Walter Landin

Wenn erst Gras wächst


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mit dem Totenkopf am Gürtel, im Mund eine Zigarre. So marschierte der im Hof auf und ab. Auf und ab. Jeden Tag. Und das ganze Haus zitterte vor ihm.“

      Herr Schmidt wohnt schon lange hier.

      Leo steht immer noch hinter der Gardine.

      „Paulina. Paulina.“

      Pauline lässt den Besen fallen. Wie eine Furie stürzt sie aus dem Treppenhaus. Vor Leos Fenster bleibt sie stehen. Sie droht mit der Faust, die Lippen zu einem Strich zusammengekniffen. Hinter Pauline fällt die Tür krachend ins Schloss. Die Katze streckt sich auf dem Schuppendach, schärft ihre Krallen an der Dachpappe, macht einen Riesenbuckel, sträubt die Haare und rollt sich zusammen. Willem hebt vorsichtig den Kopf. Auf den Knien sucht er die Reste der wertvollen Zigarette zusammen und verstaut sie in der Jackentasche. Mühsam rappelt er sich hoch, hebt den Besen auf und murmelt: „Paulina, Paulina“, lacht und kehrt, auf und ab. Pauline öffnet das Fenster, sieht Willem kehren und zischt: „Na also!“

      Wenn erst Gras wächst

      In meinem Kopf sind viele Mosaiksteine. Aber ich weiß nicht, wie das Bild aussieht, weiß nicht, wo und wie ich anfangen soll. Seit Tagen denke ich über den Anfang nach, schreibe Notizzettel voll, lege sie sorgfältig in die Ablage. Damals, als die Christbäume am Himmel standen. Das hört sich abgegriffen an. Damals, als Großmutter sagte: damals, als die Bombe einschlug. Damals, als Anton Kocher Feldschütz im Dorf war und Ortsgruppenleiter. Damals, als der junge englische Flieger abgeschossen wurde. Ich schreibe jung. Das ist eine Behauptung. Alle, die ihn in dieser Nacht gesehen haben, sind tot. Die Frau des Polizisten, dann die Getsche, Franziskas Patentante, und Anton Kocher, der ihn mit vorgehaltener Pistole abholte. Niemand, den ich fragen könnte. Der junge Flieger, ich bleibe dabei. Jung passt in mein Konzept, vor allem für das, was später kommt. Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war. Ich habe die Straße so nie gesehen, aber vorstellen kann ich es mir. Ein einziges Schlammfeld im Herbst, erzählte Urgroßmutter. Und wenn der Winter zu Ende ging. Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war. Das ist mein Anfang.

      Damals im Winter 1944. Es ist Anfang Dezember und ein Sonntag. Sicher ist es kalt. Der Morast, durch den vor wenigen Wochen abgemagerte Pferde die Fuhrwerke, mit Rüben beladen, zur Dorfwaage zogen, dieser Morast ist festgefroren. Wenn Franziska morgens zum Bus geht, stampft sie mit ihren Stiefelabsätzen auf die kleinen Eisseen. Das knistert. Es ist Abend. Franziska steht im Hof. Es ist klar, die Sterne funkeln. Franziskas Gesicht ist rot. Die gute Stube drinnen ist reichlich geheizt. Ihr Vater hat gestern einen Handwagen voll mit Holzresten von der Arbeit gebracht. Jetzt wird dem Winter eingeheizt. Die Kälte draußen tut Franziska gut. Am Sonntagabend gibt es immer warmes Essen. Ihr Vater war nicht dabei. Er hat Nachtschicht, Schrankenwärter.

      „Hoffentlich kommen sie heute nicht“, meinte Franziskas Mutter, „so kurz vor Weihnachten“, als der Vater aufs Fahrrad stieg.

      „Eisenbahner fahren mit dem Rad zum Dienst“, sagte Franziskas Vater immer und fuhr die 15 Kilometer nach Oggersheim mit dem Rad. Bei jedem Wetter. Die Großeltern, Franziska und ihre Mutter, die zwei kleinen Brüder, Onkel Karl, Vaters Bruder, jeder bekam ein Stück Fleisch. Fleisch gibt es nicht oft in diesem Winter 1944. Franziska legt den Kopf zurück und betrachtet die Sterne.

      Vor vier Wochen haben sie geschlachtet. Franziska schaut immer zu. Ich durfte nicht zusehen.

      „Bringt den Jungen weg. Das ist nichts für ihn.“

      Ich wurde in die Küche geschoben und hätte doch zu gern gesehen, warum das Schwein so entsetzlich quiekte. Ein einziges Mal war ich Augenzeuge, versteckt hinter Urgroßmutters weitem schwarzem Rock. Urgroßmutter saß in der Tür zum Hof auf ihrem Korbstuhl. Warum schrie nur das Schwein so fürchterlich? Franziskas Bruder hielt es am Schwanz, mein Großvater an den Ohren und der Metzger, ein dicker Mann mit einer fleckigen Gummischürze und feuerrotem Gesicht, setzte ein längliches Ding, das sah nicht wie ein Gewehr aus, dem Schwein auf die Stirn, genau zwischen die Augen. Es machte Plopp, dumpf und nicht sehr laut. Das Quieken verstummte schlagartig, das Schwein kippte um, zuckte einmal, zweimal noch mit den Hinterbeinen und lag dann still da. Meine Großmutter schob die Emailleschüssel unter, während der Metzger sein Messer wetzte. Ein Schnitt am Hals, überhaupt nicht umständlich, und das dampfende Blut schoss in die Schüssel. Landsam wurde der Strom dünner, Großvater goss dem Metzger einen Schnaps ein, der prostete ihm zu. Das ausgeblutete Schwein wurde in die Mulde, eine Zinkwanne auf Rollen, gewuchtet. Die Mulde gehörte dem Metzger und musste immer dort abgeholt werden, wo zuletzt geschlachtet worden war.

