Matthias Hahn

Wächter des Paradieses - Teil 3


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begleiten. Der Franzose übernahm sofort die Initiative und spielte seine naturgegebene Begabung gegenüber dem schwachen Geschlecht aus. Nach lediglich acht Minuten und zweiunddreißig Sekunden hatte er nicht nur erreicht, dass die junge Beamtin den Brief weiterleitete, ohne die Freunde länger mit Protokollen und Fragen aufzuhalten, sondern er hatte auch ganz nebenbei ein baldiges Rendezvous mit der Hübschen vereinbart.

      Dennoch zeigte Richards Uhr schon beinahe auf drei, als sie endlich Yssingeaux verließen. Sie beschlossen, diesmal über Angoume zu fahren, wo sich die Einwohner hoffentlich ein wenig zugänglicher gegenüber ihren Fragen zeigen würden als in Vieaux.

      „Und warum fahren wir nischt zuerst zu diesen Fingern des Teufels, bauen dort unsere Zelte auf und besuchen Angoume danach?“, schlug Victor vor.

      „Weil wir einen Fußmarsch von mindestens anderthalb Stunden vor uns haben, bis wir zu den Teufelsfingern gelangen“, erklärte Richard.

      „Oh“, stöhnte Victor und betastete schwer atmend seinen Bauch. „Ein Fußmarsch. Das ’at mir niemand gesagt. Es wird Zeit, dass ihr mir endlisch erklärt, um was es ’ier eigentlisch geht.“

      Als sie schließlich nach einer abenteuerlichen Fahrt über enge, verschlungene „Straßen“, gegen halb fünf in Angoume angekommen waren, fühlte sich Victor ausreichend informiert.

      Er übernahm es, sich im Dorf nach den Rätseln dieses Landstrichs zu erkundigen. Anfangs wirkten die Bewohner ähnlich reserviert und misstrauisch wie in Vieaux: Auch hier wurden Fensterläden geschlossen und Kinder von der Straße geholt. Aber dank Victors Charme begannen dann doch wenigstens einige ältere Frauen aufzutauen und über den Fluch, der über dem Garten der Feen lag, zu berichten. Sie erzählten von Hexerei, von einem Hirten, der vor über fünfzig Jahren bei den Fingern des Teufels einer überirdisch schönen Frau begegnet und daraufhin dem Wahnsinn verfallen sei, von merkwürdigem Ungeziefer, das immer wieder ihren Schaf- und Ziegenherden zusetzte, und natürlich davon, dass man diesen Ort besonders bei Voll- und Neumond meiden sollte, falls man an seinem Leben hing.

      „Kommen Schie mit, wenn Schie unsch nicht glauben“, forderte sie ein älterer Mann auf, der sich hinzugesellt hatte. „Ich tscheige Ihnen mein Muscheum.“

      „Ein Museum?“, wiederholte Richard ungläubig.

      „Ja, mein Privatmuscheum. Kommen Schie!“

      Das „Museum“ entpuppte sich als Scheune, in der an einer der Seitenwände zwischen Heu und Strohballen einige seltsame Relikte aufgebaut waren, Überreste sowohl pflanzlicher als auch tierischer Natur.

      „Hier, diesche Unkräuter, die habe isch letschtes Jahr in meinem Feld am Waldrand gefunden.“ Der „Museumsführer“ holte einige Gräser von der Wand. „Die schind nicht von Gott erschaffen worden. Ich kenne mich ausch mit der Natur.“

      „Tripsicum?“, wandte sich Richard an Theo.

      „Tripsacum“, korrigierte dieser. „Oder Andropogon. Auf jeden Fall eine amerikanische Art. Der Mann ist ein guter Beobachter.“

      „Und dasch hier“, fuhr ihr Führer fort und drückte ihnen einen Glasbehälter in die Hand, der ein großes, halbverfallenes Insekt umhüllte, „dasch schieht ausch wie ein Graschhalm, ischt aber ein Tier, dasch in der Schintflut umgekommen ischt.“

      „Eine Stabheuschrecke“, flüsterte Theo aufgeregt. „Das ist unmöglich. Gibt es hier einen Insektenzoo in der Nähe?“

      Victor übersetzte die Frage. Der Besitzer des „Museums“ sah aus, als wüsste er mit dem Begriff „Insektenzoo“ nicht das Geringste anzufangen.

      „Haben Sie noch mehr ungewöhnliche Insekten gefunden?“, wollte Theo dann wissen, und Victor übersetzte bereitwillig.

