Gabriela Hofer

Das Labyrinth der Medea


Скачать книгу

holte tief Luft, irgendjemand musste wohl den Anfang machen. Sie trat vor und streckte dem ihnen am nächsten stehenden Mädchen die Hand entgegen: „Hi, ich bin Hope.“ Das Mädchen ergriff zögernd ihre Hand: „Ebenfalls hi, mein Name ist Amelia. Seid ihr die Schüler aus der Menschenwelt?“ Amelia war ein hübsches Mädchen mit langen, zu einem Zopf geflochtenen kastanienbraunen Haaren, die bis über den Po fielen, und großen grauen Augen. Sie war ziemlich groß und etwas zu dünn. „Ja, das sind wir. Dies hier“, sie zog Betsy neben sich, „ist meine beste Freundin Betsy, und die beiden Jungs heißen George und Gideon.“ Alle drei grüßten die Schüler. Amelias Augen wurden groß, als Hope Gideon vorstellte. „Mensch, ist dieser Junge attraktiv! Diese blauen Augen sind irre!“, dachte Amelia. Nun sprach er auch noch mit einer bereits sehr männlichen Stimme: „Es ist toll hier, für uns allerdings noch ein bisschen verwirrend, aber das wird sich schon geben.“ Er zeigte sein umwerfendes Lächeln. Amelias Wangen liefen rot an. Verlegen sah sie zu Boden. Betsy verdrehte die Augen. Gideon der Mädchenschwarm.

      Bevor Amelia eine Antwort stottern konnte, drängte sie ein großer kräftiger Junge zur Seite. Er baute sich direkt vor Gideon auf und warf sein bis auf die Schultern reichendes dichtes schwarzes Haar nach hinten. Provozierend meinte er: „Wisst ihr was, Menschenkinder, geht wieder in eure doofe Welt zurück. So etwas wie euch können wir hier nicht gebrauchen. Ihr habt ja von nichts ’ne Ahnung!“ Uber diese offene Feindseligkeit erschrocken, brachte Gideon erst einmal kein Wort über die Lippen. Auch die anderen wichen entsetzt zurück. Mit einer solchen Abneigung hatten sie nicht gerechnet. Hope fasste sich als Erste wieder. Sie tippte dem Jungen auf den Arm: „Hör mal, du Namenloser, zuerst einmal hast du ganz bestimmt keinen Anstand, sonst hättest du dich zumindest vorgestellt, und zum anderen: Deine Meinung interessiert uns nicht. Wir wollen hier etwas lernen, genau wie ihr — und wer es besser kann, das werden wir noch sehen.“ Der Junge wandte sich ihr zu. Er brachte sein Gesicht ganz nah an ihres: „Mein Name ist Homer, Homer Dobson, und mein Vater ist einer der Minister. Wir brauchen hier keine Fremden, die alles durcheinanderbringen.“ Einige der anderen Schüler stimmten ihm lautstark zu.

      Nun mischte sich auch Amelia wieder ein: „Homer Dobson, du bist und bleibst ein Stinkstiefel! Lass sie in Ruhe! Sie haben dir wirklich nichts getan.“ Höhnisch betrachtete er das empörte Mädchen: „Natürlich, genau die Richtige setzt sich für diesen Abschaum ein. Auch du dürftest eigentlich gar nicht hier sein. Kinder von Verbrechern gehören nicht an diese Schule.“ Amelia wurde kreidebleich, Tränen traten ihr in die Augen. „Mein Vater ist keinVerbrecher!“, rief sie. Homer lachte scheinbar amüsiert auf: „Nein, sicher ist er keinVerbrecher. Er ist nur ein Säufer und Mörder — oder willst du vielleicht bestreiten, dass er im Suff einen der Minister im Hinterhof erstochen hat? Er wurde auf jeden Fall verurteilt. Das Banish ist um einen Mörder reicher. Wenn man es genau betrachtet, bist du eine Mördertochter!“ Teilweise ertönte grölendes Gelächter. Andere wieder fanden es gemein, wie sich Homer gegenüber Amelia benahm. So bildeten sich schnell zwei Lager.

      Amelia fing nun endgültig zu weinen an. Tränen bei Mädchen konnte Gideon wiederum nicht ertragen. Er tippte seinem ebenbürtigen Gegner ziemlich heftig gegen die Brust: „Hör mal, du Scheißer, so spricht man nicht mit einem Mädchen. Sie hat dir nichts getan, also entschuldige dich bei ihr, verstanden?“ Hope, Betsy und George versuchten zu vermitteln, doch vergebens. Ein Wort gab das andere, bis Homer mit folgenden Worten das Fass zum Überlaufen brachte: „Weißt du was, fahr zur Hölle, du Blindgänger!“ Gideon knurrte wütend und warf sich auf Homer. Auch unter den anderen Schülern brach ein Tumult aus. Innerhalb weniger Sekunden brach die schönste Prügelei los.

      Betsy, Hope, George und die immer noch weinende Amelia waren die Einzigen, die sich nicht daran beteiligten. Sie versuchten verzweifelt, die Kampfhähne wieder zur Vernunft zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Langsam wurde Hope rechtschaffen wütend auf Gideon. Wie konnte er sich nur so auffuhren, sich wie ein Gassenjunge prügeln?!

