Liliana Dahlberg

Lang lebe die Lüge!


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ein Verdacht. Es schien Gewissheit zu sein. Ein Kummer, der in Lauras Vergangenheit lag und wie Blei auf ihrer Seele gelastet haben musste. Er wog augenscheinlich so schwer, dass Laura mit allen Mitteln verhindern wollte, dass seine wahre Ursache je auch nur durch ein Wort an die Oberfläche gelangte.

      Laura hatte grundsätzlich nie über ihre Gefühle gesprochen, als sei dies die Maxime ihres Daseins gewesen. Ihr Gesicht, das oft so starr wie Marmor wirkte, war ihr größter Schutz und gleichzeitig auch ihr stärkstes Instrument.

      Laura hatte durch ihr Verhalten ihrer Tochter schon früh Rätsel aufgegeben. Diese Rätsel schienen von Jahr zu Jahr unlösbarer zu werden. Violett fragte sich oft, ob es einem erwachsenen Menschen selbst bei aller innerlichen Disziplin nicht möglich sein musste, die eigene Gefühlswelt doch zumindest der eigenen Tochter darzulegen, sobald sie das nötige Alter erreicht hatte, um diese zu verstehen. Sie war doch Lauras einziges Kind. Laura hatte außer ihr keine andere Bezugsperson. Doch Laura hatte, seit Violett denken konnte, ihre Festung der Gefühle stets unbeirrt verteidigt.

      Ihr seelisches Innenleben verbarg Violetts Mutter aber natürlich nicht nur vor ihrer Tochter. Auch gegenüber den Einwohnern ihres Wohnortes setzte sie eine Miene auf, die verbittert und keineswegs einladend oder herzlich wirkte und auf niemanden in Westshire eine anziehende Wirkung ausübte. Doch Laura erreichte durch ihr kühles Auftreten im Grunde ihr Ziel. Keine Menschenseele kam auf die Idee, sich nach ihrem werten Befinden zu erkundigen. Das Gespräch ging nie über die übliche Grußformel hinaus, wenn sich Lauras Wege mit denen der Einwohner kreuzte. Für echte Briten war dies eine außergewöhnliche Leistung.

      Violetts Gedankenkarussell begann, sich weiterzudrehen. In ihr stieg eine Erinnerung auf, die vielleicht so aussagekräftig war wie keine zweite. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder eines besonderen Abends Anfang Oktober, als sie gerade fünf Jahre alt war. Denn an diesem Abend teilte Laura mit ihrer Tochter zum einzigen Mal eine Erinnerung, die für Violett der Schlüssel zur Lösung des Rätsels ihres Lebens werden könnte. Violett versuchte krampfhaft, sich an jedes Detail zu erinnern.

      Der raue Herbst hatte die Insel gepackt. Ein starker Wind wirbelte die letzten Blätter von den Bäumen, die sich bisher noch nicht seiner Macht gebeugt hatten, und verabschiedete mit viel Geheul und Getöse den Spätsommer, der sehr mild gewesen und mit für Großbritannien selten langen Sonnenstunden bedacht worden war. Doch nun wurde, für jedermann hörbar, die neue Jahreszeit eingeläutet. Die alten Rollläden an den Wohnhäusern klapperten bedenklich. Der Wind pfiff mit einer solchen Stärke durch die Straßen, dass jeder froh war, zu dieser Stunde nicht mehr unterwegs sein zu müssen. Nur ein großer Romantiker hätte dem Lärm etwas abgewinnen und behaupten können, der Wind spiele seine eigene Melodie.

      So manchen Insulaner schauderte es in seinem gemütlichen Bett. Zu dem Naturschauspiel gesellten sich auch noch Blitze, die sekündlich einzuschlagen schienen. Die Themse wurde aufgewühlt und wirkte so unruhig wie sonst nur das Meer an der Küste und schien von einer mystischen Kraft bestimmt zu sein. Einzig die Meteorologen verfolgten das Geschehen an jenem Abend wohl eher mit interessierten als mit ängstlichen Augen. Sie wollten schließlich wissen, ob die Vorhersagen zutrafen, die sie in all den Zeitungen und über die Nachrichten verbreitet hatten.

      Zwar lebte Laura, seit sie Violett zur Welt gebracht hatte, viele Kilometer von der Hauptstadt, die das Epizentrum des Unwetters zu sein schien, entfernt, aber an diesem Abend blieb kein Flecken auf der Insel davon verschont. So blickte Laura besorgt aus dem Fenster und auf ihre kleine Violett, die sich mit aller Kraft an ihre Bettdecke klammerte, als könne sie der draußen tobende starke Wind ihren winzigen Händen entreißen. Die angespannte Stimmung, die für eine Kinderseele nicht gerade leicht zu verkraften war, schien sich jedoch unerwartet zu wandeln, weil Laura es selbst tat. In einem Augenblick, der nicht lange währte, aber dennoch …

      Lauras sonst so gut versiegelte Lippen, denen bisher noch kein Sterbenswörtchen über ihre Vergangenheit vor Violetts Geburt entschlüpft war, öffneten sich in dem Moment zum ersten Mal. Es war, als lüfte sich für einen kurzen Moment ein Schleier, der eine andere Welt zeigte, die nur Laura selbst zu kennen schien. Er ließ einen flüchtigen Blick auf ein anderes Leben zu, das wohl nicht mehr viel mit Lauras jetzigem gemein hatte.

