Liliana Dahlberg

Lang lebe die Lüge!


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außer für die üblichen Rechnungen, Weihnachten und ihren Geburtstag – schließlich nie Geld ausgegeben worden war. An Geld für ihr Studium konnte es daher nicht fehlen! Violett führte dieses Argument nur an, um sich besser zu fühlen, denn sie glaubte den Grund für Lauras Haltung ja zu kennen. Aber jetzt war es nun einmal um ihr Leben gegangen – und nicht um Lauras!

      Der Blick ihrer Mutter hatte im Verlauf dieser Auseinandersetzungen – Violetts Erinnerung nach waren es insgesamt vier gewesen – einen stoischen Ausdruck angenommen, der den Eindruck erweckte, dass sie nie wieder ein Wort von sich geben würde und sich in diesem Moment ganz von ihrer Umwelt verabschiedete.

      Violett hatte dennoch weiterhin das Recht reklamiert, ihren Träumen nachjagen zu dürfen.

      Dass sie an einem denkwürdigen Abend – nur wenige Tage vor Lauras Tod – schließlich ganz die Beherrschung verlor, verursachte ihr jetzt starke Gewissensbisse. Doch sie hatte unter einem enormen Zeitdruck gestanden, da die Zeit, sich für das kommende Semester an irgendeiner Universität einzuschreiben, fast schon verstrichen war. Violett sah sich überhaupt nicht mehr in der Lage, auf die Bedürfnisse ihrer Mutter Rücksicht zu nehmen. Sie hatte an diesem Abend sprechen müssen, egal, wie schlimm ihre Worte in Lauras Ohren widerhallen mochten. In einem Ton, den sie ihrer Mutter gegenüber nie zuvor angeschlagen hatte, bestand Violett darauf, dass Laura endlich mit der Wahrheit herausrücken sollte. Sie sei schließlich ihre einzige Tochter und nunmehr erwachsen. Mit einer Stimme, die an Volumen gewonnen hatte, fragte Violett ihre Mutter, was ihr Verhalten, das ihr schon als kleines Kind Rätsel aufgegeben hatte, zu bedeuten habe und warum sie Züge eines irrationalen Sparzwangs aufweise. Diente er ihr als imaginäre Mauer, die sie von den Erinnerungen der Vergangenheit und ihrem einstigen Leben trennte? Violett wollte von Laura wissen, ob sie Angst davor hatte, dass die ihr offensichtlich so verhassten Familienmitglieder plötzlich überraschend vor ihrer Haustür stehen könnten. Am Ende sprach Violett das aus, was sie lange zurückgehalten hatte, um ihre Mutter nicht zu verletzen. Die Wörter sprudelten aus reiner Not und Verzweiflung ihr geradezu aus dem Mund. Violett sagte Laura mit einer bebenden Stimme, die aus dem Grund der Seele zu kommen schien, dass sie noch an das Ammenmärchen mit der Safari geglaubt habe. Violett war in diesem Moment so sehr in Rage, dass sie selbst davon überrascht wurde. Mit großer Wut fügte Violett hinzu, dass sie als ihre Tochter auch ein Anrecht auf die Wahrheit hätte. Sie fuhr fort, dass sie aus dem Märchenalter heraus sei, und betonte abermals, dass sie, Violett, als erwachsene Frau vor ihr stünde. Violett sagte mit durchdringender Stimme, sie wolle keine weiteren Lügen mehr hören. Sie sagte sogar zynisch zu ihrer Mutter, dass sie nicht die Kreativität und Fantasie ihrer Tochter weiter schulen solle, indem sie ihr beispielsweise weiszumachen versuche, ihre Familie sei an einer Erbkrankheit gestorben, die wie durch ein Wunder die eigene Generation übersprungen hätte, oder gar behaupten wolle, alle Familienangehörigen seien einem tödlichen Virus zum Opfer gefallen, den sie sich im Ausland eingefangen hätten.

      Violetts Fragen »Was haben sie dir angetan? Was ist mit meinem Vater passiert?« waren wie aus der Pistole geschossen gekommen. Für Laura mussten sie sich wie echte Schüsse angefühlt haben, aber sie schaffte es trotzdem, die Haltung der großen Geheimnishüterin aufrechtzuerhalten. Wie eine eiserne Lady. Violett hatte sich in diesem Moment hilflos und ihren eigenen Gefühlen ausgeliefert gefühlt. Mit wem stritt sie eigentlich? Mit der Wand?

      Sie hatte Laura schließlich nicht nach dem Versteck des Heiligen Grals gefragt, sondern nach der Wahrheit. Violett hatte sich langsam selbst nicht mehr gekannt. Ihr Körper sandte während ihres letzten Streits ständig Warnsignale aus. Sie hatte das Gefühl gehabt, innerlich zerrissen zu werden. All die Not der vergangenen Jahre war aus ihr herausgebrochen. Sie suchte Halt gesucht, den Laura ihr aber nicht hatte geben können. Nein, Laura war doch schuld daran gewesen, dass sie in eine tiefe Schlucht hinunterblickte. Wenngleich Laura die Not ihrer Tochter sicher deutlich gespürt, sie ihr regelrecht angesehen hatte, konnte sie auch in diesem entscheidenden Moment nicht über ihren Schatten zu springen und Violett endlich die Wahrheit zu sagen. Eine verpasste Chance, die nie wiederkommen würde. Das wussten beide zu diesem Zeitpunkt aber natürlich noch nicht. Lauras Geheimnis hatte am Ende über ihre Tochter gesiegt. Violett sah sich dazu gezwungen, ihren größten Lebenstraum aufzugeben: das Studium.

