Matthias Hahn

Wächter des Paradieses - Teil 3


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Rippen.

      „Nein!“, schrie er gellend. „Bleibt weg! Bleibt weg von mir!“

      Dann erschlaffte er und schaute sich verwirrt um.

      „Wo bin ich?“, krächzte er zwischen krampfhaften Atemstößen.

      „Du bist hier“, beruhigte ihn Tabea, „in unserem Zelt. Es ist alles in Ordnung.“

      Er blickte sich um wie ein gehetztes Tier, dann stürzte er nach draußen.

      „Bleib hier“, bat Richard Tabea eindringlich. „Es ist besser, wenn ich ihn allein zurückhole.“

      Ohne auf ihre Antwort zu warten, eilte er Theo hinterher. Der war einige Meter auf die Teufelsfinger zugerannt, bevor er abrupt stehen geblieben war. Schwer atmend starrte er auf die Ruine. Richard gesellte sich zu ihm. Trotz der Dunkelheit konnte er das Grauen in den Augen seines Freundes erkennen.

      „Was hast du geträumt?“, begann Richard.

      Theo schüttelte den Kopf.

      „Du musst mit mir darüber sprechen. Bitte. Das ist besser, als wenn du es mit dir herumträgst.“

      Theo schüttelte abermals den Kopf. „Solche Schrecken sind nicht für diese Welt bestimmt“, raunte er.

      „Hast du von ihr geträumt?“

      Theo nickte langsam. Schauder der Erinnerung durchzuckten ihn. Dann sah er seinem Freund in die Augen.

      „Geh zurück zu Tabea. Sie wartet auf dich. Und dann verlasst dieses Tal, gleich morgen.“ Theo deutete auf die Ruine. „Dort wartet sie. Mein Tod wartet da. Sie will nur mich. Nicht euch.“

      Richard spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. „Du hast es mir versprochen, Theo …“

      „Ich weiß. Ich werde mein Versprechen halten. Und jetzt lass mich allein.“

      „Wir halten zusammen, Theo. Komm mit rein.“

      „Ich kann sowieso nicht mehr schlafen. Ich bleibe lieber hier.“

      „Dann bleib’ ich auch.“

      „Tabea macht sich sicher Sorgen. Lass sie nicht warten.“ Theo legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Sie liebt dich“, fügte er einfühlsam, aber auch ein wenig ungeduldig hinzu.

      Hier wusste wohl jeder besser über ihn und Tabea Bescheid als er selbst, ging es Richard durch den Kopf. Vergeblich suchte er nach Argumenten, die Theo überzeugen würden.

      „Ich möchte allein sein“, beharrte der Biologe auf seiner Entscheidung. „Bitte gönn mir diese Freude.“

      „Wenn es denn eine Freude ist“, zweifelte Richard. „Also gut, aber bleib bitte von diesem Gemäuer weg, klar?“

      „Ja, Mutti.“

      Wortlos kroch Richard in das Zelt zurück.

      „Ist er in Ordnung?“, sorgte sich Tabea.

      „Wie man es nimmt“, antwortete Richard. „So langsam denke ich, dass hier gar nichts in Ordnung ist. Also schlaf gut.“

      An Schlaf war allerdings überhaupt nicht zu denken. Schließlich kroch Richard leise zum Zelteingang. Er sah seinen Freund nur wenige Meter entfernt im Gras sitzen und auf die drei Felstürme starren. Einigermaßen beruhigt krabbelte Richard wieder in seinen Schlafsack.

      Etwa drei Stunden später schreckte er aus einem belanglosen Traum. Es war inzwischen hell geworden. Tabea neben ihm schlummerte noch tief und fest. Aus dem benachbarten Zelt konnte Richard Victors Schnarchen vernehmen, das sie die ganze Nacht hindurch begleitet hatte. Richard zog Hose und Schuhe an und wankte noch ein wenig schlaftrunken nach draußen, um nach Theo zu sehen. Doch der saß nicht mehr im Gras. Gähnend stapfte Richard durch die feuchte Wiese, aber auch hinter dem Zelt und am Eingang der Furche konnte er den Biologen nicht entdecken. Er blickte ein wenig misstrauisch zu den feucht in der verschleierten Morgensonne glänzenden Basaltfelsen und machte sich auf den Weg zur Ruine.

