Matthias Hahn

Wächter des Paradieses - Teil 3


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und genoss die famosen Sägekünste des Franzosen. Kurz darauf öffnete Tabea den Eingang und warf ihren Schlafsack neben Richard.

      „Das ist ja unerträglich“, schimpfte sie. „Wie soll man so etwas aushalten?“

      „Möchtest du Ohropax?“, bot Richard mit sanfter Stimme seine Hilfe an.

      „Hast du noch welches übrig?“

      „Für dich immer.“

      „Danke, du bist ein Schatz.“

      „Entschuldigung wegen vorhin.“

      „Ebenfalls Entschuldigung.“

      „Küsschen?“

      „Küsschen.“

      *

      „Da ist sie.“ Sie standen vor dem Zelt und Theo zeigte auf eine Gestalt, die in sanftem, orangefarbenem Licht schimmerte.

      „Sie winkt mir zu“, raunte Theo mit seltsam verhallender Stimme. Richard wusste instinktiv, dass er sich in einem Traum befand. In Theos Traum. Die Lichtgestalt schwebte vor dem Turm, der in voller Höhe vor den schwarzen Basaltfelsen aufragte. Engelsflügel entwuchsen ihrem Rücken. Waren sie für das Schweben verantwortlich? Ihr Gesicht wirkte undeutlich, verschwommen, doch Richard wusste, wer sie war. „Angila“, flüsterte er. Er schaute sich um, aber Theo war verschwunden. Langsam ging Richard auf die Gestalt zu. Je näher er kam, desto deutlicher kristallisierte sich das Gesicht der Erscheinung heraus. Die Flügel wurden kleiner und flossen in den Körper zurück, ihr Haar, erst golden, verwandelte sich in helles Silber, bis das Wesen ganz seiner Schönen glich, so wie er sie in seinem Fiebertraum erblickt hatte. Sie öffnete die Arme, Richard streichelte ihr Gesicht, dann umfasste er sie. Ihr Körper fühlte sich anders an als damals, stellte er irritiert fest. Sie löste sich aus seiner Umarmung und berührte die feine Narbe an seiner Wange, die in dumpfem Schmerz pochte. Leise begann sie ihre wunderschöne Melodie zu singen, und der Schmerz verebbte. Dann küssten sie sich, und plötzlich befand er sich an der Grabungsstätte bei Edirne. Er sah das volle Mondlicht vom Himmel leuchten, sie warfen sich auf den Boden und wälzten sich den Hang hinunter, bis der Schrei des Raben ihr Liebesspiel beendete. Da begann sie sich aufzulösen, dematerialisierte sich buchstäblich in seinen Armen. Er vernahm ein Lachen, nicht hell wie klingende Glocken, vielmehr war es eine Altstimme, verführerisch, aber ihm unbekannt. „Du nicht!“, verkündete die Stimme. „Nein, du nicht!“ Dann sah er, wie sich auch die Landschaft aufzulösen begann, und wieder konnte er ihr Lachen hören, das nun beinahe drohend klang. „Angila!“, rief er verzweifelt, doch das finstere Lachen übertönte sein Rufen.

      Schweißgebadet schreckte er hoch. Er saß in seinem Zelt. Neben ihm lagen Theo und Tabea, letztere mit offenen Augen.

      „Hast du geträumt?“, fragte sie mit Sorge in ihrer Stimme.

      „Ja“, murmelte Richard, stand auf und ging nach draußen. Tief sog er die frische Nachtluft ein. Die Sterne wirkten nun noch blasser, von einigen hauchdünnen Federwolken zusätzlich in ihrer Leuchtkraft eingeschränkt. Wie die Krallen eines vorzeitlichen Ungetüms grüßten die Teufelsfinger herüber.

      Was war geschehen? Was bedeutete dieser Traum? Was war das für eine Stimme gewesen? Richard konnte sich nicht erinnern, sie jemals vernommen zu haben. War es die wahre Stimme der Angila?

      Richard zuckte zusammen, als er eine Berührung an seiner Schulter spürte. Es war Tabea, die ihn teilnahmsvoll betrachtete.

      „Wer ist diese ‚Angila’?“, wollte sie wissen.

      Richard starrte sie nur an.

      „Du hast im Traum ‚Angila’ gerufen“, beantwortete Tabea Richards unausgesprochene Frage. „Ist sie der Engel aus deinem Traum, der dich in diese Höhle geführt hat, die du dann wirklich entdeckt hast?“

      Richard nickte zögernd. Tabea schmiegte sich an ihn. „Magst du mir davon erzählen?“, forderte sie ihn sanft auf.