      „Katharina, das Wasser“, rief Großvater und meine Großmutter kam mit zwei randvollen Eimern an. Der Metzger, das leere Schnapsglas in der Hand, stand unbeteiligt daneben. Das Schwein wurde mit dem heißen Wasser übergossen, die Borsten wurden abgeschabt. Es wurde mit zwei Drahtseilen an den Hinterbeinen festgebunden und über eine Winde hochgezogen. Da hing es, den Kopf nach unten, die Hinterbeine gespreizt. Dann entdeckte mich Urgroßmutter.

      „Ab in die Küche!“

      Und ich bekam noch einen Klaps auf den Hintern. Als ich endlich wieder auf den Hof durfte, war das Schwein kein Schwein mehr. Ohne Kopf hingen die beiden Hälften nebeneinander.

      Franziska darf zuschauen. Sie hat kein Mitleid und der Metzger kein Gewehr, damals nicht. Der Metzger hat ein Beil, und mit der stumpfen Seite schlägt er zu. Wenn er nur Vater nicht trifft! Einmal, zweimal, jetzt fall doch endlich um, dreimal, viermal, endlich. Vor vier Wochen haben sie zwei Schweine geschlachtet. Nur eines wurde zum Wiegen gefahren, das kleinere. Das andere gab es nicht, zumindest nicht bei der Viehzählung im Frühjahr.

      „Das ist gefährlich“, sagte Franziskas Großmutter. „Den Schulze aus dem Unterdorf hat der Kocher ein halbes Jahr ins Gefängnis gebracht. Nur weil er eine Sau schwarz geschlachtet hat.“

      „Ja, ja“, brummte Franziskas Vater. „Ich könnte dir noch ganz andere Sachen erzählen. Aber denk an die Lebensmittelkarten.“

      Die Lebensmittelkarten. 250 Gramm Butter im Monat, 500 Gramm Brot in der Woche, 100 Gramm Fleisch oder 125, alles für eine Person. So ganz genau weiß das keiner mehr. Das ist schon so lange her. Franziska putzt samstags die Backstube beim alten Bäcker. Am Sonntagmorgen klebt sie mit Mehlkleister die Mehlmarken für den Bäcker auf. Alles für einen Laib Brot, drei Pfund schwer. Das Brot können sie gut gebrauchen. Und ihre Großmutter kocht bei festlichen Gelegenheiten. Bei der Familie Maurer aus der Mohngasse hat sie schon 24 Mal gekocht. Der alte Maurer und die alte Maurerin sind begraben worden, Ihr Sohn Ludwig ist begraben worden und seine Schwester, die Lene. Und der Maurer Jean und seine Frau sind gestorben. Dann ist das Lisettsche gestorben. Und die anderen Kinder sind zur Kommuinion gegangen. Und als Verlobungen gefeiert wurden, war Franziskas Großmutter dort und bei Hochzeiten. Da fällt immer was ab, mal ein Zentner Kartoffeln, mal ein Sack Weizen, mal ein Korb Eier. Hoch oben sieht Franziska einen Christbaum. Sie kann sich aber auch getäuscht haben. Bald ist Weihnachten. Die Lebensmittelkarten. Geschlachtete Schweine werden auf die Fleischration angerechnet. Vier, fünf, sechs Monate keine Fleischmarken. Und bei zwei Schweinen?

      Am Tag nach dem Schlachtfest kam Anton Kocher und ließ sich die Papiere zeigen, Wiegeunterlagen, Schlachtschein. Metzelsuppe wurde aufgetischt mit einem dicken Brocken Wellfleisch drin. Anton Kocher, Ortsgruppenleiter der Partei, ein Zugereister, wie die Einheimischen sagen, Jahrgang 1900, angelernter Arbeiter in der Anilin in Ludwigshafen, 1929 Eintritt in die Partei, 1931 arbeitslos, 1933, im Mai, Feldschütz im Dorf, Ortsgruppenleiter.

      „Der wird sich die Zähne ausbeißen“, hieß es vor gut elf Jahren.

      Die Metzelsuppe schien zu schmecken. Franziskas Vater war auch Mitglied in der Partei.

      „Aber er ist erst spät eingetreten“, erzählt meine Großmutter. „Als der Krieg anfing, kam sein Vorgesetzter und sagte: Wenn Sie nicht in die Partei gehen, kann ich Sie nicht halten. Opa August hätte einrücken müssen, also ging er in die Partei“, erzählt Großmutter. „Er musste einfach. Beamter. Aber bei Aufmärschen und Versammlungen drückte er sich, so gut es eben ging“, erzählt Großmutter.

      So gut es ging.

      Anton