Günter Billy Hollenbach

Die Hexe zum Abschied


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Brücke verschwunden. Das ist vorbei. Ihr Kopf versteht das, wenn Sie genau jetzt ... hinabschauen! Jetzt sehen Sie völlig neue Wagen, mit Herrn Dr. Teng, richtig?! Und wenn Sie noch ein wenig länger schauen, kommt so ein neuer Wagen und Sie sehen darin eine Frau, die aussieht wie Sie und ganz geheilt ist. Der Wagen kommt immer näher, Sie sehen ihn und es geht Ihnen immer besser, weil Sie sehen, wie Sie gesund werden.“

      „Danke sehr, ich verstehe. Mein Kopf kann lernen, von oben auf das Erlebnis schauen und sehen, wie es verschwindet. Ich muss üben.

      Und ich erkläre Herrn Dr. Teng die Methode mit Brücke. Die wird er bestimmt gern haben. Vielen Dank.“

      Sie zögert.

      „Aber bitte, Se können mir glauben, das waren nicht meine Metallbänder und Sex-Sachen. Die Polizei denkt, ich arbeite wie Call-Girl, neben dem Beruf als Ärztin. Total falsch, wirklich. Denkt Ihre Frau auch?“

      „Nein, ganz sicher nicht, Frau Neskovaja.“

      „Weil, ein Call-Girl, verstehen Se, ist kein guter Mensch. Und selber schuld, wenn das passiert. Denken dumme Leute.“

      „Unsinn. Schuld ist die Person, die den Überfall getan hat, niemand anderes. Das weiß meine Frau genau. Natürlich berichte ich ihr, was wir herausgefunden haben.“

      „Und bitte sagen Se ihr: Auch Prostituierte sind gute Frauen. Ich habe gesehen Patientinnen mit gebrochene Nase oder Arm. Meisten sind ganz liebe Frauen und haben keine Schuld mit Verletzungen sondern ... leider sprechen nicht viele darüber. Nicht mit der Polizei.“

      „Frau Sandner und Frau Conrad wissen das, ganz bestimmt.“

      Als sie mir unsicher zulächelt, sehen ihre Augen ein wenig kleiner und ihr Gesicht etwas breiter aus. Wie ein russisches Mädchen vom Lande mit einer herzensguten Seele, geht mir durch den Kopf. Sie wirkt ein wenig verloren, holt tief Luft und stellt halblaut fest:

      „Wenn sie ein ehrliches Herz hat, dann wird sie verstehen.“

      Ich kann nur stumm nicken.

      Bei Aufstehen von dem Yoga-Kissen fällt mir die letzte Frage ein.

      „Sie wissen: Menschen hören andauernd und verstehen, was gesprochen wird, auch im Schlaf.“

      „Ich weiß, habe ich gelernt, sogar Menschen im Koma können hören.“

      „Genau das meine ich. Deshalb: In der Zeit, als die Frau gefesselt und bewusstlos war, hat sie trotzdem etwas gehört. Hat sie eine Person gehört oder zwei? Einen oder zwei Angreifer?“

      „Ich ... ich weiß nicht. Ich ... die Frau ... wie ich ... hat kein Bewusstsein ... sie kann nicht ...!“

      „Doch, ganz sicher, sie kann! Sagen Sie ihr: Sie muss sich erinnern, weil sie kann!“

      „Ist möglich zwei?! Nein ... ich weiß nicht, will ich nicht falsch sagen. Kann sein zwei; ich weiß einfach nicht. Entschuldigung, Herr Berkamp, wollen wir jetzt aufhören, bitte?“

      „Na klar. Ich danke Ihnen für die Geduld. Sobald unschöne Erinnerungen hochkommen, gehen Sie im Geist auf die Brücke und schauen von oben darauf. Versprechen Sie mir das?“

      „Ja, kann ich tun.“

      „Gut; Sie haben meine Visitenkarte. Für Sie wirklich gute Besserung; ganz schnell. Alles Gute.“

      „Vielen Dank für Ihren Besuch ... Wenn Se neues Wissen haben über den Täter, vielleicht waren doch zwei, bitte kommen Se wieder. Nachmittags geht leicht. Können wir in Ruhe sprechen.“

      „Gerne, mache ich, Frau Neskovaja. Auf Wiedersehen.“

      21

      Ich bin gehörig aufgedreht.

      Das Gespräch hat wertvolle Hinweise erbracht. Kaum sitze in meinem X-3, gehe ich an die Nacharbeit. Seit Jahren pflege ich eine zuverlässige Gedächtnistechnik. Entspannt sitzend stelle ich mir schräg oben in meinem Kopf einen hellblauen Vorratsraum vor. In den werfe ich alle Gedanken, Stichwörter, Bilder, Gefühle zu einem bestimmten Thema hinein. Anschließend betrachte ich in einem schnellen Zwischenschritt noch einmal alles, was ich in den Gedankenraum getan habe. Am Ende erteile ich ihm den Auftrag, alles sorgfältig aufzubewahren.

