Walter Landin

Wenn erst Gras wächst


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was soll ich machen.“

      Später, als ich in die Schule kam, hatte ich keine Lust mehr, Großvater zum Roten Kreuz zu begleiten. Irgendwann kaufte er sich einen kleinen Traktor, gebraucht, von dem er schwärmte. Ich kam nur noch zweimal im Jahr am Floß vorbei, mit der Fronleichnamsprozession, die das Rote Kreuz zum Ziel hatte, und im Herbst, wenn Weinlese war.

      „Fronleichnam“, sagt meine Mutter, „da gibt es auch so eine Geschichte. Unser Lehrer Bast, der hatte auf einer katholischen Lehrerausbildungsstätte studiert. Als die Nazis ans Ruder kamen, trat er aus der Kirche aus und bei den Nazis ein. Das waren die Schlimmsten. Fronleichnam war damals kein Feiertag. Pfarrer Leer stand mit den Gläubigen vor der Kirche. Von unserem Klassenzimmer aus konnten wir den Fronleichnamszug sehen. Lehrer Bast fuhr mit dem Unterricht fort. Keiner von uns hatte den Mut, ihn zu fragen, ob wir mitdürften. Plötzlich ging die Tür auf, herein kam Pirmins Mutter, eine große, selbstbewusste Frau. ‘Herr Lehrer, mein Pirmin ist Messdiener, der geht zur Prozession.’ Sie ging am Lehrer Bast vorbei, der nickte nur, sie packte ihren Sohn an der Hand und zog ihn hinter sich her. Zögernd standen wir auf und verließen ebenfalls das Klassenzimmer. Lehrer Bast sagte kein Wort. 1944 im Frühjahr wurde Lehrer Bst dann eingezogen. Er kam zur Marine. Als er absoff mit seinem Schiff, soll er minutenlang nach der Mutter Gottes geschrien haben.“

      Meine Mutter erzählt diese Geschichte mit Genugtuung.

      Es ist eine mondhelle Nacht, fast könnte man Zeitung lesen. Stille am Floß, bis auf einmal der Fernsprecher schrillt. Fliegeralarm, schon wieder. Es dauert nicht lange und die beiden Geschütze sind feuerbereit. Die Flakbesatzung schaut in den Bach, in dem sich der Mond spiegelt. Flugzeugmotoren zerreißen die Stille der Nacht. Sie scheinen von allen Seiten zu kommen. Der Richtkanonier eröffnet das Feuer. Er schießt nach der Leuchtspur. Aus den Geschützen zucken ohne Pause Blitze. Und dann brennt eine Maschine. Der Pilot versucht, sein Flugzeug hochzureißen. Das schlägt fehl. Irgendwo in der Nähe vom Friedhof wird er niedergehen. Die Flakbesatzung jubelt draußen am Floß, da wo der Unfall mit Vaters Auto passierte.

      Ich war siebzehn, wollte mich zum Führerschein anmelden, wollte unbedingt mit Vaters VW üben, hatte gebittelt und gebettelt. An einem Samstag im Spätsommer, ein herrlicher Tag, Vater war gut aufgelegt und sagte ja. Er zog sich den Mopedhelm meines Freundes über.

      „Den kann ich gut gebrauchen.“

      Er sollte recht behalten. Vater fuhr bis zum Floß. Dort wechselten wir die Plätze. Das Anfahren klappte problemlos, in den zweiten Gang schalten.

      „Fahr da vorne in den Feldweg rein, wir wenden.2

      Spätestens hier hätte es Vater dämmern müssen, dass es mit dem Lenken Probleme gab. Ich hatte einfach kein Gefühl dafür. Wusste nicht, wie weit ich das Lenkrad drehen musste.

      „Den kerzengeraden Weg zurück, vor dem Bach links rein, wieder wenden“, gab Vater seine Anweisungen.

      Der VW rollte im Zeitlupentempoauf die Böschung zu, „lenk doch, lenken“, ich wusste nicht, was ich mit dem Lenkrad anfangen sollte. Die Handbremse zog nicht. Ein dumpfer Schlag, der Wagen kippte auf die rechte Seite, ich fiel auf meinen Vater, Wasser drang durch die offene Fensterscheibe ins Wageninnere.

      „Jetzt habe ich einen Wagen gehabt“, sagte Vater immer wieder, betont ruhig. Der Wutausbruch kam später. Ein Abschleppwagen zog Vaters VW aus dem Floß. Reparaturkosten1500.- Mark. 1969 war das viel Geld.

