wenn nicht?“
„Vorschrift ist Vorschrift. Wer schaut nach?“
Mutter, wer sonst. Franziskas Mutter kommt mit Frau Arm zurück. Die hört schlecht. Bei einem Luftangriff kommt sie immer rüber. Beinahe hätten sie die Nachbarin vergessen. Sie sitzen im Keller, Franziskas Großmutter betet.
„Herr, lass den Kelch an uns vorübergehen.“
Franziskas Mutter denkt an das Haus. Wenn nur nichts passiert. Franziska denkt an die wunderschönen Christbäume. Onkel Karl denkt daran, dass sein Genesungsurlaub in zwei Wochen zu Ende ist. Sein Bruder hat Glück gehabt. Als Schrankenwärter ist er unabkömmlich, kriegswichtig.
Jetzt müssten sie das Brummen der Motoren hören, weit weg noch, näherkommend. Die Flugzeuge müssen jetzt bald da sein. Ich kann sie nicht aufhalten. Ich kann nicht mehr abschweifen. Ich habe diesen Fliegerangriff nicht erlebt. Ich habe keinen Fliegerangriff erlebt. Ich erzähle eine Geschichte aus einer Zeit, in der ich nicht gelebt habe, die Geschichte von Kocher und dem jungen englischen Flieger. Ich erzähle Erzähltes. Und das schließt Vergessen mit ein, Nicht-drüber-reden-wollen, Weglassen, Erfinden, Verdrängen, Idealisieren. Und Anekdoten, immer die gleichen, wieder und wieder erzählt. Die Flieger sind jetzt ganz nah. Die im Keller hören die ersten Einschläge im Unterdorf.
„Herrgott im Himmel, bloß keine Sprengbomben und keine Phosphorbomben.“
Vor einem halben Jahr die Phosphorbombe im Gewächshaus von Onkel Karl. Am helllichten Tag war der Angriff gewesen. Damals lag Onkel Karl an der Ostfront, vielleicht auch schon in Prag im Lazarett. Franziskas Mutter half, schüttete Wasser auf den Brand, es zischte, Wasser, mehr Wasser. Es zischte und dampfte und brannte weiter.
„Mein Gott, bloß keine Phosphorbombe!2
Sie kommen näher und näher.
Scheiß Christbäume, denkt Franziska.
Sie sind genau über ihnen. Fürchterliches Krachen, Wände zittern, Staub rieselt. Es ist passiert.
„Wenn nur Vater da wäre.“
„Ich muss hoch.“
„Nein, nein, bleib hier. Beten wir zusammen.“
Franziskas Mutter hastet die Kellertreppe hoch.
„Bleib hier“, schreit Großmutter hinter ihr her.
Die Bombe liegt im ersten Stock, 40 Zentimeter lang, sechskantig. Eine Stabbrandbombe.
„Hoffentlich ist kein Sprengsatz dran.“
Franziskas Mutter schüttet die Schüssel mit dem Abwaschwasser über die Bombe. Die Messer, Gabeln, Löffel fallen scheppernd auf den Boden. Sie lässt einen Eimer Wasser volllaufen, rennt die Treppe hoch in den zweiten Stock, die Garderobe steht in Flammen, der Sonntagsmantel brennt. Schade drum.
„Franziska, lauf schnell zu Schlossers rüber. Die sollen uns helfen.“
Jetzt raus aus dem sicheren Keller, in den Hof, über die Straße und die Flieger und das Feuer und der Lärm und die Schreie. Franziska hält sich die Ohren zu.
„Wir brauchen Hilfe, schnell!“
Franziska vergisst alles, läuft los, rennt, kommt erst wieder zu sich, als sie im Hausflur vom Nachbarhaus steht, im Feuerschein. Niemand achtet auf sie. Bei Schlossers wurde die Scheune getroffen. Raus mit den Tieren, den Pferden, den Kühen, den Schweinen, am schlimmsten sind die Schweine. Mutterseelenallein steht Franziska im Hausflur. Ihre Angst habe ich nie gehabt. Das Feuer, die Schreie der Menschen und Tiere, der Motorenlärm, noch immer sind die Flieger da, Franziska steht im Hausflur, von niemandem beachtet. Der Motorenlärm wird leiser, verschwindet. Ich weiß nicht, wie lange Franziska im Flur stand. Sie geht zurück auf die Straße. Da steht ihr Bruder Herrmann und schluchzt. Franziska legt den Arm um den zehnjährigen Bruder. Das Feuer ist gelöscht. Selbst Großmutter ist nicht mehr im Keller.
„Keine Sprengbomben, gelobt sie Jesus Christus. Wenn sie nur nicht zurückkommen.“
„Die kommen nicht mehr, heute Nacht nicht.“
Der Schaden am Haus ist doch nicht so groß. Einige Ziegel kaputt, der Dachstuhl beschädigt, allerdings nur leicht, ein Loch in der Decke und der gute Mantel.
