Elmar Weihsmann

Die Enthemmten


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antwortete Hödel, ohne von der Strasse zu sehen. Konzentriert steuerte er den Lieferwagen in der stockdunklen Nacht. Trotz des Fernlichts raste er praktisch blind über die Bundesstrasse. Ariane schaltete das Kabinenlicht ein, sie sah auf die Uhr.

      „Wir sind verdammt spät dran.“

      „Es ging wirklich nicht früher. Ich war wieder mal blank. Wenn das arschgefickte Bullenkind nicht gekommen wäre, hätte ich keinen Groschen für den Sprit gehabt“, antwortete Hödel.

      „Warum hast du nicht Madisons Shit verkauft?“

      „Ging nicht. Alle sitzen im Kino und schauen wie die Blöden den Italo-Western an.“

      „Gib mir einen Joint.“

      „Das kostet einen Zwanziger“, antwortete Hödel, ohne von der Strasse zu sehen.

      „Fick dich doch selbst.“ Arianes Hand glitt in seine Jackentasche und fischte die beiden Joints heraus. Einer verschwand sofort in ihrer Manteltasche, den zweiten steckte sie zwischen die Lippen. Kommentarlos rauchte sie, hin und wieder tauschten sie den Joint. Hödel sprach kein Wort. Mit der rechten Hand schlug er den Takt zu den Meteor-Songs und starrte auf die Strasse.

      Weit und breit war kein Auto zu sehen. Es begann zu regnen. Ein scharfer Nordwind blies aus den Bergen ins Tal. Beide froren im Cockpit des Lieferwagens.

      Plötzlich unterbrach die Zentrale die stoischen Verkehrsmeldungen von der Autobahn.

      „An alle! Anschlag auf ein Cafè am Villacher Bahnhof! Fahren Sie sofort zum Tatort!“

      Die Meldung wurde noch drei Mal wiederholt, dann wechselten die Sprecher. Eine Machostimme gab Befehle: „Also, ihr schwulen Auspuffficker auf der Autobahn! Ihr hört sofort auf eure Schwänze zu befingern. Ein paar Gangster haben mit einer Brandbombe das Cafè Spatz ausgeräuchert. Vier Huren, zwei Zuhälter und ein Freier sind dabei draufgegangen, um alle ist kein Schaden. Ihr klemmt eure Ärsche hinters Steuer und riegelt die Peripherie ab. Und dass ja keiner von euch in einem Puff verschwindet!“

      Der Funkverkehr brach ab.

      Ariane heulte auf: „Auch das noch! Wir sind sowieso zu spät dran und dann sperren die Bullen das Bahnhofsviertel ab.“

      Ohne auf Arianes Gezeter zu hören, fuhr Hödel in Steindorf von der B 94 ab und nahm die Süduferstrasse nach Villach. Unterwegs entledigte er sich der Gummiwurst, der Brieftasche und des Halfters, die im Ossiacher See versanken. Die beiden Faustfeuerwaffen versteckte Hödel in zwei Papierkörben vor dem verlassenen Campingplatz.

      Ariane wischte mit dem Handrücken die Tränen weg. Was würde die Cousine von ihr denken? Sie kamen zu spät, um sie vom Bahnhof abzuholen und denn dieser Aufzug. Mit zerrissener Jacke und Bluse, Laufmaschen an den Strümpfen und verheulten Gesicht.

      Hödel fuhr am Limit. Um das bedrückende Schweigen zu brechen drehte er die Musik lauter. Der Sound wechselte. Tav Falco and the panther burns spielten „Mr. Goldfinger“.

      Vor Landskron trafen sie auf eine Straßensperre. Ein Frischling warf einen flüchtigen Blick auf die Ladefläche des Pritschenwagens und winkte sie weiter. Der Überfall auf den Jungspund in Forester war noch nicht entdeckt worden.

      Endlich erreichten sie Villach. Die Polizei leitete den Verkehr über die Autobahn um, was Hödel und Ariane noch eine Stunde kostete. In der Innenstadt herrschte das Verkehrschaos. Die Autos der Neugierigen verparkten die Strassen. Hödel musste den Pritschenwagen gut fünfhundert Meter vom Bahnhof entfernt stehen lassen. Zu Fuß eilten sie weiter, hinter den Rücken der, in vierer und fünfer Reihen zusammengedrängten, Menge, die die Löscharbeiten der Feuerwehr beobachtete.

      Hödel zog Ariane hinter sich her. Durch einen Nebeneingang kamen sie endlich auf den Bahnsteig. Außer Atem hetzten sie in die Wartehalle. Auf einem Berg von Koffern und Reisetaschen thronte eine vollbusige, langbeinige Blondine und sah über die Köpfe der Herumstehenden hinweg zur Feuersbrunst hinüber. Sie vertrieb sich die Zeit mit starkem Zigarettenkonsum, gut zwanzig Tschikkippen lagen um den Kofferberg auf dem Steinboden verstreut.

