Rudolf Jedele

Shandra el Guerrero


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die so krass waren, wie nirgendwo sonst.

      Die Meereswinde trugen warme, feuchte Luft in die Felsen hinein, die Sonnenstrahlen hatten den Fels erhitzt und so entstand eine warmer Luftstrom, der mit hoher Geschwindigkeit die Höhe von mindestens zweieinhalbtausend Schritt überwand und sich oben, auf der Hochebene entspannen und ausbreiten wollte. Dort aber stieß dieser warme Luftstrom auf die eisigen Fallwinde, die vom Gletscher des Mulhacen herunter fegten und sofort begannen die beiden unterschiedlichen Brüder einen wilden Kampf auszufechten, der bis in die Nacht hinein dauerte.

      In den Felsen wechselte das Wetter oft in wenigen Augenblicken von drückender Hitze in eisige Kälte, von warmem Regenwetter in unangenehm kaltes Schauerwetter mit eisigem Wind und gefrorenen Kristallen in der Luft. In solchen Momenten konnten die ohnehin schmalen Saumpfade zu tödlichen Fallen werden. Ein unbedachter Schritt, eine winzige Unaufmerksamkeit konnte genügen und schon lag man fünfhundert oder mehr Schritte tiefer und war nicht mehr zu retten. Ablenkungen aber gab es genug im Fels, denn die ständig wechselnden Winde und die vielen, hoch aufragenden und zumeist fast senkrechten Felswände bildeten ein Paradies für alle Vogelarten, die gerne segelten und sich von solchen Auf – und Abwinden mit Begeisterung tragen und treiben ließen. In oft haarsträubender Geschwindigkeit und atemberaubend dicht am Fels jagten alle möglichen Arten von Vögeln an den Felsen entlang, hinauf und hinunter und stießen dabei häufig schrille Schreie der Lust am Fliegen aus. War nun ein Mensch oder auch ein Tier oder beides zusammen im Fels und es geschah, dass einer dieser Vögel mit weniger als einer Handbreit Abstand an ihm vorbei zischte, war es nicht ungewöhnlich, dass einer oder auch alle erschraken und schon war es geschehen.

      In den Tiefen der Schluchten und Schründe lagen Skelette von abgestürzten Menschen und Tieren in rauen Mengen.

      Der Weg durch diese Wildnis war also bei Tag schon sehr gefährlich. Bei Nacht aber enthielt er fast eine Todesgarantie.

      Sobald die Sonne unterging, fehlten den warmen Seewinden der Nachschub an Energie und die kalte Luft vom Gletscher des Mulhacen errang die Oberhand. Es kühlte rasch ab und die Feuchtigkeit in der Luft begann sich auf den Felsen nieder zu schlagen. Je länger die Nacht dauerte, desto kühler, ja, kälter wurde es und nicht selten ging die Temperatur so weit zurück, dass sich im oberen Drittel der Felsen auch Eis auf dem Stein bilden konnte. Doch auch ohne Eis war jeder Tritt, jedes Stück Weg, jeder Stein mit einer glitschigen Schicht kondensierender Nässe belegt und wer zehn Schritte tat, konnte damit rechnen, mindestens einmal ausgerutscht zu sein.

      Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hatte, versuchte nachts durch die Felswand zu steigen. Und jeder, der am frühen Morgen den Aufstieg begonnen hatte, tat alles, um Abend den Pass zur Gran Escuela erreicht zu haben.

      Sie verzichteten an diesem Abend auf ein Feuer, denn im Tal unten war es warm und trocken und so begnügten sie sich mit einem kalten Imbiss. Dann saßen sie gemütlich zusammen und unterhielten sich über die jüngsten Ereignisse und über Dinge, die ihnen bevorstehen mochten.

      Shaktar und Sombra überlegten, wie sie es am besten anstellen sollten, in die Sicherheitssysteme Ninives einzudringen, wenn sie die Stadt erst einmal erreicht hatten, Shandra aber beschäftigte sich in erster Linie mit seinen beiden Halbbrüdern Erin und Kerin.

      Er fand heraus, dass die beide jungen Männer über einen ausgesprochen hellen Verstand verfügten und alles, was mit Naturgesetzen und mit technischen Vorgängen zusammen hing intuitiv begriffen.

      Erin konnte erklären, weshalb manche Vögel gute Segler waren und andere nicht, Kerin wusste zu bestimmen, aus welchen Metallen der Stahl bestehen musste, aus dem Sombra vor langer Zeit Shandras Jagdmesser geschmiedet hatte. Beide wussten ganz genau, weshalb dreifach gefiederte Pfeile besser geradeaus flogen, als zweifach gefiederte und als ihnen Shandra seinen Hornbogen zeigte, verstanden sie das System im Handumdrehen.

      Begabte Jungs, wie Rollo feststellte, denn auch in den Bereichen, in denen er besonders stark war, der Jagd, dem Lesen von Fährten und der Verarbeitung von erlegtem Wild kannten sie sich sehr gut aus und so fand Rollo es fast schade, dass man solche Talente nach Ninive schicken musste.

