacht. Sie kannten die Plätze genau und wussten, wo sie wann reife Früchte und Wurzeln oder jagdbare Tiere fanden. Die Weißen aber ließen ihnen immer weniger Raum übrig, um weiter so ihr Überleben sichern zu können, wie schon die unzähligen Generationen vor ihnen seit Beginn der Traumzeit es getan hatten. Die europäischen Eindringlinge nahmen die fruchtbarsten Plätze für sich selbst in Besitz und überließen die Eingeborenen dem sicheren Tod. Um nicht zu sterben, verdingten sich viele Aborigines als Arbeiter auf den immer zahlreicher werdenden Farmen, obwohl ihnen diese Art Arbeit von Natur aus fremd war. Die Not, die dieselben Weißen über ihr Volk gebracht hatten, zwang sie jetzt in ihre Dienste. Als Gegenleistung erlaubten ihnen die neuen Herren des Landes ihrer Ahnen, zusammen mit ihren Familien auf den Farmen zu leben in gebührendem Abstand von den weißen Arbeitern. Man zwang sie in die Kleider der Weißen, und man erwartete von ihnen Loyalität für diese großzügigen Gesten. Der Besitzer der Station, auf der Billy und Jonny zuvor arbeiteten, unterstützte meine Expedition nach Swan River, und ich lieh mir die beiden mit dem Einverständnis ihres Bosses für diese Unternehmung aus. Sie kannten sich im Busch aus wie die weißen Männer in ihrer Westentasche, und so begleiteten sie mich jetzt auf dieser langen Reise. Sie würden dennoch niemals unsere Gewohnheiten annehmen. Sie blieben das, was sie von Natur aus waren: Aborigines. Das Wissen ihrer Ahnen lag tief in ihnen verborgen. Es leitete sie, wohin sie auch gingen. Jonny und Billy hüteten es, wie jeder ihrer Brüder es hütete. Keiner von ihnen würde es je wagen, dieses Wissen an einen weißen Eindringling zu verraten. Sie trugen das Vermächtnis ihrer Ahnen in sich, wie es von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Und sie würden eher sterben, als dieses Vermächtnis preiszugeben. Sie hatten ihre Mütter bis zu dem Tag begleitet, wo sie für dieses Ritual weggeführt wurden, das sie zu Männern machte. Schon Tage vorher waren die Frauen des Stammes voller Unruhe gewesen, und die Jungen hatten gespürt, dass sich etwas ereignen würde, was ihnen Angst machte. Niemand wusste, was geschah, und niemand hatte jemals ein Wort darüber gesprochen. Aber in jedem Jahr passierte das Gleiche, und es war ungewiss, wer als nächster an die Reihe kam. Irgendwann waren sie selbst es gewesen, die das Lager und ihre Mütter ohne Vorwarnung verlassen und einem alten Mann nachts in den Busch hinaus folgen mussten. Einige Zeit später kehrten sie verändert zurück und lebten von da an mit den Männern ihres Stammes. Sie gingen mit ihnen auf die Jagd und lernten nun von ihren Vätern. Es war auch ihnen strengstens untersagt, etwas über das weiterzusagen, was sich da draußen zugetragen hatte. Welche Erfahrung hinter ihnen lag und ein Teil ihres Lebens wurde, blieb für alle Zeit allein ihr persönliches Geheimnis.

      15° 45’ 41.94’’ S / 128° 45’ 06.10’’ O Diamond Valley, WA Eingang zum Tal der Träume Am Fuße eines markanten Felsens, der weithin sichtbar die Gegend überragte, blieben Dianne und Paddy stehen. Sie schauten nach oben zu dieser alles überragenden Steinformation, die eindeutig einem Zweck zu dienen schien. „Sieh mal, Honey, das ist der Wächter des Tals, das dahinter liegt. Es war einmal eine der heiligsten Stätten der Aborigines und jeder, der es ohne das Wissen der Ahnen betreten hat, musste sterben. Nur ein paar Auserwählte und die Ältesten unserer Stämme haben sich hier zu geheimen Zeremonien getroffen. In diesen Zusammenkünften sind sie den Ahnengeistern begegnet, die ihnen den Weg gewiesen haben, den sie zu gehen hatten. Heute ist dieses Gebiet ein Nationalpark, wie so viele andere heilige Versammlungsorte meines Volkes auch. Sie sind für jeden zugänglich, aber den meisten Besuchern bleibt die Kraft verborgen, die von diesen Plätzen ausgeht. Und für uns sind sie für immer entweiht. Mit dem Verlust der heiligsten Kraftorte hat mein Volk seine Wurzeln und die Orientierung verloren, ohne die so viele von meinen Brüdern und Schwestern ihren eigenen Weg nicht mehr finden.“ „Lass uns hineingehen, Paddy, ja? Oder glaubst du, dass es für dich und mich zu gefährlich ist?“ „Wenn du möchtest, gerne. Der Park ist öffentlich. Und ich glaube nicht, dass es uns schaden wird, wenn wir das Tal betreten.“ Er setzte sich in Bewegung und zog Dianne hinter sich her. „Komm Honey, bevor die Sonne zu tief sinkt. Dann verliert dieser Ort nämlich seinen Zauber.“ Lachend liefen sie den schmalen, sich leicht windenden Weg entlang, tiefer in die langsam enger werdende Schlucht hinein. Vor ihnen öffnete sich die Landschaft zu einem weiten Talkessel. Paddy kletterte auf einen Felsvorsprung, und seine Liebste folgte ihm. Sie ließen sich nebeneinander darauf nieder. Ein bisschen erschöpft von der schier endlosen Fahrt und eng an Paddy geschmiegt beobachtete Dianne, wie die Sonne die gegenüberliegende Seite anstrahlte und die Felsen in ein wunderschönes und warmes Licht tauchte. Die Büschel aus Spinifex bildeten einen blassgrünen dreidimensionalen Tupfenteppich inmitten des rostbraunen Ockertons des scheinbar glühenden Urgesteins. „Ein wirklich schöner Platz ist das hier. Und zur Abwechslung ist das ein sehr romantischer Ort. Findest du nicht auch?“ Dianne schaute sehr verliebt in die schwarzen Augen des Rangers, der ihre Gefühle mit einem zärtlichen Kuss auf ihre Stirn erwiderte. „Ja, ein wunderschöner Ort.“ Dann wiederholte er diesen Satz, wie er das inzwischen fast immer tat, wenn sie allein waren. „Ein Platz zum