      Dann kam für Violett der Tag , an dem sie glaubte, tausend Blitze würden in ihr Haus einschlagen und ein Unwetter von nie gekannter Stärke ihre Wohnung heimsuchen, das einem Vergleich mit jenem im Oktober viele Jahre zuvor nicht standgehalten hätte. Es war ein Donnerstag. Dunkle, schwere Wolken, die sich eng zusammengeschlossen hatten, gaben dem Himmel eine finstere graue Farbe. Ganz Westshire schien durch die dicke Wolkendecke von der Sonne abgeschirmt und in ein düsteres Licht getaucht zu sein. Es war, als verschlucke das Grau des Himmels alle Farben im Dorf. Man hätte den Eindruck gewinnen können, eine graue Linse läge über allem. Trotz häufiger Regentage war die Wetterlage trüber als sonst; Melancholie machte sich breit.

       Violetts Mutter war wie immer früh zur Arbeit aufgebrochen, und Violett hatte sich nur wenige Stunden später für ihre Schicht im Café, in dem sie arbeitete, zurechtgemacht. Doch als Violett spät am Abend zurückkehrte, wunderte sie sich sehr, dass Laura noch nicht da war. Nach Geschäftsschluss blieb sie gewöhnlich nie im Laden, um Knöpfe anzunähen oder Kleidungsstücke zu kürzen. Arbeiten, die während der Ladenöffnungszeiten nicht mehr erledigt werden konnten, nahm sie stets mit nach Hause, sodass man hätte glauben können, sie sei die Inhaberin einer Kleiderkiste.

      Gegen zwanzig Uhr an diesem Donnerstag war Violett unruhig und überlegte gerade, ob sie wieder ins Dorf zum Laden ihrer Mutter gehen sollte, als es an der Tür klingelte. Violett war zunächst erleichtert gewesen und zur Tür gestürmt, um sie mit viel Schwung aufzureißen. Sie erwartete, ihre Mutter vor sich stehen zu sehen. Doch sie hatte nicht in das Gesicht ihrer Mutter geblickt, sondern in das des Dorfpfarrers Mr. O’Connell, der in Begleitung einer Frau mittleren Alters war, die Violett als Kundin ihrer Mutter wiedererkannte. Violetts Kehle war wie zugeschnürt. Sie traute sich kaum, zu atmen. Schnell stiegen Tränen in ihre Augen. Es musste etwas Schlimmes passiert sein! Sie bekam zunächst kein Wort heraus und fühlte sich nicht einmal in der Lage, den Pfarrer und die Kundin ihrer Mutter in die Wohnung zu bitten.

      »Dürfen wir hereinkommen?«, fragte der Pfarrer freundlich. Seine Augen hatten einen merkwürdigen Glanz.

      Violett hätte am liebsten »Nein« gesagt und gehofft, sich in einem Traum zu befinden. Doch stattdessen nickte sie nur kurz mit dem Kopf. Der Pfarrer sah sich, nachdem er seine Schuhe auf dem borstigen Abtreter vor der Tür abgestreift und die Wohnung betreten hatte, flüchtig um. Man hätte fast glauben können, dass es ihm unangenehm war, sich genauer umzuschauen. Er tat sich schwer, seine Überraschung über den Zustand der kargen Wohnung zu verbergen, und hätte wohl eines der Zehn Gebote brechen müssen, wenn er behauptet hätte, es sehe hier sehr schön aus. Auch die Kundin sah sich merklich verblüfft um, doch gleich darauf war ihr Gesichtsausdruck wieder ernst geworden.

      Violett hätte sich gewünscht, dass die beiden für die Kirchenkollekte sammelten und dafür von Tür zu Tür zogen, doch ihr war klar gewesen, dass dies nur ein großer Wunsch ihres Herzens war, der sich nicht erfüllen würde, nein, nicht erfüllen konnte. Die Vorboten dafür, welche Art von Nachricht die beiden ihr überbringen würden, waren nicht zu übersehen. Violett hatte ihnen mit einer kurzen Handbewegung zwei der drei alten Stühle zugewiesen, die stets bedrohlich zu knirschen begannen, sobald ein übergewichtiger Mensch auf ihnen Platz nahm. Als sie zu dritt um den Tisch herum saßen, fühlte sich Violett in ihrer Wohnung wie eine Gefangene. Die kahlen Wände, die sie umgaben, schienen sich bedrohlich auf sie zuzubewegen. Violett hatte den unwiderstehlichen Drang verspürt, das Haus sofort zu verlassen und ihren Lieblingsstrand aufzusuchen. Sie wollte fliehen. Doch wer konnte schon vor der Wahrheit davonlaufen? Vor einer, die das eigene Leben für immer verändern würde? Der Pfarrer hatte gemerkt, dass Violett bereits jetzt ganz blass um die Nase war und sie sich denken konnte, dass es kein Zufall war, dass er da war.

      »Ms. Maycen, es tut mir leid, dass der Grund, warum wir Sie heute aufsuchen, von sehr trauriger Natur ist. Ich wollte Ihnen Beistand leisten. Das ist meine Aufgabe als Seelsorger, und die nehme ich sehr ernst. Ihre Mutter, Mrs. Laura Maycen, hat heute nach Auskunft des hier ansässigen Arztes Dr. Saunders einen Herzinfarkt erlitten, der leider binnen Sekunden zu ihrem Tod führte. Die Frau, die