Günter Billy Hollenbach

Die Hexe zum Abschied


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über seine Missetaten – im kalifornischen Palo Alto, etwa dreißig Kilometer südlich von San Francisco, in den 1890-er Jahren eine private Universität. Heute genießt die Stanford-University einen hervorragenden Ruf auf Gebieten wie Medizin, Mathematik oder Verhaltenswissenschaften.

      Nur in Fachkreisen bekannt ist das „Stanford Research Institute“.

      Von Mitte 1970 an wurde dort fast zwanzig Jahre lang „Remote Viewing“ entwickelt und angewendet. Das heißt soviel wie „Sehen auf Entfernung“, wurde vom Nachrichtendienst CIA finanziert und unterlag strenger Geheimhaltung.

      Was dabei getan wurde, klingt für normale Ohren reichlich verrückt.

      Ohne ihre Arbeitszimmer in Menlo Park zu verlassen, haben die Mitarbeiter, hervorragende Wissenschaftler und ein paar Hochkreative, allein mit Gedankenkraft irre Sachen vollbracht. Unter anderem haben sie gegnerische Gebäude und unterirdische, militärischen Anlagen, etwa in Russland oder China, erfolgreich „ausspioniert“. Sogar U-Boote unter Wasser und Flugzeug-Wracks im afrikanischen Dschungel geortet. Ohne Hilfsmittel wie Internet, Sattelitenbilder oder Abhörtechnik. Allein mit der Bewusstseinsenergie ihres Kopfes.

      Mehrere Jahre nach dem Ende des Projekts wurde die Geheimhaltung gelockert. Einzelne der früheren Mitarbeiter haben Berichte über ihre Erfahrungen und Arbeitsmethoden veröffentlicht und ihr Wissen in Workshops vermittelt. Joseph McMoneagles Handbücher habe ich geradezu verschlungen.

      Wohl nicht zufällig. Im Alter von acht Jahren erlebte ich nach einer lebensrettenden Operation immer wieder hellsichtige Augenblicke. Während der Pubertät erschien mir eines Nachts ein „höheres“ Energiewesen namens Cassandra. Seitdem steht sie mir mit Rat und Schutz zur Seite. Wie gesagt, ich spreche nur mit wenigen Menschen darüber. Die Welt übersinnlicher Kräfte ist für mich eine Wirklichkeit. Keine Sache des Glaubens, sondern Gewissheit.

      Bei meiner letzten Reise nach San Francisco – bei der ich unverhofft die Entführung der kleinen Janey verhindert habe – war ich Trainer für „Remote Viewing“ in einem Schamanen-Workshop. Im Alltag betreibe ich RV eher unregelmäßig und weniger gründlich als damals die Leute in Stanford. Man braucht dazu ungestörte Ruhe und ein lohnendes Ziel. Und folgt einer festgelegten Vorgehensweise. Wenn der Kopf bereit ist, wähle ich mein Ziel und schicke meine Bewusstseinskraft auf die Reise ins Universum.

      Nach einer Weile erwartungsvoller Aufmerksamkeit flackern erste Empfindungen und Bildbruchstücke hinter der Stirn auf. Beim dritten oder vierten Anlauf gewinnt das Ziel Form, eine Landschaft, ein Berg oder ein Gebäude. Ich rieche die Luft, höre Hintergrundgeräusche, spüre, ob es dort warm oder kalt ist. Nebenbei schreibe ich auf ein Blatt Papier, was ich sehe, höre und fühle. Skizziere mit einem Bleistift, was ich sehe.

      Aus Selbstachtung und Ehrfurcht vor dieser wunderbaren Fähigkeit mogele ich nicht. Manchmal bin ich überrascht von der hohen Zuverlässigkeit der Ergebnisse. An anderen Tagen kriege ich so gut wie keine brauchbaren Eingebungen zustande, nur einen kleinen Teil des Ziels oder ein ganz falsches Bild. Den Stanford-Leuten ging es ähnlich.

      *

      Den Ort des Ziels zu kennen erleichtert das „Remote Viewing“. Corinna nach Frau Dr. Neskovajas Adresse zu fragen war mir nicht in den Sinn gekommen. Im Telefonbuch findet sich kein Eintrag dazu.

      Probieren wir, ob es auch ohne Adresse etwas bringt.

      Ich ziehe den violetten Vorhang in Monas Zimmer zu und lasse mich in der Kniehocke auf der Dojo-Matte nieder; erwartungsvoll, beinahe aufgeregt. Nach mehreren Minuten beständigen Atmens wird es ruhiger in meinem Kopf. Zunächst tauchen immer wieder Mona-Eindrücke auf; Bildfetzen ihres Gesichts und Schnipsel mit Sprach- oder Lachtönen. Ich atme gezielt Energie in mein Drittes Auge, bis es still wird in mir.

