Claudia Karsunke

Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit


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ihren Fußfesseln. Einige schafften es, sich endlich loszureißen und rannten in ihrer Panik davon.

      Jim hatte den Wagen erreicht, in dem das Kamerateam auf dem Dach schlief. Frank schaute völlig irritiert aus dem einen Spalt breit geöffneten Zelt. Im Stoff steckte ein Speer.

       „Was ist los, Jimmy? Ich habe nur kurz telefoniert. Plötzlich brach die Verbindung ab. Und das Geheule war da.“

       Jim winkte dem Jungen.

       „Los, komm schnell runter und kriech unter das Auto. Da bist du am sichersten.“

       „Was ist mit Bill? Er ist noch im Zelt.“ Frank öffnete den Reißverschluss vollständig, um hinausschlüpfen zu können.

       Jim mahnte durch Zeichen zur Eile.

       „Er soll auch sofort herauskommen!“

       Franks Kopf verschwand wieder im Zelt, aus dem ein leises Stöhnen zu hören war.

       „He, Bill, wach endlich auf! Ein Überfall... Bill, wir müssen hier raus und unter den Wagen!“

       Jim wurde nervös. Je länger sie brauchten, um sich in Sicherheit zu bringen, desto größer war die Gefahr, dass es doch noch einen von ihnen erwischte.

       „Verdammt, ihr zwei. Beeilt euch doch!“

       „Bill hat was abgekriegt.“ Franks Kopf erschien wieder in der Zeltöffnung.

       „Dann hilf ihm heraus!“

       Es ging nicht. Der Speer hatte sich in Bills Schulter gebohrt. Das hintere Ende ragte aus dem Zeltdach heraus.

       Jim erfasste blitzschnell die neue Situation und trieb den Jungen an.

       „Brich ihn einfach ab!“

       Mit einiger Mühe gelang es Frank, den Schaft ein Stück oberhalb der Spitze abzubrechen.

       Bill schrie vor Schmerzen auf.

       „Au, verdammtes wildes Pack...!“ Er war jetzt frei und konnte mit Franks Hilfe und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Zelt und vom Wagen herunterklettern, obwohl die Spitze noch in Bills Schulter steckte. Als die beiden schon eine Minute später unter den Wagen krochen, fühlten sie sich dort zumindest vorerst in Sicherheit.

      Richie hatte Schutz unter dem Fahrzeug gesucht und verfolgte das merkwürdige Geschehen um sich herum, als er den Aborigine sah. Er gab ihm Zeichen.

       „Ich bin hier unten. Los, komm her!“

       Paddy warf sich auf den Boden, rollte sich bis zum Wagen und kroch in die Deckung.

