Günter Billy Hollenbach

Die Hexe zum Abschied


Скачать книгу

so; wie eben auf der Brücke. Aber jetzt wird es anders. Ganz langsam, völlig entspannt, gehen Sie jetzt zurück bis vorige Woche Donnerstag Nachmittag. Wir können jederzeit aufhören. Alles geschieht nur im Kopf. Jetzt sitzen Sie in Ihrem Auto und fahren nach Hause. Lassen Sie sich Zeit.“

      „Oh ja, geht gut. Fahre ich vor meine Garage neben unserem Haus.“

      „Sehr gut, langsam, ganz entspannt. Tun Sie jetzt genau das, was Sie anschließend gemacht haben, okay?!“

      „Motor aus, jetzt Handbremse. Dann mache ich Autotür auf.“

      „Haben Sie Ihre Tasche?“

      „Ja, ja, ja, Handtasche und Buch, sind neben mir, nehme ich jetzt, Autotür geht auf, Schlüssel fällt auf die Erde. Ich bücke und hebe den Schlüssel auf.“

      „Sehr gut, genau so, jeden Schritt weiter.“

      Ein wenig vorgebeugt, halb sitzend, halb stehend, stützt sie die Arme seitwärts wieder auf das Bett, atmet mit geschlossenen Augen regelmäßig und ruhig. Ich winkele meine Beine stärker an, bin sprungsbereit, falls sie unwillkürlich nach vorn oder zur Seite rutscht. Doch sie steht ruhig da, hat einen beinahe zufriedenen Gesichtsausdruck.

      „Jetzt weiter vor unser Haus, wenige Schritte, gehe ich zwei Stufen, an die Haustür.“

      „Sehr gut. Können Sie das Türschloss sehen?“

      „Nicht Türschloss. Meine Schlüssel. Muss ich immer suchen mit viele Schlüssel, bis ich passenden Schlüssel ... jetzt ist der richtige Schlüssel, jetzt sehe ich Türschloss, drehe Schlüssel, Tür geht ...“

      Sie bricht unvermittelt ab. Ihr Kopf ruckt ein wenig hoch.

      „Ganz ruhig, alles ist nur im Kopf. Was ist das? Was sehen Sie ...?“

      Frau Neskovaja macht große runde Augen.

      „Nein, anders. Sticht, es sticht ...“

      Sie schließt die Augen wieder, hebt den rechten Arm, deutet mit dem Zeigefinger in den rechten hinteren Nackenbereich.

      „Da, das ist typischer Schmerz wie von einen Stich, ...“

      Sie reißt erneut die Augen auf, schaut mich entgeistert an.

      „Injektion, ist Schmerz wie Injektion hier oben, hinten. Mein Gott, nein!“

      „Bitte, nur noch eine Sekunde, Frau Neskovaja. Schließen Sie noch einmal die Augen, genau wie eben, wie Sie den Stich spüren. Ganz kurz, ist schnell vorbei. Geht das?“

      Sie dreht den Kopf wieder nach vorn und senkt die Augenlider.

      „Fühle ich den Stich noch einmal. Dunkel kommt über meine Hand am Türgriff. Nichts mehr. Alles weg.“

      „Sehen Sie eine Person?“

      „Nein, plötzlich nur Angst in der Brust, große Angst!“

      „Aus, vorbei! Vergangenheit. Vergessen Sie es, kommen Sie hierher, machen Sie die Augen auf!“

      Neben der Haustür steht Grün, ein Gebüsch, sagt sie wie etwas außer Atem. Die Person hat dort gewartet, bestimmt. Frau Neskovaja schaut mich erstaunt, ein wenig verwirrt, an. Ähnlich mag sie aussehen, wenn sie aus dem Schlaf erwacht.

      „Fertig, Frau Neskovaja. Wir hören auf damit, okay?!“

      „Ja, gut. Ich werde mit Herr Dr. Teng sprechen. Das ist sehr gute Methode. Geht genau wie Tao für ein starkes Gedächtnis. Vielen Dank.“

      „Und bitten Sie ihn, am Hals nach der Einstichstelle zu suchen. Das wäre der beste Beweis, wie gut Ihr Gedächtnis arbeitet.“

      „Will ich fragen. Ich kann Niko, den Krankenpfleger fragen.“

      Am liebsten hätte ich selbst nach dem Einstich gesucht, halte aber den medizinisch gebotenen Abstand.