      Doch beide hätten nichts anderes gewollt, denn so oft die Sprache auf die fliegende Stadt kam, so bald Shaktar oder Sombra von den technischen Wundern in dieser Stadt erzählten, begannen ihre Augen zu glänzen, ihre Gesichter röteten sich und sie lauschten mit atemloser Spannung und speicherten jedes Wort.

      Ihre Ausrichtung auf Technik war derart augenfällig, dass Sombra wie von selbst damit begann, den beiden Jungmännern immer mehr und in immer deutlicheren Worten über die Gesetze der Natur und über das Recht auf Ausgleich innerhalb aller Systeme der Natur zu erzählen. Sie hatte begriffen, dass man diese beiden Talente nicht ausschließlich der Technik übergeben durfte und wurde in ihren Bemühungen auch von den anderen Mitgliedern der Gruppe nach besten Kräften unterstützt. Vielleicht, so hatte Shaktar im Laufe des Abends laut überlegt, ergab sich ja eine vernünftige Verbindung zwischen dem Wissen um alte Techniken und den Bedürfnissen der neuen Erde und vielleicht lag dann das Schicksal der Entwicklung in den Händen seiner Söhne …

      Kühne Gedanken, immerhin.

      Die Zeit verging ihnen wie im Flug und dann war es auch schon Zeit, sich schlafen zu legen, denn sie wollten so früh wie möglich mit dem Aufstieg beginnen und hatten vor, den nächsten Sonnenaufgang schon ein ganzes Stück höher zu erleben.

      Der Aufstieg geriet zu einer echten Strapaze. Die Pferde mussten geführt und immer wieder beruhigt werden, wenn ein großer Geier, ein Adler oder ein Gerfalke wie ein Geschoß an ihnen vorbei zischte und dabei gellende Schreie hören ließ. Die Steppenpferde, die Shakira und Jelena ritten waren solche Klettertouren nicht gewohnt und steckten mit ihrer Unruhe bald auch die Maurenpferde an, auf denen Sombra und Shaktar saßen. Die Mulis wurden nervös und wäre Rollo, der Herr aller Mulis nicht gewesen, wer weiß zu welchem Fiasko das ganze Unternehmen geraten wäre. Er war es, der Ruhe vermittelte, der die Tiere im Griff hatte und sie sicher durch alle Schikanen und Gefahren geleitete und als sie am späten Nachmittag nur noch einen schmalen Pfad durch eine Senke zu überwinden hatten, um dann auf einem bequemen Weg den Pass zu erreichen, war die ganze Gruppe froh, das Abenteuer dieses Aufstiegs überstanden zu haben.

      Dort oben aber blieben sie stehen und vor allem Shandra und Rollo starrten mit angehaltenem Atem über die weite Ebene, die sich bis hin zum Fuß des majestätisch aufragenden Mulhacen zog.

      Grasland, wie sie es von ihrer Heimat kannten und liebten. Voll von riesigen Herden grasfressender Tiere und deren Jäger, genau so, wie es im Grasland eben sein musste. Das Gras war, der Jahreszeit entsprechend, bestimmt mehr als hüfthoch und gelb und braun, nicht mehr grün, denn es war schon Ende des Herbstes in diesem Jahr. Nicht mehr langem dann würde es hier oben vielleicht sogar Schnee geben. Jetzt schon, an diesem Spätnachmittag wehte ihnen von Nordosten her eine kühle und ziemlich steife Brise entgegen und diese Brise machte, dass das Grasland wie ein Meer wirkte. Die Ähren der Gräser waren voll mit reifen Körnern und der Wind beugte die Halme. Dann aber richteten sie sich wieder auf und so entstand eine Wellenbewegung, die dafür sorgte, dass das Grasland in jedem Augenblick sein Gesicht veränderte. Helles Gelb und dunkles Braun wechselten einander ab und dort wo Hügel aufragten oder einzelne Felsen, wo große Herden grasender Tiere den Wind und das wogende Gras störten, bildeten sich Wirbel, die dem Grasland wiederum ein völlig anderes Ansehen verliehen. Ein Anblick voller kraftvoller Harmonie und stillem Frieden und hinter diesem Meer aus Gras thronte majestätisch und stolz der Berg der Götter, der Mulhacen. Shandra und Rollo, Sombra und Samuel sahen diesen königlichsten aller iberianischen Berge zum ersten Mal aus dieser Nähe und die Wucht und Schönheit dieses Anblicks traf sie wie die Faust eines Riesen. Die Brust wurde ihnen eng und sie begannen wieder einmal zu verstehen, weshalb dieses Land Al Andalus seine Menschen mit so viel Liebe erfüllte. Wer diesen Anblick sehen und nicht von tiefer Liebe zu diesem Land, seiner wilden Schönheit und zu seiner einfach überwältigenden Natur erfasst wurde, musste ein Herz aus Stein haben.

      Die tief stehende Sonne des späten Nachmittags übergoss die weiße Haube, die das obere Drittel des Mulhacen bedeckte mit rotem Licht und die Kontraste der Felsregionen waren scharf wie mit einem Messer geschnitten. Die Almen und Matten unterhalb der Felsen und dann, noch tiefer die dunkelgrünen, fast schwarz