ja, alles in Ordnung“, versicherte Franziskas Mutter.
Da kam Georg, Franziskas kleiner Bruder, in die Küche. Er kniete sich auf den Stuhl neben Kocher und setzte eine wichtige Miene auf.
„Das Schwein gestern, das ist ein ganz besonderes Schwein gewesen. Das hat vier Nierchen gehabt, ehrlich, vier!“
Auch diese Geschichte ist schon oft erzählt worden. Franziskas Mutter griff Georg unter den Arm, beförderte ihn in den Flur, „warte nur, wenn Vater heimkommt“, ging zurück in die Küche, dachte an den Schulze aus dem Unterdorf. Anton Kocher aß weiter, sagte kein Wort, verabschiedete sich freundlich.
„Alles in Ordnung“, rief er, als er schon am Hoftor war.
Am Abend wurde mit Georg ein ernstes Wort geredet.
„Der ist doch anständig, der Kocher“, sagte Franziskas Mutter zu ihrem Mann. „Das hätte ich nicht gedacht.“
Franziska kennt den Anton Kocher ganz anders. Reichskristallnacht. Erst viel später wird sie mit diesem Ungetüm von Wort etwas anfangen können. Im Dorf brannte keine Synagoge, es gab keine. Franziska wusste nicht so recht, was Juden sind. Lehrer Bast schimpfte immer über sie. Die seien lauter Schweine und Verbrecher, man müsse alle aufhängen und auf den Mist werfen, sagte er Tag für Tag. Und Sarah musste in der Ecke stehen. Und der Pirmin stand manchmal neben ihr, aber der war kein Jude. Gegen den Lehrer sich stets folgsam, wahrheitsliebend, bescheiden und höflich benehmen, für Franziska kein Problem. Strammstehen, aufrecht sitzen, den Körper nicht nach vorne biegen, laut und wohl tönend in ganzen Sätzen die Antworten geben, für Franziska ist das nicht schwer. Aber die Unberechenbarkeit des Lehrers.
„In die Schützengräben“, brüllte er ohne Vorwarnung, und alle mussten blitzschnell unter die Bänke kriechen. Und die Angst vor seinem Stock, vor seinen Wutausbrüchen. Wenn meine Mutter von ihm erzählt, sehe ich meinen ersten Lehrer vor mir. Unter die Bänke mussten wir nicht kriechen, ansonsten gleicht sich vieles. Bei der Rückgabe der Diktate durfte jeder, Lehrer Mohn sagte: dürfen, seine Fehler am Katheder abholen. Vier Fehler sind vier Schläge mit dem Bambusstock auf die Handfläche, ein Schlag links, einer rechts, links, rechts. Wenn er ins Zimmer trat, das Strammstehen wie bei Lehrer Bast. Wenn ich an die Tafel ging und die Kreide als Linkshänder in die linke Hand nahm, schlug er ohne Vorwarnung mit seinem Stock zu. Ich lernte schnell und packte die Kreide nur noch mit der richtigen Hand an. So muss Lehrer Bast gewesen sein, vor dem Franziska zitterte.
Mit Sarah hatte Franziska immer gerne gespielt, bis ihre Mutter es verbot. Und eines Tages war Sarah nicht mehr in der Schule. Das war nach diesem Morgen, als Sarah auf der Straße saß. Franziska hatte Bilder in der Zeitung gesehen. Brennende Synagogen.
„Was ist eine Synagoge?“
„Warum dürfen die so was wie Kirchen anstecken?“
„Ach so, keine richtigen Kirchen?“
„Und schließlich waren es die Juden, die unseren Herrgott ans Kreuz geschlagen haben.“
„Aber die Sarah ...“
„Schluss jetzt.“
Franziskas Großmutter duldet keinen Widerspruch. Sarah Eltern hatten einen Lebensmittelladen. Als Franziska an jenem Morgen an dem Laden vorbeikam, saß Sarah auf der Straße, inmitten unzähliger zerschlagener Marmeladentöpfe. Mehl, gutes Mehl war auf den Bürgersteig gekippt. Die Schaufensterscheibe war eingeschlagen, die Regale im Laden waren umgeworfen. Franziska wollte stehen bleiben, wollte Sarah fragen. An der Tür stand geschrieben: „Kauft nicht beim Judenpack!“
„Weitergehen, los weiter!“
Das war Kochers Stimme, zischend, durchdringend. Franziska kannte sie vom Park. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Jetzt erst sah sie ihn, sah seine stechenden Augen und rannte schnell weg. So kannte sie Anton Kocher.
Die Christbäume sind wunderschön. Es werden immer mehr. Bald ist der Himmel voll davon. Franziska weiß, dass die Christbäume schön aussehen, sie weiß aber auch, was auf sie folgt. Aber schön sind sie doch. Franziska reißt sich los, geht ins Haus zurück.
