auf die eigenständige Bedeutung des Individuums als „Mitbegründer“ der Wirklichkeit. Die damit betriebene Rehabilitation des Subjekts durch Verschmelzung der Wissenssoziologie mit der Diskurstheorie nach Foucault ist jedoch nach Keller kein Ausdruck einer irgendwie gearteten „Subjektsphilosophie“. Vielmehr geht auch die Wissenssoziologie von einer Vorstrukturierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus, jedoch eröffnet diese Perspektive den Blick auf die Momente des Subjekts und ermöglicht so die Berücksichtigung gesellschaftlicher Akteure und deren diskursiver Positionen (vgl. Keller 2005, 64ff.).
Diaz-Bone bezweifelt eine derartige fruchtbare Verbindung beider “Forschungslager“ und verweist auf die vermeintlichen theoretischen wie methodologischen Inkompatibilitäten einer Arbeitsteilung zwischen Mikrowissenssoziologie (Berger / Luckmann) und Makrowissenssoziologie (Foucault). Für ihn ist die interpretative Analytik mehr als eine „spätstrukturalistische Hermeneutik“ von Texten, denn sie bezeichnet das System der diskursanalytischen Strategien und Denkweisen für den Forschungsprozess insgesamt (Diaz-Bone 2005, 181). Mit der Anwendung qualitativer Methoden soll jedoch nicht das Grundkonzept des interpretativen Paradigmas übernommen, sondern die bestehenden Überschneidungen und Verbindungen von Diskurstheorie und Wissenssoziologie in der Forschungspraxis betont werden und „die Herausforderung auch in methodologischer Hinsicht liegt [vielmehr] darin, Ansätze zu entwickeln, die beide Ebenen sinnvoll miteinander verknüpfen“ (Waldschmidt 2003, 150).
Auf diesem Wege lässt sich auch die beschworene Kluft zwischen Strukturalismus und Hermeneutik überwinden. „Alle Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, was immer sie sonst noch tut, problematisiert grundsätzlich die Annahme, man wisse, wie etwas ‘wirklich‘ sei, ohne dass man einsichtig machen könnte, wie man solches überhaupt wissen kann. (...) Ihr Anspruch besteht (...) darin, die Grundoperationen sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung schlechthin ihrer epistemologischen Naivität zu entkleiden, sie zu rekonstruieren und zu erhellen“ (Hitzler / Honer 1997, 23f.). In dem die sozialwissenschaftliche Hermeneutik problematisiert, „wie etwas wirklich sei“ und die Forschung „ihrer epistemologischen Naivität“ entkleidet, relativiert sie strukturalistische Vorbehalte zur Existenz von „Wahrheit“ und „Sinn“ und schlägt somit eine Brücke zur gemeinsamen Analyse von Alltag, Medien und Wissenschaft:
„Von ‘interpretativer Analytik‘ spreche ich auch deswegen, weil sich die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Unterschied zu anderen Ansätzen qualitativer Sozialforschung nicht per se für die ‘Bedeutungseinheit‘ eines einzelnen Dokuments (etwa eines Textes) interessiert, sondern davon ausgeht, dass ein solches Datum nur Bruchstücke oder ‘Fragmente‘ (Siegfried Jäger) eines oder mehrerer Diskurse artikuliert. Deswegen bricht sie die materiale Oberflächeneinheit der Texte auf und rechnet die Ergebnisse der analytischen Zergliederung und interpretierenden Feinanalyse mitunter auf verschiedene Diskurse zu. Daraus entsteht stufenweise das Mosaik des oder der untersuchten Diskurse“ (Keller 2005, 68).
2.4.6 Diskurstheorie und Cultural Studies: Kultur als Kampf um Bedeutung
In den Cultural Studies wurden vor allem Stuart Hall und John Fiske dafür bekannt, poststrukturalistische Einsichten in die Macht der Struktur mit der Vorstellung eines eigenständigen Handlungsspielraums des Subjekts und einem Fokus auf die Rezeption zu verbinden. Sowohl Vertreter des Poststrukturalismus als auch der Cultural Studies negieren die marxistische Vorstellung von Basis und Überbau und der determinierenden Kraft der Ökonomie und rücken die Kultur ins Zentrum der Betrachtung. Im Zuge des „cultural turn“[40] verquickt das Konzept von Kultur als „signifying practice“ mit ihrem eigenen „determinate product: meaning“ (zit. nach Hepp 2008, 116) das determinierende Moment des Diskurses mit einer gewissen Freiheit der Aneignung, Momenten des Subjekts.[41] Dies geschieht unter anderem mit Hilfe von Konzepten der Polysemie und des Dekonstruktivismus (Derrida, Barthes). In Anlehnung an Michel Foucault kann Kultur „nämlich als Summe der verschiedenen Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen verstanden werden, die Sprache verwendet, um den Dingen Bedeutung zuzuordnen“ (Hall 2002, 108).
