Elmar Weihsmann

Die Enthemmten


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seiner Stimme autoritäre Kraft zu verleihen, ein Versuch, der kläglich in die Hosen ging und grollendes Gelächter erntete.

      Hände wurden durch die offenen Fenster in den Streifenwagen gestreckt. Die Ohrfeigen pfiffen. Sanders schrie und brüllte, doch die Teenager scherten sich einen Dreck um seine Drohungen. Ralf und Robby gelang es einen Pflasterstein aus der Fahrbahn zu reißen und schleuderten ihn gegen die Windschutzscheibe, die unter der Wucht des Aufpralls zersprang.

      Ein Splitterregen hagelte auf Sanders nieder. Hände und Gesicht bluteten. „Ich werde euch alle ins Loch befördern!“ schrie Sanders verzweifelt.

      Mike sprang auf die Kühlerhaube und packte Sanders am Revers.

      „Soll ich dir sagen, wo deine Drohungen bei mir hinein gehen und wo wieder raus kommen?“ Mike reckte seinen Arsch in den Streifenwagen und ließ einen gewaltigen Schass fahren.

      Sanders versuchte mit den Zähnen nach dem Hosenboden zu schnappen, prallte jedoch am fest gespannten Jeansstoff ab.

      Die Jugendlichen applaudierten.

      Robby Moor sprang als nächster auf die Kühlerhaube, machte den Hosenstall auf, holte sein Gerät heraus und brunzte in den Streifenwagen. Ein gelber Strahl verunreinigte die Bullenuniform.

      Wieder wurde applaudiert. Die Jungendlichen schüttelten den Streifenwagen durch. Baseballschläger wurden aus den Fliegerjacken gefischt und gegen das Blech gedroschen.

      Ralf sprang auf den Kühler um es Robby Moor gleich zu tun.

      Ein Baseballschlägerhieb zertrümmerte die Heckscheibe des Streifenwagens. Weitere Hiebe rissen die Blaulichter vom Dach. Die Sirene wurde unter den Knüppelhieben gespalten.

      Doris bewies Courage. „Hey, Boys! Ich zeig’ euch, wie man’s richtig macht“, verkündete sie und kletterte galant von Andy und Mike gestützt auf die Kühlerhaube. Die Boys stimmten „Steams of Whisky“ an.

      Doris ließ den Mini die Beine hinunter gleiten und hockte sich über den Fahrersitz hin. Applaus brandete auf. Sie verrichtete auf Sanders Schoß die Notdurft. Aus ihrer Handtasche angelte sie eine Schere und schnitt ihm die Krawatte ab, um den Arsch zu wischen. Sanders musste sich übergeben. Doris sprang von der Kühlerhaube.

      „Vorwärts Boys! Runter mit der Uniform!“ kreischte ein Mädeltrio aus der siebenten Klasse. In weniger als zwei Minuten kauerte Sanders nackt hinterm Steuer. Die Uniform wurde mit Benzin übergossen und verbrannt. Im ersten Stock der umliegenden Häuser ging das Licht an.

      „Was ist denn da unten los?!“ schrie jemand auf die Strasse hinunter. Ein Glatzkopf erschien mit einer Schrottflinte im Fenster und feuerte ohne weiter zu fackeln einen Warnschuss ab.

      Die Jugendlichen gingen in Deckung. Für einen Moment herrschte Ruhe und das Fenster wurde wieder geschlossen.

      Sanders schrie nach Leibeskräften um Hilfe.

      Die Jugendlichen umringten wieder das Auto. Sie stellten den Streifenwagen quer. Trotz heftiger Tritte und Bisse von Sanders gelang es einem Teenager aus der achten Gymnasium den Gang auszukuppeln und die Handbremse zu lösen. Der Streifenwagen rollte nach hinten los. Sanders kurbelte am Lenkrad herum, um seine Peiniger niederzufahren.

      Die Jugendlichen sprangen zur Seite und rannten hinter dem Streifenwagen her. Sie schoben den Golf an, um das Tempo zu steigern. Der Golf raste die 10. Oktoberstrasse hinunter. Vor Marinas Disco schnitt der Steifenwagen einen schwarzen Ford. Sanders verriss das Steuer und krachte gegen vier geparkte GTIs.

      Pepe Roja kam mit seiner Gang aus der Disco, vier aufgedonnerte Puppen im Schlepptau.

      „Hey, was ist denn mit dem los! Bleib stehen, du Arsch!“ schrie Pepe Roja. Sanders dachte nicht daran anzuhalten und sich noch einmal verdreschen zu lassen. Er wollte nur weg von hier und sich in Sicherheit bringen.

      „Vorwärts! Den schnappen wir uns“, kommandierte jemand in seinem Rücken.

      Die sieben Typen, alle Holzfäller mit Eichenkastenstatur, nahmen die Verfolgung des flüchtenden Golfs auf. Der Streifenwagenmotor sprang an. Sanders trat die Kupplung, mit dem rechten Knie versuchte er den Gang einzulegen.