„Sie kommen wieder“, ruft sie, „ganz viele.“
Ihre Großmutter ist schon im Keller, als die Sirene heult. Franziskas Mutter kommt als letzte. Sie hat schnell noch das Besteck in die Waschschüssel geworfen.
„Ist oben alles verdunkelt? Ging so schnell heute, und ihr wisst doch, was passiert, wenn nicht ordnungsgemäß verdunkelt ist.“
Nach Einbruch der Dunkelheit sind alle Fenster zu verdunkeln, egal, ob die Flieger kommen oder nicht. Und der Polizei- und Gemeindediener, der auch Luftschutzwart ist und Franziskas Onkel, wacht darüber. Jeden Abend macht er seinen Rundgang durch das Dorf. Wehe, durch eine Ritze, und sei sie auch noch so klein, fällt Licht. Onkel Hannes hat seinen Flobert dabei. Onkel Hannes zieht ein Bein nach. Er kommt nur langsam voran, und es ist ein schönes Stück, das er jeden Abend zurücklegen muss. Dienst ist Dienst, also macht er jeden Abend die Runde. Früher arbeitete Onkel Hannes bei der Bahn, wie Franziskas Vater. Während einer Frühstückspause, es sollte nur ein Spaß sein, zog ein Kollege den Stuhl weg. Onkel Hannes fiel unglücklich, lag Monate im Krankenhaus, das Bein blieb steif. Für den Bahndienst ungeeignet. Aber er hatte Glück. Im Dorf wurde ein Polizei- und Gemeindediener gesucht. Früher gab es nicht viel zu tun. In Lederhosen, in der linken Hand die Glocke, in der rechten die Papierrolle, verkündete er mit lautstarker Stimme die amtlichen Mitteilungen. Damals gab es noch kein Gemeindeblatt. Im Herbst 1932, als das Kriegerdenkmal vor der Kirche eingeweiht wurde, stand Onkel Hannes in seiner Sonntagsuniform, die Pickelhaube auf dem Kopf, neben dem Vorsitzenden des Krieger- und Militärvereins oben auf dem Holzpodest, als die Ansprachen gehalten wurden und Pfarrer Leer den bronzenen Reiter und sein Pferd segnete. Franziskas Mutter war stolz auf ihren Bruder. 1943 wurde das Standbild eingeschmolzen. Früher gab es für den Gemeindediener nicht viel zu tun. Aber die Vorschrift mit der Verdunkelung. Die bringt Arbeit. Und das steife Bein.
„Mach dich nicht kaputt2, sagte seine Schwester, „das fällt doch nicht auf, wenn du ...“
„Katharina, das will ich nicht gehört haben. Jeder hat sein Bestes zu geben in dieser Schicksalsschlacht. Jeder an seinem Platz.“
„Ja, ja, Onkel Hannes war mit Leib und Seele dabei“, sagt meine Großmutter.
Also jeden Abend die lange Runde durch das Dorf und wehe, er entdeckte irgendwo Licht. Wie Ende Oktober beim alten Bäcker, bei dem Franziska putzt. Der alte Bäcker mit dem langen, gedrehten Schnurrbart, der früher Hochrad gefahren war. Alles war verdunkelt. Dafür sorgte schon die Haushälterin. Nur musste der Alte auf dem Speicher Mehl holen. Durch die Dachluke fiel Licht. Vorschrift ist Vorschrift, sagt sich Onkel Hannes, zieht seinen Flobert, zielt, lässt sich Zeit, vielleicht geht das Licht ja noch aus, drückt ab, Glas splittert, es wird dunkel.
„Saubande, Nazipack, Verbrecher, euch geht es auch noch an den Kragen.“
Auf dem Speicher poltert es.
„Seien Sie doch ruhig.2
„Nazipack.“
„Um alles in der Welt, halten Sie Ihren Mund. Der bringt Sie noch ins Gefängnis.“
Die Stimme der Haushälterin.
„Einen alten Mann ins Gefängnis bringen, denen traue ich alles zu.“
Onkel Hannes humpelte weiter. Später, als ich ihn kannte, konnte er nicht mehr humpeln. Er saß im Rollstuhl. Alles wirkte bedrückend auf mich, das düstere Wohnzimmer, vollgestopft mit Möbeln, an denen er mit dem Rollstuhl kaum vorbeikam, die Leidensmiene seiner Frau. Ich hielt es nie lange aus, war froh, wenn Onkel Hannes mich fragte: „Gehen wir in den Garten?“
Die Frühlingsluft im Garten, das Gesicht von Onkel Hannes, wenn er von seinen Bienen schwärmte. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich ihn, wie er sich ein weißes Netz über den Kopf stülpte und eingehüllt in stechenden Rauch bei den Bienen hantierte.
„Ist oben alles verdunkelt? Ging so schnell heute.2