      Richard schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht“, flüsterte er.

      „Du musst nicht“, sagte sie.

      „Das ist lieb von dir“, bedankte sich Richard und schlang die Arme um sie. „Ich bin froh, dass es dich gibt, Tabea.“

      „Ich auch“, hauchte sie und blickte ihn an. Richard fühlte, wie Verlangen in ihm aufstieg.

      „Entschuldige noch mal, wegen vorhin“, murmelte er und streichelte ihre Locken.

      Tabea lächelte, dann schaute sie ihm ernst in die Augen und öffnete den Mund, eine Einladung, der Richard nicht widerstehen konnte. Sie klammerten sich aneinander und bedeckten sich gegenseitig mit Küssen, bis ihre Lippen zueinander fanden. So lange hatte er sich danach gesehnt, und Tabea ebenso. Er spürte ihre Zunge und beantwortete ihr Verlangen, glaubte, dass seine Sinne zu schwinden drohten, alles um ihn begann zu verschwimmen, und dann war ihm, als würde er nicht mehr Tabea in den Armen halten, nein, sie war es, die Schöne, seine Angila, sie war es, die ihm gerade das T-Shirt über den Kopf zu streifen versuchte, sie, mit ihren unvergleichlichen Augen, ihren silbernen Haaren, ihre Stimme war es, die gerade vor Erregung seufzte.

      „Nein!“, schrie Richard und befreite sich aus der Umarmung.

      Tabea schaute ihn an. Ihre Augen drückten Verständnislosigkeit aus. „Was ist denn?“, fragte sie. „Hab’ ich was falsch gemacht?“

      „Nein“, gab Richard tonlos zurück.

      „Hast du eine andere?“

      „Schon näher dran.“

      „Du hast mir nie etwas davon gesagt.“

      Richard nahm Tabeas Hände. „Ich habe keine andere.“

      „Geht es dir nicht gut?“

      Richard schüttelte den Kopf. „Ich mag dich wirklich sehr, Tabea, aber … ich muss dir etwas sagen. Ich … ich hab’ es dir verschwiegen, ich hab’ es allen verschwiegen, weil ich … ich hatte Angst, … ich … ich muss es dir sagen, jetzt, wo wir uns … sonst … Aber du musst mir versprechen, Theo nichts zu verraten, nicht das kleinste bisschen, es würde zu einer Katastrophe führen!“

      Tabea beobachtete ihn still, nickte dann aber.

      Und Richard erzählte ihr alles, angefangen von seiner ersten Begegnung mit der Schönen, über den Abend in der Disco und seinen Fiebertraum bis hin zu dem, was gerade eben geschehen war, als er und Tabea sich geküsst hatten. Er ließ keine Kleinigkeit aus, vor allem nicht, was seine Gefühle betraf.

      „Sie ist fast wie ein Dämon“, schloss er seine Rede. „Wie ein Dämon, der meinen Willen steuert.“

      „Und zwischen uns steht“, ergänzte Tabea.

      Dann schwiegen sie lange Zeit. Schließlich ergriff Tabea erneut das Wort.

      „Auf jeden Fall ist es nett von dir, dass du so ehrlich zu mir warst.“ In ihrer Stimme schwang Bitterkeit mit.

      „Ich hätte es dir schon früher sagen sollen.“

      „Da hast du Recht. – Wir sollten uns schlafen legen.“

      „Ja.“

      Tabea ging mit hängenden Schultern auf das Zelt zu. „Nein“, schoss es Richard durch den Kopf, „das darf nicht sein!“ Er eilte ihr hinterher und fasste sie am Arm.

      „Tabea“, flehte er.

      „Ja?“ In ihrem Blick konnte er Enttäuschung lesen.

      „Ich … ich …“ Er suchte krampfhaft nach Worten, wie er ihr erklären konnte, dass er sie trotzdem sehr gern hatte, ja sogar liebte, wirklich liebte … Oder? Liebte er sie tatsächlich? Redete er sich das nicht nur ein? War Tabea nicht vielmehr ein billiger Ersatz für die Frau, die er in Wahrheit liebte und die er nicht bekommen konnte?

      Sein innerer Kampf wurde durch ein schreckliches Stöhnen beendet, das aus ihrem Zelt drang, gefolgt von mehreren lauten Schreien. Rasch