      „Du kommst uns nicht davon!“ brüllte einer der Verfolger. Der Typ zog eine 22er Masterpiece aus dem Schulterhalfter und eröffnete das Feuer.

      Die Kugel durchschlugen die Reifen. Der Golf brach nach links aus, raste über den Bürgersteig hinaus und kappte einen Hydranten. Eine Fontäne schoss in die Höhe. Der Streifenwagen überschlug sich und landete im Flussbett.

      Pepe Roja kam mit seinen Kumpanen angetrabt. Die Typen stülpten Totschläger über die Fäuste, Ketten und Knüppel wurden aus den Lederjacken gefischt. Sie ignorierten den Wasserstrahl aus dem zerstörten Hydranten. Einer der Droogs sprang in den Niedrigwasser führenden Fluss und riss die Tür des Streifenwagens auf. Ein ekelig, beißender Gestank verschlug ihm den Atem. Der Jungspund Sanders lag leblos über das Lenkrad gebeugt. Aus einer Platzwunde am Kopf floss Blut.

      „Den hat schon einer vor uns fertig gemacht!“ schrie der Typ im Wasser zu seinen Droogs hinauf.

      „Lass uns abhauen, Belmondo“, antwortete Pepe Roja, dem die Sache zu heiß wurde. „In dieser Scheißstadt gibt es nur Zombies.“

      „Hey, und was ist mit uns?“ protestierte eine der Puppen.

      „Vögeln können wir euch auch bei uns zu Hause“, antwortete Jack Lang und spuckte auf das Wrack im halb ausgetrockneten Fluss hinunter.

      „Hey, Honey pie, ihr seit um keinen Deut besser als die anderen Hosenscheißer“, lästerte eine der vier Kühe.

      „Schnauze, Schnalle“, fuhr Jack lang die Puppe an.

      Die Galgenvögel ließen die Totschläger, die Knüppel und die Ketten in die Lederjacken verschwinden und zogen mit den Mädels ab.

      9.

      Hödel wählte den Umweg über die Süduferstrasse. Sehr zu seinem Ärger unterhielten sich die Mädchen ausschließlich in Englisch. Ariane war wie verwandelt, sie lachte und flirtete und genoss die Gegenwart der lange vermissten Cousine, die sie während der Tagträume an der Supermarktkasse herbeigesehnt hatte. Das Fräulein war bildhübsch, groß, mit ausgezeichneter Figur, charmant, ohne einen Anflug von Hochnäsigkeit und Zynismus. Janet war die Freundin, die Ariane sich immer wünschte, jetzt konnte alles anders werden. Janet würde sie unterstützen und ihr den notwendigen Halt geben, um sich gegen die ekelhaften Onkel und Tanten durchzusetzen, die sie zwingen wollten, als Hilfsarbeiterin in der Fabrik anzufangen.

      Ariane wollte Kindergärtnerin werden, aber keiner von ihren verlogenen Verwandten war bereit ihr das Geld für die Ausbildung zu leihen. Im Gegenteil. Sie behandelten die Nichte wie eine Leibeigene, beschimpften und demütigten sie, niemand kümmerte sich darum, was aus dem Mädchen werden sollte.

      Arianes Mutter hatte schon vor zwanzig Jahren die Schnauze voll und konsequent entfernte sie sich aus dem Sumpf, ohne auf jemanden Rücksicht zu nehmen. Erster Job als Kellnerin in der Saison am Wörthersee. Ab Oktober als Serviererin in einer Bar in Villach bis Weihnachten. Wintersaison als Stubenmädchen am Arlberg. Weit weg vom tyrannischen Vater und den versoffenen Brüdern. Urlaub auf Teneriffa. Die erste von vielen Ansichtskarten traf ein. Die Zwischensaison in einem Restaurant in Spittal an der Drau als Küchengehilfin gearbeitet. Bekanntschaft mit einem Salzburger. Sommersaison 1990 im Schloss Mönchsberg. Gutes Führungszeugnis. Vom Stubenmädchen zur Kellnerin und Rezeptionistin hinaufgearbeitet. Urlaub auf Gran Canaria. Ansichtskarten. Zweite Schwangerschaft. Kündigung. Trennung vom Verlobten. Postkarte aus Schweden. Schwangerschaftsabbruch. Verlobung mit Björn Erik. Nach vier Monaten in Göteborg nach München übersiedelt. Engagement als Tänzerin in einem Nachtklub. Bekanntschaft mit einem Texaner. Heirat der Schwester in Austin. Ansichtskarten und Fotos von der Hochzeit. Verlobung mit John in Dallas. Heirat im selben Jahr. „Im Sommer hole ich dich nach Texas“, schrieb sie an die Tochter in Ktn.

      Dann kamen die Briefe und die Ansichtskarten seltenen.