      Theo saß auf der Rückseite des Turms neben der Araukarie. Nachdenklich betrachtete er eine kleine, rote Frucht, die er zwischen seinen Fingern bewegte.

      „Wie geht’s?“, begrüßte Richard seinen Freund. „Hast du irgendwelche Drachen entdeckt?“

      „Nein“, murmelte Theo nach einer Weile. „Hier gibt es nichts dergleichen: keine Schlangen, keine Vogelspinnen, keine exotischen Insekten. Nichts deutet auf ein altertümliches Biotop hin. Vielleicht gab es ja wirklich einmal einen Wanderzirkus oder einen Insektenzoo in der Gegend, und denen sind die Tiere ausgebrochen. Aber sicherlich haben sie den Winter nicht überlebt.“

      „Und diese Klaue?“, warf Richard gähnend ein.

      „Irgendwer muss sie hierher gebracht haben. Wieso, warum und um was es sich handelt, weiß ich nicht, aber sie stammt auf jeden Fall nicht von einem Tier, das hier überleben könnte.“

      „Und warum haben die Gräser überlebt?“

      „Es sind halbwegs kälteresistente Arten. Aber wie sie hierher kommen … völlig rätselhaft. – Schau dir einmal das da an.“

      Theo warf ihm die Frucht zu, mit der er die ganze Zeit gespielt hatte.

      „Von diesem Baum da?“, wollte Richard wissen. „Dieser Ara … dingsda?“

      „Nein, von dort.“ Theo zeigte auf einen kleinen Strauch, der sich direkt an der Mauer zwischen die Brombeerranken gezwängt hatte.

      „Südamerikanisch?“

      „Wahrscheinlich. Eine Solanazee, ein Nachtschattengewächs, aber kein einheimisches. Ich tippe auf Lycopodium. Muss auf jeden Fall ein naher Verwandter unserer Tomate sein.“

      Richard schnupperte an der Frucht. „Riecht aber nicht gerade wie eine To…“ Er unterbrach sich. Diesen Duft roch er nicht zum ersten Mal. Aufgeregt ritzte er die Frucht mit seinem Daumennagel und lutschte daran.

      „Das hättest du jetzt besser nicht machen sollen“, bemerkte Theo trocken. „Ist höchstwahrscheinlich giftig. Vielleicht sogar tödlich.“

      „Danke“, überging Richard Theos Warnung und versuchte, sich auf den Geschmack zu konzentrieren.

      „Ich kenne die Sorte“, stellte er fest.

      Überrascht zog Theo die Augenbrauen hoch. „Wann warst du in Südamerika?“

      „Aus Edirne.“

      „Das ist keine Frucht aus dem Mittelmeerraum. Das wüsste ich. Das verwechselst du.“

      „Aus einer solchen Frucht hat deine Schöne die Salbe zubereitet, mit der sie meine Wange bestrichen hat.“

      Theo wurde blass. „In deinem Traum?“

      „Ja. Die hier ist wohl noch nicht ganz reif, aber der Geschmack ist sehr ähnlich. Natürlich kann das Zufall sein, aber komisch ist es schon.“

      „Gib her.“

      Theo saugte ebenfalls an der Frucht. „Nicht schlecht. Aber irgendein Gift ist da drin.“

      „Ein Heilmittel“, widersprach Richard.

      „In kleinen Konzentrationen wirken viele Gifte wie Heilmittel“, dozierte Theo und hielt Richard die Frucht vor die Augen. „Sie hat dir also davon auf die Wange gestrichen?“, vergewisserte er sich.

      „Ja“, bestätigte Richard. „Warum fragst du?“

      Theo wies auf die Staude, von der die Frucht stammte.

      „Sie hat mir diese Pflanze gezeigt“, erklärte er.

      „Sie?“ Jetzt war Richard endgültig wach geworden. „Im Traum?“

      Theo schüttelte den Kopf. „Hier und jetzt. Ich habe sie gesehen.“

      „Was hast du?“

      „Als