Elmar Weihsmann

Die Enthemmten


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und dass die Akademie nichts taugt, ist allgemein bekannt.“

      „Du hast das selbe Brett vorm Kopf, wie meine Mutter“, hatte Gary geantwortet und es kam zu einer kurzen Schlägerei zwischen den Droogs. „Du wirst sehen. Ich werde es schaffen. Im Herbst bin ich aus dem Sumpf heraus“, erzählte Gary überall und jedem und im September war er tatsächlich mit 100 Ölbildern, Zeichnungen und Skizzen nach Wien aufgebrochen, um zur Aufnahmsprüfung anzutreten.

      Gestern war er zurückgekommen. Es war ein Samstagabend Mitte November. Genau zwei Monate hatte es Gary außerhalb des verhassten Sumpfes ausgehalten. Plötzlich stand er unter den Tänzern auf dem Parkett im Gemeindesaal. Die Schülerkapelle drosch „Mr. Goldfinger“ von Tav Falco herunter. Sein Kopf glühte vom Alkohol, den er während der langen, bitteren Eisenbahnfahrt von Wien nach Kärnten hinunterschwemmte, um seine Enttäuschung zu ersäufen, nicht an die Hochschule für angewandte Kunst aufgenommen worden zu sein. Gary ließ einen Champagnerkorken knallen und bespritzte die Freunde mit Campus. Die Gruppe war wieder komplett und es sollte eines der legendärsten Besäufnisse werden, die es je auf einem Schulkränzchen gegeben hatte. Alle die im Frühling noch Rang und Namen am städtischen Gymnasium hatten und mittlerweile mit der Matura auf der Straße standen, waren zur Schulparty gekommen und es wurde ein rauschendes Fest. Unzählige Gläser und Flaschen gingen zu Bruch. Gary, Hödel und Mike fickten abwechselnd die Mädels aus der 6. Klasse, bis Doris und Ariane eifersüchtig wurden und eine Schlägerei mit drei sechzehnjährigen Schnepfen anzettelten, denen sie die Miniröcke vom Hintern rissen und mit ein paar Fußtritten in den nackten Arsch und Ohrfeigen aus dem Gemeindesaal prügelten. Den Mädels eilten fünf Teenager aus der Unter 21 Mannschaften zu Hilfe und Doris und Ariane verdrückten sich für zwanzig Minuten in Harrys Bar.

      Nach Mitternacht pisste ein Schüler aus der 5. Klasse in eine Ecke des Gemeindesaals und würde prompt von zwei Lehrern aus dem Saal getreten. Aus Solidarität zu ihren Klassenkameraden zogen die Schüler der Fünften geschlossen die Hosen hinunter und verrichteten ihre Notdurft auf den Tanzboden. Im Gemeindesaal verbreitete sich ein bestialischer Gestank. Die Tänzer und die fröhlichen Trinker an der Theke ergriffen die Flucht. Die eine, viel kleinere Gruppe zog sich in die überfüllte Kellerbar zurück und löste dort ein beängstigendes Gedränge aus. Andy, Doris, Gary und Mike versuchten einen wilden Bogo zu tanzen und warfen sich gegen die zusammengepferchten Teenager, was lebensgefährliche Wogen von zu Boden fallende, aufraffende und zurückgestoßene Mädchen und Jungen auslöste. Viele Teenies kreischten hysterisch und heulten. Die Ohrfeigen pfiffen. Die Hits der Killing Joke gingen im Tumult unter. Der weitaus größere Teil der Partygäste holte angewidert die Jacken und Mäntel aus der Garderobe und ging einfach nach Hause.

      Die Schüler der 7. Klasse, die das Fest organisiert hatten, krempelten die Ärmel hinauf, um die 5. Klassler zu verdreschen. Sie sollten ihre Scheiße zusammenpacken und dorthin stecken, wo sie hergekommen war. Bei der Saalschlacht ging die gesamte Bestuhlung zu Bruch. Dem Klassenvorstand der Siebenten gelang es, sich mit ein paar Schwingern den Weg aus dem Saal frei zu boxen. Er rannte auf den Hauptplatz und telefonierte mit den Cops.

      Postenkommandant Metall weigerte sich sein Revier zu verlassen. In der Nacht sei die Polizeistation immer unterbesetzt und bei dem Gesindel, das sich in der Gegend herumtrieb sei es unverantwortlich die Sicherheit der Bürger durch einen verlassenen Polizeiposten aufs Spiel zu setzten. Erst als der Klassenvorstand droht, über den Notruf im Landespolizeikommando Alarm zu schlagen, rückte Metall mit drei Kollegen, einem fetten, betrunkenen, altgedienten Dorfbullen und zwei Jungspunden an.

      Alle vier Ordnungshüter waren vom Alkohol gezeichnet und versuchten mit der Gummiwurst die Ruhe wieder herzustellen, was den Zorn der Teenager erst recht anheizte. Die Gewalttätigkeiten drohten endgültig zu eskalieren, als Metall in letzter Not seine Pistole zog und gezielte Schüsse über die Köpfe der Teenager hinweg abfeuerte. Die beiden Jungspunde zogen ebenfalls ihre Dienstwaffen, doch Metall hielt sie zurück.