„Das lässt sich reparieren, wenn nur Vater nichts passiert ist.“
Nach und nach kommen Nachrichten aus dem Dorf, bei Schlossers die Scheune, das Wohnhaus von Friedrichs, insgesamt sind zwanzig Gebäude zerstört oder beschädigt. Und ein Flugzeug wurde abgeschossen. In dieser Nacht ist an Schlaf nicht zu denken. Vereinzelt schwelt noch Feuer. Wer kommt bei wem unter? Erst Aufräumarbeiten. Als Franziskas Vater am Morgen von der Schicht kommt, ist das Schlimmste beseitigt, die Bombe liegt im Hof. Onkel Karl hat sie herunter getragen, begleitet von Großmutters Jammern, wenn jetzt doch ein Sprengsatz. War aber keiner. Das hat Onkel Karl mit einem Blick gesehen.
„In der Stadt ist heute Nacht kaum was los gewesen“, erzählt Franziskas Vater, „nur in den Randgebieten.“
Man kommt überein, dass alles nicht so schlimm war, dass man Glück gehabt hat, dass alles viel schlimmer hätte kommen können. Noch lange wird Franziska nachts aus dem Schlaf hochschrecken, wird die Flieger hören, den Feuerschein sehen, wird sich die Hände auf die Ohren pressen. Das Loch in der Decke wird provisorisch abgedichtet werden, Ziegel für das Dach sind noch im Schuppen. Nach dem Krieg, das wird schon bald sein, wird Franziskas Vater die Decke reparieren, die beschädigte Stelle neu verputzen, die Decke weiß streichen. Doch das Loch, durch das die Bombe fiel, wird sich abzeichnen, sichtbare Erinnerung an jene Bombennacht.
Ich sehe den Fleck vor mir.
„Unmöglich“, sagt meine Mutter. „Es muss um 1953 gewesen sein, da hat Onkel Herrmann die Decke tapeziert. Der Fleck ist verschwunden. Da warst du noch ganz klein. Daran kannst du dich nicht erinnern.“
Wenn meine Mutter von jener Bombennacht, vom abgeschossenen Flieger erzählt und mir den Standort der Flakstellung beschreibt, sagt sie nur: „Da, wo du mit Vaters Auto rein bist.“
Kein Wort ist mehr nötig. Ich weiß nur zu gut. Draußen am Floß, so heißt der Bach, nahe am Roten Kreuz, befand sich die Flakstellung. Im Frühjahr, wenn ich mit meinem Großvater in den Wingert fuhr, kamen wir immer an der Stelle vorbei. Damals wusste ich nichts davon. Der Wingert am Roten Kreuz gehörte Großvater. Das Rote Kreuz war ein etwa drei Meter hohes Sandsteinkreuz, eingerahmt von Fichten. Hinter dem Kreuz war eine Holzbank ohne Lehne, unser Platz für die Vesper. Der alte Ackergaul, den Großvater auslieh, musste verschnaufen. Opa August holte seine Rotweinflasche heraus, ich bekam Pfefferminztee, gut gesüßt. Dazu gab es Leberwurstbrot, immer Leberwurstbrot. Das Brot aß Opa ganz auf. Auf seinem Teller zu Hause beim Mittagessen ließ er stets einen Rest liegen und konnte während des Essens nicht still sein, musste Witze erzählen, die er ganz trocken herausbrachte.
„Iss weiter! Das Essen wird kalt“, sagte Großmutter, und Opa August nahm einen Schluck Rotwein und schob sich eine schwer beladende Gabel in den Mund. Noch kauend erzählte er schon den nächsten Witz.
Auf der Holzbank hinter dem Roten Kreuz, durch die Fichten geschützt, saßen wir schweigsam, Großvater grüßte ab und zu einen der vorbeikommenden Bauern, wechselte ein paar Worte mit dem Feldschützen. An Kocher dachte niemand mehr. Später kamen Luftdruckkanonen in Mode. Diese Apparate knallten automatisch jede halbe Minute und sollten die Starenheere vertreiben. Die Gespräche mit dem Feldschützen fielen weg. Nach der Vesper wurde der Ackergaul eingespannt, ein gemütliches, braves Tier. Großvater hielt den Pflug, und ich durfte vorne die Leine halten, der Gaul wäre aber genauso gut alleine gelaufen. Fast bis ans Floß reichte Großvaters Wingert, aber er war schmal, nur sechs, sieben Reihen der Portugiesertrauben, aus denen er seinen trockenen Rotwein ausbaute. Früher verzog ich den Mund, wenn er mir einen Schluck anbot, heute würde er mir bestimmt schmecken. Aber die Fässer im Keller sind schon lange leer. Mein Großvater konnte später, als er krank war, seinen Wein, von dem er jeden Tag ein bis zwei Liter getrunken hatte, nicht mehr vertragen. Angina pectoris. Er saß am Küchentisch, eine Zwei-Literflasche eines billigen, leichten