      Der Bauer schob einen Strohballen zur Seite. Darunter kamen noch weitere schlecht präparierte Tiere zum Vorschein, die sich in unterschiedlichen, meist fortgeschrittenen Stadien des Zerfalls befanden. Aber selbst die wenigen noch einigermaßen erhaltenen Exemplare reichten aus, um die Freunde in großes Erstaunen zu versetzen. Neben größeren und kleineren Spinnen lagen ein schillernder Käfer, ein gigantischer Hundertfüßer und zwei riesige Nachtfalter in ihren Behältern.

      Der Besitzer der Sammlung zeigte auf eine der großen Spinnen. „Die hier hat meine Frau gebischen. Drei Tage lang konnte schie schich kaum bewegen.“

      „Eine Vogelspinne“, erklärte Theo. „Hätte ich nur ein Bestimmungsbuch über die südamerikanische Faunenprovinz mitgenommen.“

      „Und all diesche Viecher kommen von den Fingern desch Teufelsch“, behauptete der Bauer.

      „Waren Sie jemals dort?“, erkundigte sich Tabea.

      „Nein, ich würde mich niemalsch an dieschen verfluchten Ort wagen. Aber ich habe einen Acker nicht weit davon, direkt am Waldrand. Und auscherdem gehe ich oft im Wald schpatschieren, natürlich nur tagschüber und nie bei Voll- oder Neumond. Da habe ich dasch allesch gefunden, all diesche Kreaturen desch Teufelsch.“

      Das begeisterte Feuer eines fanatischen Sammlers glänzte in den Augen des Mannes. „Aber nun werde ich euch etwasch tscheigen, wasch ich noch nie einem anderen Menschen getscheigt habe“, kündigte er an. „Esch ischt der Drache.“

      „Ein Drache?“, wiederholten Tabea und Victor gleichzeitig.

      Der Bauer nickte bedeutungsvoll und räumte einige weitere Strohballen beiseite. Schließlich zog er ein Stück Wirbelsäule mit langen, gebogenen, unten zusammengewachsenen Rippen hervor. „Dasch ischt ein Schtück vom Schwantsch desch Drachen“, raunte er und drückte die Knochen Victor in die Hand, der sie rasch an Theo weiterreichte.

      Der Biologe hielt den Atem an. „Eine Schlange“, flüsterte er, „wahrscheinlich eine Riesenschlange.“

      „Südamerikanisch?“

      „Kann sein.“

      „Wasch hat er geschagt?“, fragte der Bauer neugierig. Victor übersetzte ihm Theos Deutung.

      „Unmöglich. Dasch ischt doch keine Schlange“, protestierte der Alte. „Dasch ischt viel tschu grosch dafür. Dasch ischt ein Schtück vom Schwantsch einesch Drachen, scho wahr ich hier schtehe!“

      „Unser Freund hier ist immerhin ein Experte von der Universität“, griff Tabea in die Diskussion ein.

      „Ekschperte?“, fragte der Bauer spöttisch und griff in das Stroh. „Und wasch ischt dann dasch da?“

      In seinen Händen lag ein gewaltiger, klobiger Unterkiefer mit einem einzigen stumpfen Zahn. Theo riss den Knochen an sich und betrachtete ihn mit offenem Mund.

      „Und? Was ist das?“, wiederholte Richard neugierig die Frage des Bauern auf Deutsch.

      „Ich weiß es nicht“, gestand Theo. „Das ist mir völlig unbekannt.“

      „Vielleicht ein Bär?“, schlug Richard vor.

      „Das ist kein Raubtier.“ Theo schüttelte entschieden den Kopf. „Es ist auf jeden Fall ein Pflanzenfresser. Und ein Säugetier, kein Reptil. Die Rippen haben mit diesem Unterkiefer nichts zu tun.“

      Richard beobachtete das Gesicht des Bauern, als Victor diesem die Aussagen Theos übersetzte. Dem Besitzer der Knochen war es überhaupt nicht recht, dass seine Drachentheorie von dem Vertreter der Wissenschaft nicht bestätigt wurde.

      „Es ist auf jeden Fall ein wichtiger Fund“, versuchte Richard zu trösten.

      „Hat der Mann noch mehr Knochen?“ wollte Theo wissen. Victor übersetzte.

      „Noch einen“, teilte der Mann ein wenig eingeschnappt mit. „Aber der ischt gantsch bestimmt von einem Drachen.“ Mit diesen Worten enthüllte er eine gewaltige Klaue und überreichte sie Theo. Der Fund hatte die Ausmaße von Richards Unterarm.

      „Welchesch Tier auscher einem Drachen hat eine scholche Klaue, hä?“, trumpfte der Bauer herausfordernd auf.

      „Das