      „Cassandra, I need your help“ (ich brauche deine Hilfe).

      Prompt erhalte ich die vertrauten Antworten. Ein kreisendes Druckgefühl oberhalb meiner Augenbrauen, tief-dunkelblaue Augen, die vor meiner Stirn erscheinen. Wir sprechen immer Englisch miteinander.

      Cassandra: „I am here. What do you want?“

      „Bitte führe mein Drittes Auge beim RV).

      Cassandra: „You got it. Please name your target?”

      „Lass mich sehen, was Dr. Neskovaja am vergangenen Donnerstag nachmittags in ihrer Wohnung zugestoßen ist.“

      Cassandra: „Be patient. Trust me.“

      Beinahe schlagartig erfasst mich ein Schwindelgefühl.

      Als würde ich ohnmächtig.

      Ich breche den Vorgang erschrocken ab, atme tief, überlege. Das Ohnmachtgefühl kann vom Ziel herkommen. Das wäre es ein Hinweis auf das, was der Ärztin geschah. Es braucht einige Übung, solche scheinbar nebensächlichen Empfindungen zu erfassen und zu beachten. Sie können wertvolle Anhaltspunkte liefern. Nach einer Pause tiefen Atmens wiederhole den geistigen Anflug auf das Ziel.

      „Remote Viewing“ liefert keine Bilder, die klar und vollständig wie Fotos oder Fernsehen erscheinen. Nur ganz selten springen sofort erkennbare Bildausschnitte ins Bewusstsein. Mit Übung lernt der Kopf, in dem inneren Rauschen Linien und Flächen zu erkennen oder Vorder- und Hintergrund zu unterscheiden. In der Wiederholung fügen sich Umrissen zu Gestalten zusammen. Das erfordert Geduld und gelassenes Vertrauen auf die Energieleistung des Kopfes.

      „Bitte zeige erneut, was ist Frau Dr. Neskovaja am vergangenen Donnerstag in ihrer Wohnung zugestoßen?.“

      Kaum ist der Satz in Gedanken beendet, höre ich in mir einen lauten, hellen, aber tonlosen Schrei – wie in Entsetzen, Panik oder Todesangst. Mir ist, als zieht mich eine unsichtbare Kraft ruckartig zurück, weg vom Ort des Geschehens. Einen Augenblick später merke ich, das Atmen fällt mir ungewöhnlich schwer; die Handflächen sind schweißnass.

      Die Verbindung zum Ziel ist abgerissen.

      Aber der Nachklang des Schreis und Spuren der panischen Angst schwingen weiter in mir. Ich lasse die Augen geschlossen, atme mehrmals tief durch.

      „Danke, Cassandra. Bitte noch einmal, ganz vorsichtig.“

      Sofort ertönt wieder dieser Schrei, gut hörbar und dennoch tonlos. Sekunden später treten schräg verlaufende, rote Linien hervor. Ihr Untergrund wird hellgelb, hautfarbig beige.

      Ein inneres Wissen bestätigt: Haut und darauf Blut; das kann nur Blut sein.

      Zum Neubeginn muss man den vorigen Bildeindruck möglichst vollständig löschen. Dazu bewege ich eine Art geistigen Scheibenwischer quer über meinen inneren Bildschirm.

      „Bitte schau erneut hin, jetzt mit mehr Abstand.“

      Mehrere ungewisse Sekunden. Dann erkenne ich etwas Hellgraues, das sich nach und nach als zwei breite, silbern glänzende Bögen abzeichnet. Dazu kommt mir das Wort Füße in den Sinn. Deren Umrisse erscheinen rechts unter den silbergrauen Bögen. Fußfesseln?

      Pah, das ist beachtlich.

      Und anstrengend.

      Wieder das vorige Bild löschen; atmen.

      „Thank you. Bitte bewege dich höher.”

      Sogleich erscheinen wieder die rot verlaufenden, blutigen Bahnen.

      Ich weiß nicht, wie diese Eindrücke entstehen. Jedenfalls denke ich unvermittelt: Das Zimmer muss abgedunkelt sein, die Vorhänge sind geschlossen. Zusätzlich spüre ich mit Gewissheit. Da ist nur eine Person, die Frau, anwesend. Begleitet von der Empfindung, dass die Frau statt auf einem Bett schräg in einem sesselähnlichen Stuhl liegt.

      Womöglich ihr Schrei des Erschreckens, als sie zu sich kommt.

      Während dieser RV-Sitzungen verliere ich jedes Zeitgefühl; eine Stunde vergeht wie nichts. Erneut atmen und das vorhandene Bild vom geistigen Bildschirm löschen.

      „Bitte geh zurück zu der Zeit, als die Frau in den Raum kommt.“

      Augenblicklich ertönt