      Da nahte auch schon Hilfe. Der Busfahrer und Dr. Dummeros kamen angerannt. „Aufhören! Sofort aufhören!“, rief sie. Mr. Bone packte die am nächsten Stehenden am Kragen und riss sie auseinander. Alexis Dummeros bediente sich weniger drastischer Mittel. Sie schwang einfach ihren Zauberstab ziemlich schnell im Kreis herum, immer schneller, bis ein Wind entstand, der eine solche Wucht entfachte, dass es sämtliche Streithähne von den Füßen riss.

      Verdattert saßen sie nun auf ihrem Hosenboden, nicht wissend, wie ihnen geschehen war.

      Das war so ein lustiges Bild, dass Hope, Betsy, George und sogar Amelia lauthals lachen mussten. Sogar Mr. Bone schmunzelte. Er hatte sich vor der Windattacke in Sicherheit gebracht. Dr. Dummeros hatte die Hände vor der Brust verschlungen und sah die Schüler wütend an: „Was bitte hätte das geben sollen? Sie wissen alle ganz genau, dass keine Prügeleien geduldet werden. Dies wird Konsequenzen haben. Sie alle müssen bereits jetzt schon, bevor das Schuljahr überhaupt begonnen hat, mit Minuspunkten in Ihrem Benimmheft rechnen!“ Sie musterte die beiden Jungs, die sich ganz alleine abseits der anderen geprügelt hatten: „Ich muss wohl nicht fragen, wer hier das Ganze angezettelt hat, nicht wahr, Mr. Dobson? Und Sie, Mr. Marshall, enttäuschen mich doch sehr. Ich habe geglaubt, Sie hätten schon eine gewisse Reife. Anscheinend habe ich mich geirrt.“ Sie wandte sich von den beiden nun betreten zu Boden schauenden Jungs ab und den vier einzigen zu, die sich nicht beteiligt hatten: „Es freut mich, dass wenigstens ein paar Verstand genug besitzen sich nicht wie Neandertaler zu verhalten. Sogar ein Junge ist mit dabei, mein Kompliment. Warum wurde eigentlich gestritten, Miss McMore?“

      Betsy erzählte es ihr. Vor Empörung wurde Dr. Dummeros Rücken ganz steif. Sie zitierte Homer zu sich: „Mr. Dobson! In dieser Schule sind alle, ich betone, alle willkommen. Sie

      haben hier nicht das Sagen und somit auch keinen Kommentar abzugeben, ist das ein für alle Mal klar?“ Leicht mürrisch bestätigte er es. Er getraute sich nicht mehr zu widersprechen, sonst würde er schon bald im Banish enden. Dr. Dummeros war nämlich eindeutig sauer, oh ja, ziemlich sauer. Verstohlen wischte er das Blut seiner offenen Handknöchel an seinen Hosen ab. „Okay, dann steigen Sie in den Bus ein und verhalten Sie sich ruhig, bis wir das Schloss erreichen. Ich werde im Bus alle noch einmal genau darüber informieren, wie es in der Schule läuft respektive was toleriert wird und welches Verhalten Minuspunkte gibt.“

      Mr. Bone setzte sich hinter das Steuer. Nachdem alle eingestiegen waren, startete er den Motor und schloss die Türen. Während sich der Bus ohne jegliches Schaukeln in die Luft erhob, begann sie mit ihren Erklärungen: „Beinahe alle hier wissen, dass es in Hagith bestimmte Regeln gibt, bei Verstößen werden in Ihrem Benimmheft Minuspunkte eingetragen. Es gibt 5, 10 oder 15 Punkte, je nachdem, wie der Lehrerrat die Schwere des Vergehens bewertet. Das, was Sie soeben geboten haben, bringt Ihnen sicher die ersten 15 Punkte ein. Wer in einem Jahr die 150-Punktegrenze übersteigt, der wird nicht in das nächste Jahr versetzt und muss für einen Monat ins Banish. Selbstverständlich steht ihm oder ihr dort ein Helfer bei. Folgende Vergehen geben Minuspunkte: Prügeleien! Stehlen! Mobbing von Mitschülern! Verlassen des Schulgeländes mit dem Besen und wenn die Nachtruhe nicht eingehalten wird. An dieser Schule befinden sich über hundert Schüler, da müssen einfach gewisse Regeln gelten. In etwa zehn Minuten werden wir Hagith erreichen. Ach ja, noch etwas sehr Wichtiges! Rund um das Schloss führt ein Labyrinth. Das zu betreten ist absolut untersagt! Wer zuwiderhandelt und diesen Abstecher überlebt, wird sofort ins Banish geschickt — und zwar für immer! Also bitte, seien Sie vernünftig und halten Sie Ihre Neugier zurück. Die wenigen Unvernünftigen, die es versucht haben, hatten nicht mehr das, Vergnügen“ das Banish kennen zu lernen. Sie kamen nämlich nie zurück! Schauen Sie jetzt doch nach vorne. Dort können Sie schon die Schule erkennen.“

      Tatsächlich erhob sich am Horizont ein stolzes Schloss. Viele Türmchen und Zinnen gaben dem Ganzen etwas Verspieltes. Ein großer Turm überragte alles. Dieser befand sich rechts hinten. Eine riesige gelbe Fahne flatterte im Wind und zauberte ein interessantes Schattenspiel auf die den Turm umgebende Fensterfront. Dort oben befanden sich das Büro und die Privaträume der Dekanin, wie Dr. Dummeros erklärte. Als sie nun immer näherkamen, sah man zwei Anbauten links und rechts der Schule. Auf der Seite mit den gelben Fensterläden befanden sich die Zimmer der Schülerinnen, auf der mit den blauen Läden die der Schüler. Die Anbauten konnten vom Schlosshof oder von innen her über die Eingangshalle