      Kaum sah Hödel Janet warf er sich auf die Knie und machte ihr einen lautstarken Heiratsantrag, den jeder in der Halle mit grollendem Gelächter quittierte.

      Irritiert sprang die Blondine von ihrem Thron und klebte dem unbekannten Draufgänger eine.

      Ariane heulte vor Scham. Sie wurde in die Arme genommen und zärtlich geküsst.

      „Wo wart ihr denn so lange?“ fragte Janet, als sie die Taschen aus der Halle schleppten.

      „Wegen des Anschlags ist alles abgesperrt. Die Neugierigen blockieren den Rest der Stadt“, erklärte Hödel, der sich ins Zeug legte, um bei Janet Eindruck zu schinden.

      Zu dritt schleppten sie die Koffer und Taschen zum Lieferwagen. Geschickt manövrierte Hödel die Pritsche aus dem Chaos. Sie passierten ohne weitere Verzögerungen zwei Straßensperren.

      Hödel gab Gas.

      8.

      Nach den Schlägereien um die letzten freien Plätze im Kino war der Kinobesitzer clever genug eine zweite Vorstellung von „Für ein paar Dollar mehr“ einzuschieben. Auch diese war binnen weniger Minuten ausverkauft. Die Kids blieben einfach auf ihren Stühlen sitzen und zahlten an den Billeteur den Eintritt, auch für eine dritte Vorstellung, die erst nach Mitternacht beginnen konnte, wurden bereits Karten verkauft.

      Harry eilte sofort nach dem letzten Schuss aus dem Saal, um seine Bar aufzusperren, doch er sollte bis zwei Uhr früh warten, bis endlich die ersten Kids mit dramatischen Neuigkeiten vorbei kamen.

      Während der zweiten Vorstellung kam es zwischen dem Kinobesitzer und einigen Eltern zu Auseinandersetzungen, die ihre vermissten Kids im Kinosaal suchten. Dr. Klein zerrte seine Tochter an den Haaren aus dem Kino. Das Mädel taumelte benommen hinter ihrem Vater her, die nicht begriff, wie ihr geschah, und sich von Gian Maria Volontè am Schopf gepackt spürte. Im Foyer fing sie vom Banditen Indio zwei väterliche Ohrfeigen ab, mit einer dritten wurde sie ins Auto bugsiert. Der Auftritt von Dr. Klein wurde mit einem Pfeifkonzert quittiert. Robby Moor versuchte ritterlich die Entführung seiner Freundin zu vereiteln und musste einen Tritt in die Eier einstecken. Der Kinobesitzer tröstete Robby Moor mit einem Glas Sangria und zwei Freikarten für den nächsten Film.

      Gegen halb eins endete die zweite Vorstellung. Der Billeteur hatte alle Hände voll zu tun, den selbstgebrauten Sangria auszuschenken und gleichzeitig den Saaleinlass zu betreuen. Die dritte Vorstellung war gut zur Hälfte besetzt. Die Betreiber des kommunalen Kinos waren mehr als zufrieden, sie hatten mit ihrer Konzession an den Publikumsgeschmack die vier nächsten Filme vorfinanziert, ohne eine einzige Eintrittskarte dafür verkauft zu haben. Der Film lief bereits eine halbe Stunde, der Billeteur rollte schon die Plakate und die Aushangfotos ein, als die Hälfte der Westernfans angesäuselt abzog.

      Mike, Andy, Doris und Gary hatten während der beiden Vorstellungen eine Flasche Whisky und gut fünf Liter Sangria geleert. Mit zwanzig Kids zogen sie schwer schlagseitig die Kirchgasse ins Zentrum hinunter. Gary stimmte „Dirty Old Town“ an, das zum Gaudium aller vielstimmig intoniert wurde.

      Keiner hörte die Hilferufe von Jungspund Sanders, der aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht und ernüchtert im Streifenwagen hockte. Über Funk konnte er keine Hilfe rufen, der Angreifer hatte das Funkgerät demoliert.

      Sanders hatte den Täter nicht erkannt und an den Überfall und seine Kollision mit der Marmorsäule der Bank konnte er sich erst recht nicht erinnern. Die Handschellen saßen fest um die Gelenke und schnürten ihm das Blut in den Fingern ab. Er hatte zu hupen versucht, doch die Hupe funktionierte nicht. Mit einiger Mühe war es ihm gelungen den Streifenwagen zu starten, aber es gelang ihm nicht den Retourgang einzulegen. Endlich sah Jungspund Sanders die erhoffte Hilfe kommen.

      Die Jugendlichen grölten die letzte Strophe von „Dirty Old Town“, als sie unerwartet auf den Streifenwagen stießen.

      „Hey, wen haben wir denn da?“ rief Robby Moor, der frustriert