Claudia Karsunke

Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit


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Hier, auf der anderen Seite der Weltkugel fand sie, da war Annette sich sicher, den gebührenden Abstand zu ihrem gewohnten Leben in Deutschland. Dort hatte sich in den vergangenen Jahren sehr viel verändert und, wie nicht nur Annette feststellte, manches zu seinem Nachteil. Das Leben hatte merklich an Tempo zugelegt, und wer da nicht mithalten konnte oder wollte, war schneller draußen, als ihm lieb war. Das hatte auch Annette erfahren. Obwohl noch keine fünfunddreißig Jahre alt, zog sie es inzwischen vor, mit dem Erbe ihrer Eltern im Rücken das Leben zu genießen, einen interessanten Job zu machen und die Alltagshektik den Mitmenschen zu überlassen, soweit das möglich war. Annettes Konzept ging auf. Sie verdiente gutes Geld als Produktdesignerin. Sie war rund um die Uhr damit beschäftigt, etwas Neues zu kreieren und es von anderen auf den Markt bringen zu lassen. Egal, was ihre Auftraggeber von ihr wollten, sie schaffte es bisher noch jedes Mal, diese teilweise wirklich verrückten Vorstellungen und Wünsche auf den Punkt zu bringen und das perfekte Ergebnis zu liefern. Allerdings fühlte sie sich in letzter Zeit ausgebrannt und müde. Daher hatte sie beschlossen, erst einmal so richtig auszuspannen und Berlin für einige Wochen weit hinter sich zu lassen. Die Idee, Hans nach Australien zu begleiten, passte also wunderbar in ihr eigenes Konzept, und sie wäre töricht gewesen, hätte sie nicht zugegriffen. Geldsorgen hatte sie keine. So war nur ein Anruf nötig, um Hans mit zwei Businessclass-Tickets nach Brisbane zu überraschen, Besuchervisum inklusive. Annette schätzte es, wenn sich die Dinge, die sie sich vornahm, so reibungslos aneinanderfügten. Sie wusste sich dann immer auf dem richtigen Weg. „Kommst du jetzt bitte, Annette? Wir wollen schon mal anfangen.“ Hans stand erst wenige Augenblicke hinter ihr. Auch er genoss diesen grandiosen Ausblick auf den endlosen Horizont und den grünblauen Pazifik mit den weißen Brandungswellen, die sich in einem beinahe weißen Sandstrand verliefen. Die Sonne hatte inzwischen ihre Farbe geändert und an Kraft und Intensität so stark zugenommen, dass man den Blick abwenden musste, um die Augen vor den Strahlen zu schützen. Keine Wolke trübte diesen Himmel. „Nur noch einen Moment. Ich kann mich gar nicht sattsehen.“ Annette lehnte sich an den Körper von Hans, der seinen Arm um ihre Taille legte. Wenn er ehrlich war, dann waren es diese Sonnenaufgänge, die ihn in Australien immer besonders willkommen hießen. Wie konnte man sich diesem Naturereignis verschließen, zumal dann, wenn dieser feuerrote Ball direkt vor dem offenen Fenster aufsteigt, hinter dem man erwacht, getrennt nur durch diese unendliche Weite des Pazifiks. Ein Schwarm kreischender Möwen kreuzte die Idylle. Hans löste die Verbindung, die nur wenige Sekunden gehalten hatte. „Komm, die anderen warten auf uns.“

      Als sie das Zimmer 403 betraten, empfing Richie die beiden mit einem freundlichen Lächeln.

       „Ich glaube, wir können jetzt anfangen.“

       Annette suchte sich einen Sitzplatz, während Hans es vorzog, sich stehend an die Kommode anzulehnen. Richie begann mit seiner Vorstellung.

       „Das ist Jim Logan. Er hat unsere Ausrüstung organisiert: Die Autos, die Zelte, die Klamotten und alles, was wir im Outback an technischem Equipment benötigen werden.“

       Jim war ein typischer Australier mit einem gebräunten, drahtigen Körper und blonden, von der Sonne ausgebleichten Haaren. Er war der technische Leiter dieser Expedition. Annette schätzte ihn auf Ende Dreißig. Und er sah richtig gut aus.

       „Hi, ihr könnt mich Jimmy nennen: Organisator, Überlebenskünstler, Improvisationen aller Art. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich normalerweise als Buschpilot. Nice to meet you.“

       William Hall war der Kameramann dieser Gruppe, von der Annette nur wusste, dass sie eine gemeinsame Sache unterstützten. Dass allerdings ein Filmteam dabei sein würde, wunderte sie nun doch ein wenig.

       „Hi, jeder nennt mich Bill. Frank ist mein Assistent. Er kümmert sich um die Ausrüstung und ist zuständig für den Ton.“

       Bill war Mitte bis Ende Vierzig und machte einen sehr gestressten Eindruck, während sein Assistent in Annettes Augen sehr aufgeweckt schien und nichts anbrennen ließ. Er war wohl mit Abstand der Jüngste in diesem Team.