Von besonderer Relevanz für diese Arbeit ist die angenommene Zentralität von Kultur im „Kampf um Bedeutungen“, dem „Klassenkampf in der Sprache“ (Hall 1999a, 101). Analog zur Frage des Verhältnisses von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken behauptet Hall nicht, “dass »alles Kultur ist«, sondern dass jede soziale Praktik sich auf Bedeutung bezieht, dass Kultur folglich eine Existenzgrundlage dieser Praktik ist und dass somit jede soziale Praktik eine kulturelle Dimension hat. Nicht dass es nichts als den Diskurs gibt, sondern dass jede soziale Praktik einen diskursiven Charakter hat“ (Hall 2002, 113). Kultur (also auch das Verhandeln über das Wesen von Kultur in unserem Fall am Beispiel der Musik- und Literaturbranche) ist ein zentraler Ort sozialer Auseinandersetzung und die im Diskurs zum Ausdruck kommenden variierenden Kultur- und Gesellschaftsbegriffe sind Ausdruck politischer Interessen und gesellschaftlicher Positionen. Jedoch ist der Rezipient im Verständnis der Cultural Studies hierbei kein bloßes „Opfer“ manipulierender Botschaften der Kulturindustrie (vgl. Hall 1999a / 2002; Fiske 2007): „The people versus the power-bloc; this, rather than class-against-class, is the central line of contradiction around which the terrain of culture is polarized. Popular culture, especially, is organized around the contradiction: the popular forces versus the power-bloc” (Hall zit. nach Winter 1999, 59).[42]
Foucaults Hinwendung zur diskursiven Praxis lieferte „Anknüpfungspunkte für Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies auf der Suche nach der Vermittlung zwischen Kulturalismus und Strukturalismus, Struktur und Handlungsfähigkeit, Macht und Subversion“ (Thomas 2009, 61). Analog zur notwendigen Unabgeschlossenheit des Diskurses und der Möglichkeit des unvorhergesehenen Ereignisses bedient sich Fiske der Offenheit des Textbegriffes, um auf die Widersprüchlichkeiten der Populärkultur und die darin verborgenen Potentiale der Subversion hinzuweisen. Die Kulturindustrie bedarf der Leerstellen, um ihre Produkte erfolgreich in die Alltagskultur der „Leute“ zu implementieren. Jene Leerstellen, die mit „eigener“ Bedeutung gefüllt werden können, bergen das Potential widerständigen Verhaltens (vgl. Winter 1999). Fiske bezieht sich hierbei auf Foucaults „produktiven“ Machtbegriff als Kraft, „die immer in zwei Richtungen wirkt, ‘von oben‘ und ‘von unten‘“ (Thomas 2009, 65). Die Umdeutung der Macht von einem repressiven zu einem produktiven Faktor ermöglicht Fiske eine Analyse und Betonung der eigenständigen Handlungsspielräume der Bürger im Alltag (vgl. Fiske 2007).
Gleichzeitig steht der emanzipatorische und interventionistische Anspruch der Cultural Studies mit dem Ideal einer demokratischen Kultur quer zu einer Machtkonzeption á la Foucault, die die Dichotomie von Ausbeutern und Unterdrückten aufhebt und dessen Repressionscharakter verneint. Foucault gehe es nur „um eine (relative) Befreiung innerhalb der Machtverhältnisse“ (Lavagno, 2006, 48). Daher haben Vertreter der Cultural Studies Elemente der Diskurstheorie übernommen, die darin evidente Vernachlässigung der Rolle von Staat und Ökonomie kritisiert und um „machtkritische“ Konzepte der Ideologie und Hegemonie erweitert (vgl. Thomas 2009, 63 ff.).[43]
Neben den Annahmen der Zentralität von Kultur und der strukturalistischen / handlungstheoretischen Verbindung aus Selbst- und Fremdbestimmung ist es das Verständnis von Kulturbegriffen und Vorstellungen als Ausdruck gesellschaftlicher Machtkämpfe, das die Cultural Studies für diese Arbeit besonders relevant erscheinen lässt. Neben den ursprünglichen, normativen Kulturbegriff gesellt sich Ende des 19. Jahrhunderts ein totalitätsorientierter, der alles umfasst, „was über Natur hinausgeht“ (Moebius 2009, 18). Die Schwammigkeit und gleichzeitige Homogenität dieser Vorstellung führte im 20. Jahrhundert zu weiteren Differenzierungen. Im differenzierungstheoretischen Kulturbegriff bildet Kultur „ledigilich ein Subsystem unter vielen“ (ebd., 19). Aus dem cultural turn entsteht dann der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff, zu dem auch die Cultural Studies zu zählen sind, und dessen Grundannahme lautet, dass „weder die kulturellen Codes und Sinnsysteme noch die Praktiken, mit denen die symbolische Ordnung entweder ausgedrückt, realisiert oder (re-)produziert wird, eine überzeitliche Dauer oder universell gültige Merkmale aufweisen“ (ebd.).[44] Während in normativen Konzeptionen die Kultur als Selbstvergewisserungs- und Abgrenzungsinstrument der (vornehmlich) bürgerlichen Gesellschaft fungiert, stellen die Cultural Studies eben diesen Prozess der Ab- und Ausgrenzung und den Kampf um Deutungshoheit in der