      „Augenblick, es geht noch weiter. Wir wissen jetzt, jemand hat Ihnen etwas gespritzt, und Sie sind sofort bewusstlos geworden, richtig?“

      Sie sieht mich immer noch mit erstaunten Augen an, nickt langsam.

      „Ja, ist richtig. Muss so gewesen sein.“

      „Gut. Jetzt stehen wir zwei wieder auf der Brücke und schauen hinab auf den Güterzug. In einem Wagen ist der Stich. Sie sind Ärztin. Sie kennen sich aus mit so etwas. Sie sehen die Injektion dort unten und überlegen ganz sachlich: Welches Medikament bewirkt in kurzer Zeit diese Art der Bewusstlosigkeit?“

      Sie zieht die Augenbrauen zusammen.

      „Typische Reaktion ist bei schnellen Blutdruckabfall, Senkung von Blutdruck. Gibt es Medikament wie Bisopolol und noch andere.“

      Sie hebt ihre rechte Hand erschrocken vor den halboffenen Mund.

      „Was ist? Sagen Sie, was Sie denken.“

      „Muss die Person ... Man muss medizinische Kompetenz haben für diese Art Angriff ... und Beziehung zu Medikamentenbeschaffung.“

      „Was bedeutet das?“

      Sie zögert mit der Antwort.

      „Das weiß ich nicht. Kann bedeuten, jemand aus Nordwest-Klinik hat das getan.“

      Sogleich schüttelt sie zweifelnd den Kopf.

      „Ich glaube nicht. Niemand da tut das. Niemand da ist mein Feind. Man kann nicht alle als Freund haben. Manchmal gibt es Streiterei. Aber nicht böse wie so etwas. Habe ich nur eine wirklich gute Freundin; in Gynäkologie, ist Frauenärztin. Wir sind alle normal gute Kollegen. Nein, ich glaube nicht.“

      „Gut, Frau Neskovaja, Ende des Kopfzerbrechens. Darf ich Ihnen meine Visitenkarte hier lassen? Wenn Sie wollen, machen Sie die Gedächtnisübung noch einmal. Aber nur, wenn Sie Lust haben. Vielleicht entdecken Sie weitere Dinge, die hilfreich sind.“

      „Ja, bitte, legen Se Visitenkarte auf das Yoga-Kissen.“

      „Sind Sie damit einverstanden, dass ich mit meiner Frau, Hauptkommissarin Sandner, über das sprechen, was wir entdeckt haben?“

      „Selbstverständlich, können Se machen. Hoffentlich hilft es Polizei.“

      „Haben Sie noch einen Augenblick Zeit? Weil ich noch zwei Fragen stellen möchte?“

      „Habe ich Zeit hier. Bitte, Se können fragen.“

      „Als Sie an dem Tag morgens zur Arbeit gefahren sind, waren die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer offen oder ...“

      „Waren offen, weil es noch dunkel war draußen, vier Uhr morgens.“

      „Danke. Für die zweite Frage sind wir jetzt wieder auf der Brücke über der Eisenbahn. Von hier oben sehen Sie einen Güterwagen, darin diese Frau, sie sieht aus wie Sie. Sie ist gefesselt. Sie beobachten von hier oben. Schauen Sie nur kurz hin. Wenn es unangenehm wird, sofort aufhören. Aber Sie können das, Sie sind geschützt und sicher, die ganze Zeit hier oben auf der Brücke.“

      Frau Neskovaja hält den Kopf leicht gesenkt und nickt in kaum sichtbaren Bewegungen. Sie atmet langsam, lauter als vorher, aber gleichmäßig. Soweit verkraftet sie die Reise „zurück“ ganz gut.

      „Jetzt erkennen Sie, wie die Frau dort unten aus der Ohnmacht aufwacht und sieht, wie sie daliegt. Sie sehen von hier oben, was die Frau dort unten sieht. Wie waren die Füße der Frau gefesselt? Sie können das sehen von hier oben.“

      Frau Neskovaja antwortet beinahe leidenschaftslos:

      „War breites Plastikband, zum Kleben, hellgrau. Auch auf dem Mund. Hände waren mit Metallringen zusammen, ähnlich wie von Polizei, hinten auf dem Rücken.“

      „Sehr gut. Ihr Gedächtnis arbeitet immer besser.“

      Sie öffnet die Augen, lächelt verlegen.

      „Geht wirklich gut. Ist jetzt viel weniger Angst. ... Nur wenn ich erinnere, zuerst, mit brennende Schmerzen,