      Der Form halber wurden fünf Verhaftungen durchgeführt und der Gemeindesaal geräumt.

      „Wohin gehen wir jetzt?“ fragte Doris, als sie auf der Strasse standen.

      Im Gemeindesaal waren nur die Schüler der 7. und der tobende Wirt zurückgeblieben, der ankündigte, die Veranstalter für die Verwüstungen haftbar zu machen. Viele Schüler weinten. Ihr Fest endete in einem Desaster. Statt der erhofften fetten Gewinne, war ein riesiger Schaden entstanden.

      Noch einmal wiederholte Doris ihre Frage, sie hatte keine Lust nach Hause zu gehen. Niemand machte einen Vorschlag. Hödel konnte aus eigener Kraft nicht mehr stehen. Andy hatte ein Cut am linken Auge, Mike und Gary hatten schwere Schlagseite und stützten Hödel. Von Ariane wusste niemand, wohin sie sich verkrochen hatte. Irgendwann im Laufe des Abends war es ihr wieder einmal gelungen unbemerkt von allen unterzutauchen. So beschlossen die Droogs nach Hause zu gehen, außer Doris, die noch in Harrys Bar weiterzog, um einen zu heben.

      Das war Garys erster Abend nach seiner Rückkehr. Ein gelungener Einstand nach zwei Monaten Abwesenheit, wie Hödel meinte.

      Hödel richtete die Waffe auf sein Bett. Unter der Decke schlief Doris ihren Rausch aus. Er zielte auf ihren schlanken, athletischen Körper, auf ihre Beine, sie wälzte sich auf die Seite, er nahm ihren Rücken ins Visier.

      Hödel überlegte, wie sie in sein Bett gekommen war, doch es war sinnlos sich an den gestrigen Abend zu erinnern. An eines von vielen Besäufnissen, das im Morgengrauen im Bett endete und sie waren beide zu blau, um mehr als einen Fick landen zu können.

      Hödel zielte auf Doris Kopf und drückte ab.

      Statt eines Schusses hörte er den Bolzen ins leere Magazin schlagen. Unschlüssig betrachtete Hödel die Waffe. Er steckte drei Patronen in die Kammern und drehte die Trommel. Drei, vier Mal drehte sie um die eigene Achse, dann stoppte er und hielt die Magnum an seine rechte Schläfe.

      Er drückte ab.

      Wieder krachte kein Schuss. Hödel ließt die Waffe sinken und steckte ein Stäbchen zwischen die Lippen. Er sah aus dem Fenster, suchte den Horizont nach einem Lebenszeichen ab. Der Wind zog aus den Bergen über die Ebene und trieb hohe Staubwolken über die abgeernteten Felder. Gierig rauchte Hödel ein paar Brustzüge, dann klappte er die Trommel aus dem Lauf und steckte fünf Patronen in die freien Magazinkammern. Er spannte den Hahn, die erste Kugel steckte im Lauf.

      Er schaute zum Türkenacker hinüber.

      Briefträger Bock radelte auf seinem verrosteten Waffenrad den Feldweg entlang. Hödel legte an. Im Visier verfolgte er den Radfahrer, dann zog er den Revolver nach links und feuerte drei Mal sicher ins Leere.

      Auf dem Feldweg verriss der Postler die Lenkstange und verlor prompt die Herrschaft über das Vehikel. Im hohen Bogen landete er auf dem staubigen Feldweg. Die Briefe langen über dem Acker verstreut und der eisige Nordwind trug die Post davon. Ohne besonderen Spaß daran zu haben, beobachtete Hödel, wie der Briefträger über den Acker jagte, um die verlorene Post einzusammeln, was der alte Bock auch schaffte. Seine blaue Uniform wurde von einem schmutzigen grauen Schleier überzogen. Bock schwang sich auf sein Vehikel. Mit der Faust drohte er in Hödels Richtung.

      „Der Teufel soll dich holen!“ schrie er. „Eines Tages findet sich schon einer, der dich umlegt“, waren Briefträger Bocks letzte Worte.

      Fünf Kugeln steckten noch im Magazin. Mühsam widerstand Hödel der Wut, dem frechen Kerl nach zu feuern, doch der Briefträger war schon außer Sicht.

      2.

      Schon der erste Tag in der Heimat wurde Gary von seiner Familie gründlich vermiest.

      Nach dem gelungenen Einstand bei der Schulparty stand Gary am Sonntag erst sehr spät auf. Viel mehr wurde er durch die Bratendüfte aus der Küche geweckt, doch er blieb bis nach dem Mittagessen im Bett liegen, um nicht dem Spott seines Vaters und den höhnischen Blicken seiner Geschwister ausgesetzt zu sein, ganz abgesehen von den Bevormundungen seiner Mutter. Kurz nach Eins, als die Anderen sich zum Mittagsschlaf hingelegt hatten, stand Gary auf, duschte ausgiebig und zog sorgfältig frische Kleidung an. In der Küche trank er eine Tasse schwarzen