       „Hi...“ Ein Klopfen unterbrach Frank. Er öffnete die Tür, weil er gleich daneben stand.

       Richie lächelte erfreut, als er die Frau erkannte.

       „Hi, Dianne, schön, dich zu sehen. Wir haben dich bereits vermisst und trotzdem schon mal angefangen. Die meisten kennst du ja.“

       Eine sehr gepflegte, schlanke Person schwebte mit mehreren Papierrollen unter dem Arm ins Zimmer und legte seufzend das Bündel auf dem Tisch ab.

       „Entschuldigt bitte die kleine Verspätung. Es gab ein paar Probleme, an diese Karten zu kommen. Im Archiv hatten sie Mühe, die alten Originale überhaupt zu finden. Und dann hat es ewig gedauert, bis sie kopiert waren. Aber nun sind wir endlich komplett.“ Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich in den noch freien Sessel sinken und holte erst einmal tief Luft.

       „Für alle, die mich noch nicht kennen: Dianne Smith. Ich arbeite als Ethnologin an der Universität von Newcastle. Eigentlich schreibe ich an meiner Doktorarbeit, hänge aber zurzeit ein wenig durch. Ich dachte, dieses Abenteuer, das sich Onkel Jonathan da ausgedacht hat, bringt mich auf meinem Gebiet weiter.“ Sie ließ ihren Blick kurz in die Runde schweifen. „Oder zumindest auf andere Gedanken.“

       Dianne war unüberhörbar britischer Herkunft. Sie musste irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein. Sie war attraktiv, brünett, offensichtlich sehr gebildet und elastisch in ihren Bewegungen. Ihre distinguierte Sprache unterschied sich in ihrer Feinheit sehr von der Ausdrucksweise der Übrigen, die vermutlich alle in Australien geboren oder irgendwann eingewandert waren und diesen für Annettes Ohren recht sonderbaren Akzent hatten.

       Der Einzige, der noch nicht vorgestellt worden war, lehnte geduldig lächelnd am Wandschrank. Er war von schwarzer Hautfarbe und vielleicht Ende Dreißig. Annette konnte sein Alter nicht besonders gut einschätzen. Dafür fehlte ihr die nötige Übung. Jetzt richteten sich alle Blicke auf diesen Mann. Er war ihr wegen seiner Andersartigkeit sofort ins Auge gefallen. Irgendwie erschien es ihr typisch, dass er erst jetzt an die Reihe kam.

       „Hi, ich heiße Paddy. Paddy Crocodile. Wie ihr alle seht, bin ich ein Aborigine und trotzdem mit von der Partie. Wer ein Problem damit hat, soll sich melden, damit wir es gleich hier aus dem Weg räumen können.“ Er ließ seinen Blick im Zimmer umherschweifen.

       Außer Bill, der etwas sagen wollte, dann jedoch einen Rückzieher machte, schauten ihn alle freundlich an. Richie ergriff wieder das Wort.

       „Paddy arbeitet üblicherweise als Ranger in einem unserer Nationalparks in den Kimberleys im Nordwesten. Ich glaube, wir können sehr froh sein, dass er dabei ist. Kramer ist bei seinen Leuten alles andere als beliebt. Man gibt ihm die Schuld an ihrer Misere. Nicht wenige in seinem Volk werfen ihm sogar vor, er habe ihnen die Träume gestohlen.“ Richie schaute Paddy freundlich an, als der nickte.

       „Ich selbst sehe das ein bisschen pragmatischer. Wäre es nicht Kramer gewesen, dann wäre vermutlich ein anderer Weißer in unsere heiligsten Gebiete eingedrungen und hätte das Land der Ahnen entweiht. Gleichzeitig hätten sich dieselben weißen Siedler auf unserem seit der Traumzeit angestammten Land breitgemacht, unsere Erde und ihre Bodenschätze, die uns allen gehören, ausgebeutet. Objektiv betrachtet endete unser Traum bereits, als die ersten Briten ihren Fuß auf diesen Kontinent setzten.“

       Dianne hatte Paddys Worten aufmerksam zugehört. Sie nickte und richtete sich in ihrem Sessel auf.

       „Ich bin derselben Meinung, obwohl ich mich manchmal frage, wer uns eigentlich das Recht gab, dies alles zu tun, ohne uns der geringsten Schuld bewusst zu sein?“ Sie entspannte sich wieder. „Aber das gehört wohl eher nicht hierher. Das ist nur meine ganz persönliche Meinung.“

       Bevor Richie dieses Warming-up beendete, stellte er Hans und sich selbst noch einmal kurz vor.

       „Mich kennt ihr ja schon. Richie. Ich kenne mich in der Geschichte dieses Landes aus und habe alle Daten im Zusammenhang mit Kramer und seiner letzten Expedition dokumentiert und hier abgespeichert.“ Er tippte sich lächelnd mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Wenn das versagen sollte, gibt es da immer noch meinen Laptop, der alles Wissenswerte im Handumdrehen ausspucken wird.“ Richie machte eine kleine Pause, bevor er sich seinem Freund zuwandte.