      Als Laura sah, wie sehr sich ihre Tochter fürchtete, wollte sie Violett beruhigen und ihr die Angst nehmen. Sie setzte sich zu ihr auf die Bettkante, die im Lichtkegel einer alten Tischlampe lag. Die restlichen Winkel des Raumes wurden nur durch die wiederkehrenden Blitze am Himmel beleuchtet. Laura beugte sich zu Violett vor, um ihr über den Kopf zu streicheln. Kaum war sie ihrer Tochter durch deren goldbraun-gelocktes Haar gefahren, was diese mit einem seligen Seufzer zur Kenntnis nahm, richtete Laura sich wieder auf und gab ganz unerwartet etwas von einem Menschen preis, den sie einmal sehr geliebt haben musste. Dabei ließ ihre Tonlage zunächst darauf schließen, dass ihre Worte einer reinen Erzählung entstammten, die ihr Leben nicht berührte und in der sie überhaupt keine Rolle spielte. Auch wenn ganz sicher das Gegenteil der Fall war. Ganz so, als lese sie ihrer Tochter aus einem Buch vor.

      »Es gab einmal einen Menschen, der sich sehr über dich gefreut hätte, wenn er dich nur einmal zu Gesicht bekommen hätte. Er besaß nicht das Geld, mit dem er dich hätte ernähren können, aber sicher wäre seine Liebe dafür schon ausreichend gewesen.« Das waren zunächst Worte, die die kleine Violett nicht verstand. Die Stimme ihrer Mutter klang plötzlich sehr weit entfernt.

      Sie fuhr fort: »Dein Vater war ein außergewöhnlicher Mann.«

      Violett war überrascht, zum ersten Mal etwas über ihren Vater zu erfahren, und vergaß das Gewitter vor ihrer Haustür ganz und gar. Sie horchte merklich auf.

      »Wie heißt er?«, schoss es wie einer der draußen niedergehenden Blitze aus ihrem kleinen Kindermund.

      Laura schloss kurz die Augen, als wollte sie sich sein Gesicht ins Gedächtnis rufen. Ihr eigenes veränderte sich dabei unübersehbar. Ein glückerfülltes Lächeln zeichnete sich darauf ab. Ein Lächeln, das Violett so noch nie zuvor an ihrer Mutter gesehen hatte. Für das kleine Geschöpf war es schön und fremd zugleich. Laura antwortete in einer Tonlage, die schon um einiges gegenwärtiger klang.

      »Dein Vater hieß Cedric. Wie Frances Hodgson Burnetts ›Der kleine Lord‹. Ein Buch, das du sicher einmal später in der Schule lesen wirst.« Sie hielt kurz inne, ehe sie fortfuhr: »Man hätte in den Adern deines Vaters wirklich blaues Blut vermuten können. Für mich war er das, was man früher unter einem Edelmann verstand. Doch leider war er dies nicht in den Augen von …« Sie stockte kurz. Ihr Gesicht nahm wieder die ursprüngliche Spannung an. Eine Träne kämpfte sich schüchtern aus Lauras rechtem Augenwinkel hervor. Geweint hatte Laura in Violetts Beisein bis dahin noch nie.

      Laura rang sichtlich um Fassung und sagte: »Ich war damals als Einzige fähig, einen Adligen in alter und abgenutzter Kleidung zu erkennen. Denn mir war klar, dass diese vermeintlich so feinen Herrschaften nicht nur auf dem Papier und in den Villen Englands zu finden sind. Aber die Gesellschaft war wohl noch nicht reif …«

      Dann schloss Laura noch einmal die Augen. Doch diesmal sah man ihr an, dass sie eine Erinnerung genoss, offensichtlich die schönste, die sie besaß. Denn sie wirkte trotz der geschlossenen Augen wie ein seliger und glücklicher Mensch. Sogar ein sehr glücklicher.

      So schenkten sowohl Laura als auch Violett dem Unwetter keine Beachtung mehr, das draußen nach wie vor, durch das Fenster sichtbar, tobte und schwarze Wolken an den Himmel malte. Violett fühlte sich getröstet und Laura um eine wunderbare Emotion reicher. Sie hatte nicht nur Violett, sondern auch sich die Angst genommen. Doch dann fiel der Schleier ihres so gut gehüteten Geheimnisses wieder. Seitdem hatte er sich nie mehr gelüftet.

      Violett blieb in der Retrospektive und suchte in ihrem Gedächtnis weiter nach Anhaltspunkten. Sie wusste, dass dieser Moment an einem stürmischen Oktoberabend das einzige und letzte Mal gewesen war, dass Laura sie an ihrem Leben vor ihrer Schwangerschaft teilhaben ließ. Violett konnte sich natürlich nur ein schemenhaftes Bild von ihrem Vater machen, doch wusste sie schon als kleines Kind instinktiv, dass ihr das vorerst reichen musste.

      Violett dachte an ihre damalige Gefühlswelt.

      In ihr war von Jahr zu Jahr immer häufiger der unsagbar große Wunsch