      Auf dem Heimweg durch Kronberg kaufe ich Benzin, die für die Woche fälligen Lebensmittel sowie – als Streicheleinheiten für die Seele – mehrere Tafeln extraschwarze Schokolade.

      Zuhause erwartet mich eine kleine Überraschung.

      Frau Dr. Neskovaja hat bereits zurückgerufen. Ihre ausführliche Nachricht auf dem Anrufbeantworter klingt fast ein wenig atemlos, jedenfalls sehr erfreut. Der Inhalt kommt nicht unerwartet.

      ... Und stellen Se sich vor, Assistent Niko hat mit einer Lupe gesucht und einen Stich von Injektion entdeckt ... tatsächlich ... rechts hinten am Hals, wo ich gezeigt habe. Vor allem haben Se mir eine wilde Löwin in den Kopf gesetzt, sehr schön und sehr stark. ... Mit Stehen auf der Brücke und Hinabschauen auf meine Vergangenheit. Habe ich jetzt probiert mit vielen Dingen von früher, unglückliche Liebe mit ersten Freund und später Verlassen meiner Heimat nach Deutschland. Viele Sachen sind immer noch traurig, aber jetzt besser zum Lachen und zum Verstehen. Bald bin ich selber starke Löwin. Und bitte Entschuldigung noch einmal ...

      Inzwischen ist sie sicher, von zwei Personen überfallen worden zu sein, obwohl sie das nur fühlen, aber nicht beweisen kann.

      Zum Schluss nennt sie ihre Frankfurter Adresse und schlägt vor, mit Nachbarn im Haus zu sprechen. Vielleicht sagen die mir mehr als der Polizei, wenn ich so hilfreich frage wie bei ihr.

      Beim zweiten Abhören der Nachricht wird mir warm ums Herz. Ungekünstelt, anrührend lieb, was da aus dem Gerät klingt. Wenn ich der Frau ein wenig Gutes tun konnte, hat sich die Fahrt nach Königstein vielfach bezahlt gemacht. Diese Art Coachen mache ich besonders gern: ungeplant, beiläufig im Alltag und – zumindest in diesem Fall – einigermaßen zufriedenstellend; für beide Beteiligte.

      Manche Tage vergehen viel zu schnell.

      *

      Eine Stunde gelassene Betätigung an der Kraftmaschine, duschen, schon ist es Zeit für das Abendessen. Am liebsten hätte ich mich gleich in die Aufbereitung meiner Nachforschungen gestürzt. Doch ich bezwinge die Ungeduld, esse bewusst langsam, gestehe mir selbst: Okay, ich bin ein Ordnungsfanatiker. Mona würde begeistert zustimmen.

      Wenn ich esse, dann esse ich.

      Statt der Fernsehnachrichten schalte ich – endlich – die Musikanlage ein. Zum leisen Klang von Meeresrauschen, einem Pott grünem Tee und einem Riegel Schokolade throne ich am Schreibtisch und kritzele alles, was in meinem hellblauen Gedächtnisraum herumgeistern, auf mehrere Blatt Papier. Das geht fast so leicht wie das Abschreiben der Stichwörter von einer Tafel vor mir, braucht nur Sorgfalt, um leserlich zu bleiben.

      Der wichtigste und spannendste Teil geschieht anschließend. In Gedanken setze ich das bisher Bekannte zusammen wie zu einem Theaterstück.

      Arbeitstitel: Überfall auf Frau Neskovaja.

      Vorhang auf. Wir stehen im Geist zwei, drei Meter vor der Haustür.

      Die Frau erreicht die Haustür, jemand tritt neben sie, verpasst ihr eine Spritze in den Nacken; das Zeug muss ziemlich schnell gewirkt haben. Angreifer schnappt Frau und Türschlüssel, trägt sie durch die geöffnete Tür in den Flur ... Spätestens hier wird die Geschichte von selbst holprig, immer weniger überzeugend.

      Es muss eilig gehen. Welcher Angreifer schafft es, eine ohnmächtige Frau mit mindestens durchschnittlichem Körpergewicht aufzufangen, zu halten und gleichzeitig die Haustür zu öffnen? Oder die Treppe hinauf zu tragen? Wie viel Zeit vergeht oben mit dem Finden des passenden Schlüssels, dem Aufschließen der Wohnungstür? Wie bringt Angreifer Injektionsspritze und Sex-Spielsachen hoch in die Wohnung? In einer Jackentasche – schwer vorstellbar. Er muss einen Beutel, eine Tasche