       „Wo sind Annette und Hans?“

       „Keine Ahnung.“

       „Okay. Bleib hier liegen! Hinter dem Rad bist du einigermaßen sicher.“ Richie nickte und schob sich ein Stück weiter nach hinten, bis er besser von der Achse verdeckt wurde. „Und was ist mit Annette und Hans?“ Der Ranger beobachtete konzentriert die Lage. Sie schien sich weiter zuzuspitzen. „Die müssen sich jetzt selbst helfen. Ich muss zurück.“ Er verließ seine Deckung und lief gebückt im Schatten einiger Büsche zurück zu Dianne. Blitzschnell kroch er unter das Auto, unter dem sie sich nicht gerührt hatte. Große Anspannung lag auf ihren Gesichtszügen. „Was geht hier eigentlich vor?“ Als sie ihren Liebsten wieder neben sich spürte, bemerkte der ihre Erleichterung. „Ein klassischer Überfall, Honey.“ Er deutete in eine Richtung, in der hinter angebundenen und wild ausschlagenden Ochsen angreifende Männer zu erkennen waren. „Sie haben das Expeditionslager überfallen.“ In ihrem Versteck wurden Dianne und Paddy Zeugen eines erbitterten Kampfes zwischen dem Eindringling ins Tal der Träume und einem Aborigine, der ihr Anführer zu sein schien. Dieser Schwarze schleuderte seinen weißen Feind wütend zu Boden und schrie ihn dabei an. „Du hast unsere Träume gestohlen, Mann.“ Der wehrte sich in Rückenlage, so gut es ging, gegen diesen Wütenden, der sich inzwischen auf ihn gestürzt hatte, um ihn an der Gurgel zu packen. „Und du wirst dafür sterben!“ Während der Beschuldigte mit aller Kraft versuchte, sich von seinem Angreifer zu befreien, trat ein am ganzen Körper bemalter, weißhaariger Aborigine neben ihn. Er hielt die Spitze seines Speeres auf die Brust des Weißen gerichtet und sagte etwas. Der andere Schwarze ließ von ihm ab. Erst jetzt sah auch der am Boden Liegende den erhobenen Speer, der, zum Angriff bereit, direkt auf sein Herz zielte. „Der Hüter unserer Träume...“ „Wie bitte?“ Dianne sah in Paddys versteinertes Gesicht. „Ich habe euch nichts gestohlen.“ Ohne den Blick von der Speerspitze abzuwenden, griff der Weiße suchend in seine Rocktasche und zog einen kleinen Stoffbeutel heraus. „Das hier drin sind nur geologische Mineralproben.“ Während der Alte versuchte, ihm das Säckchen abzunehmen, sah sich der Bedrängte suchend um und entdeckte sein Gewehr. Er griff blitzschnell zu und bedrohte plötzlich den Aborigine mit der geladenen Waffe. „Scher dich mit deinen Wilden zum Teufel!“ Paddy wollte aus seiner Deckung herausspringen, um diesem Wahnsinnigen das Gewehr zu entreißen, bevor er abdrücken konnte. Der Alte war zurückgewichen und holte aus, um den Speer in die Brust des Weißen zu rammen. Im letzten Augenblick gelang es diesem jedoch, dem Stoß auszuweichen. Dann zerriss ein gewaltiger Schuss die Luft, und der alte Aborigine sank langsam in sich zusammen. Seine Leute rannten laut schreiend davon, als sie sahen, was mit dem Ältesten ihres Clans geschehen war. Leblos blieb er liegen, während Kramer sich erhob und den Staub von seinen Kleidern klopfte. Nun gab es für Paddy kein Halten mehr. Mit wenigen Sprüngen war er bei dem weißen Mann, der ihn feindselig anschaute und erneut sein Gewehr spannte. Diesmal war der junge Aborigine, der so plötzlich vor ihm stand, schneller. Er entriss ihm die Waffe und schrie ihn voller Zorn an. „Du hast uns unsere Träume gestohlen und den Hüter unserer Träume getötet. Dafür wirst du sterben, Mann!“ Der Blick des Weißen schien den Aborigine durchbohren zu wollen. „Dich kenne ich doch... Scher dich mit deinen Leuten zum Teufel, du Narr!“ „Wenn du mich vor wenigen Stunden auch noch in den Staub getreten hast, dann sage ich dir jetzt: Du wirst für diese Tat sterben!“ Dianne beobachtete gebannt, wie Paddy einen herumliegenden Speer ergriff und ihn auf den Oberkörper des Mannes richtete. „Jetzt bin ich der Hüter unserer Träume. Und ich sage dir: Deine Reise endet hier!“ Dianne war entsetzt, als der Aborigine tatsächlich ausholte. „Liebster, nein, nicht! Er muss weiterleben! Es wurde schon genug Blut vergossen.“ Paddy zögerte, als er ihre Stimme hörte. Wie hypnotisiert stand er da und rührte sich nicht vom Fleck. Dianne schlüpfte aus ihrer Deckung hervor. „Du kennst doch unseren Auftrag, seinen Spuren zu folgen. Nur so werden wir wissen, wie weit er damals gekommen ist.“ Mit ausdruckslosem Gesicht ließ der Aborigine schließlich den Speer sinken. Kramer nutzte diesen Moment der Irritation, um den angerichteten Schaden zu begutachten und seine eigene Lage einzuschätzen. Paddy stand noch immer bewegungslos da. Jim war aus seinem Versteck hervorgekommen, packte seinen Kameraden und schüttelte ihn. Er reagierte nicht. „He, was ist los mit dir, Paddy Crocodile? Komm wieder zu dir, Kumpel!“ Nichts änderte sich an der Miene des Aborigine, auch nicht, als Dianne ihn liebevoll umarmte. „Komm, Liebster. Zuerst müssen wir das Vermächtnis dieses Mannes finden.“ Sie versuchte es noch einmal, indem auch sie ihn kräftig schüttelte und ihn in seiner Sprache anredete. Sie hoffte, ihn auf diese Weise zu erreichen. „Paddy Crocodile, Liebster...“ Er schaute sie jetzt mit leerem, durchdringendem Blick an, sagte jedoch keinen Ton. „Komm, wir müssen weiter! Jonathan wartet... Unser Auftrag wartet.“ „Ich werde ihm folgen, Honey. Der alte Hüter unserer Träume ist tot. Ich habe bereits seinen Platz eingenommen.“ Der Yalmangully antwortete ihr in seiner Muttersprache. „Ab jetzt werde ich die verlorenen Träume meines Volkes hüten.“ Richie und Frank hatten ihren Unterschlupf ebenfalls verlassen und standen neben Jim. Die Männer drängten Dianne zu einer Übersetzung. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, Paddy will jetzt die Träume der Aborigines bewachen.“ „Wie will er das denn machen?“ „Ganz einfach, Frank: Er ist jetzt der neue Hüter ihrer Träume.“ Jim konnte es kaum fassen, was gerade mit seinem Gefährten geschah. Aber er hatte das Gefühl, dass er mit seiner Vermutung richtiglag. „Ja, das ist er wohl.“ Diannes Worte klangen hohl. Sie wendete sich wieder ihrem Liebsten zu und sah, dass er dahin starrte, wo Kramer zuletzt gestanden hatte. Paddy ging jetzt ein paar Schritte in diese Richtung. Kramer und sein Lager mit den Tieren waren im Nirgendwo verschwunden. Die Aborigines mit ihren Verwundeten und Toten ebenso. Niemand hatte bemerkt, wie die gesamte Expedition