      „Die Flakstellung war am Floß, genau an der Stelle, wo du mit Vaters rein bist.“

      Anhaltender Beifall. Dann feierliche, getragene Musik, die das Klatschen überlagert, dann die fordernde Stimme des Sprechers: „Dr. Goebbels sagte in seiner Rede unter anderem: Die Leiden, die euch durch den feindlichen Luftkrieg aufgezwungen werden, sind quälend und peinigend. Über die Belastungen des Tages hinaus dürfen wir in keinem Augenblick dieses gigantischen Kampfes vergessen, dass es um Sein oder Nichtsein unseres Volkes und damit jedes einzelnen Deutschen geht.“

      Lang anhaltender Beifall, eindringliche Musik und wieder die Stimme.

      „Und ihr sollt wissen, dass die Führung Tag und Nacht arbeitet, dass in Deutschland ungezählte Konstrukteure, Ingenieure und Arbeiter am Werke sind, um die Waffen des Gegenschlages zu schmieden. Eines Tages werden wir Vergeltung üben. Und wenn wir zuschlagen, wird der Hieb furchtbar sein.“

      Donnernder Beifall übertönt die Stimme, die Musik steigert sich, wird schrill, erreicht ihren kreischenden Höhepunkt und endet mit einem Trommelwirbel.

      Hinter der Turnhalle, im Garten, der zur Gendarmerie gehört, geht der Flieger des abgeschossenen Flugzeugs nieder. Er bleibt mit dem Fallschirm im Apfelbaum hängen. Das Bein tut weh und die Schulter. Ganz in der Nähe schlägt eine Bombe ein. So hat er einen Fliegerangriff noch nicht erlebt. Es wird ruhig. Gespenstig ruhig. Nur der Feuerschein ringsum. Im Haus da vorne geht die Tür auf. Zwei Gestalten. Verdammter Fallschirm. Er zittert. Er hat Angst. Vorhin im Flugzeug hatte er keine Angst. Da hat er noch nie Angst gehabt. Die Gestalten kommen näher. Er hört ihr Flüstern, versteht die Worte nicht. Jetzt sind sie nur wenige Meter entfernt.

      „Das ist zu gefährlich“, sagt die eine Gestalt.

      „Und wenn er verletzt ist, Marie?“

      Marie, das ist die Frau des Dorfpolizisten. Die andere Gestalt ist Franziskas Patentante. Ihr Name fällt mir nicht ein. Für uns war sie immer die Getsche.

      „Lass uns die Flak anrufen, die sollen ihn abholen.“

      „Ja, ja, aber erst müssen wir ihm helfen.“

      Jetzt stehen sie vor ihm. Er sieht, dass es zwei Frauen sind. Er hängt im Baum, kommt nicht los.

      „Schnell, Marie, hol ein Messer.“

      „Und du?“

      „Mach schon!“

      Sie schneiden den Fallschirm ab, er fällt auf den hart gefrorenen Gartenboden, bleibt liegen.

      „Pack mit an.“

      Sie ziehen ihn hoch, wie leicht er ist. Sie legen sich seine Arme über die Schultern, er versucht zu gehen, das linke Bein zieht er nach. Drinnen im Haus setzen sie ihn auf das Küchensofa. Er blutet am Bein und an der Schulter.

      „Wie jung er ist. Er ist hoffentlich nur leicht verletzt.“

      Die Getsche verbindet die Wunden.

      „Ich hab die Flak angerufen“, sagt die Frau des Polizisten. „Die holen ihn gleich ab.“

      „Was passiert mit ihm?“

      „Der kommt in Gefangenschaft.“

      Der Verband ist fertig. Die Angst und das Zittern sind weg. Sie sitzen zu dritt in der Küche, Marie, die Frau des Polizisten, die den englischen Flieger misstrauisch anschaut, der englische Flieger, der ruhig und gefasst dasitzt, und die Getsche, die an ihren Sohn denkt, der irgendwo im Westen liegt. Sie haben lange so regungslos in der Küche gesessen, als es an der Haustür klopft.

      „Endlich, die Flak“, sagt Marie und macht auf.

      Es ist nicht die Flak.

      „Heil Hitler, wo ist der Kerl?“

      Kocher!

      „Ah, da sitzt er ja, seht euch das Häufchen Elend an.“

      Der englische Flieger sieht Kocher, sieht seine Augen. Da ist wieder die Angst, wie vorhin, draußen im Garten.

      „Ich nehme ihn mit.“

      „Aber die Flak holt ihn ab“, sagt Franziskas Tante. „Wir haben angerufen.“

      „Ich nehme ihn mit und bringe ihn zur Flak.“

      „Lass doch, wenn er ihn mitnimmt. Sei doch froh.“

      Kocher zieht seine Pistole, richtet sie auf den Flieger,

      „Aufstehen, los, los, mach schon.“

      Er stößt dem Flieger den Lauf der Pistole in