Liliana Dahlberg

Lang lebe die Lüge!


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doch wusste sie diese Sehnsucht lange zu unterdrücken. Eine bemerkenswerte Leistung für einen so jungen Menschen. Darauf war Violett nun aber keineswegs mehr stolz. Sie blieb gedanklich weiter in der Vergangenheit, denn bei der Lösung des Rätsels schienen ihr die Fakten aus dieser Zeit genauso wichtig wie jene aus der Gegenwart.

      Die Dinge nahmen für sie als Kind trotz allem einen recht normalen Lauf. Laura verdiente ihren Unterhalt als Schneiderin in einem kleinen Geschäft, das sie günstig gepachtet hatte, um den geringen Unterhalt, den sie und Violett brauchten, aufzubringen. Kaum hatte sie den Laden abgeschlossen, lief sie auf direktem Weg nach Hause, es sei denn, es standen wichtige Einkäufe an. Denn ihre freie Zeit wollte Laura einzig und allein Violett widmen. Als kleines Mädchen hatte Violett es schnell als ganz gewöhnlich angesehen, der ständige Mittelpunkt im Leben ihrer Mutter zu sein. Denn sobald Laura die Wohnung betreten hatte, hatten sie an ihrem kleinen Tisch im Wohnzimmer stets guten alten englischen Tee, meist Earl Grey, getrunken. Bei dieser Erinnerung huschte Violett ein seliges Lächeln übers Gesicht. Während dieser gemütlichen Stunden hatte sie entweder von ihren Hausaufgaben, von Treffen mit Freunden oder ganz allgemein von ihren Sorgen und Nöten berichtet. Dabei konnte Violett immer beobachten, dass sich in den Stunden, die sie zusammen verbrachten, der Gesichtsausdruck ihrer Mutter wandelte. Sie wirkte um viele Jahre jünger, als würde sie all ihre Sorgen vergessen, welche es auch immer sein mochten. So kannte sie leider keiner der Einwohner von Westshire. Laura hoffte sicher, durch ihre Tochter den Ballast der Vergangenheit irgendwann fallen lassen zu können.

      In Violetts Gegenwart war sie von einem Lächeln beseelt, das man sonst nie an ihr entdecken konnte. Eines, das Violett zum ersten Mal, wenn auch etwas stärker ausgeprägt, während des großen Herbstgewitters in ihrem sechsten Lebensjahr an ihr wahrgenommen hatte. Auf diese Weise kamen Violett bei Lauras gelöstem Lächeln in den kommenden Jahren immer wieder die Bilder des Oktoberabends in Erinnerung und die Fragen, die daraus erwachsen waren. So steckte für Violett selbst in Lauras entspanntem Lächeln stets auch etwas Wehmut.

      Als Violett an ihrem neunten Geburtstag die Kerzen auf ihrer Torte ausblies, hatte sie nur einen einzigen Wunsch: Sie wollte ihre Familie kennenlernen. Sie wünschte sich sehnlichst, zu erfahren, wo ihr Zuhause war. So stark wie nie zuvor verspürte sie das Bedürfnis, ihrer Mutter weitere Fragen zu stellen. Doch letztlich kam sie zunächst zu dem Schluss, dass sie ihre Mutter nicht unglücklich machen wollte. Sie schien doch stets der einzige Sonnenschein in ihrem Leben zu sein. Nur wenige Male während der Pubertät brach Violett das ungeschriebene Gesetz ihrer Mutter, nach etwas zu fragen, was in deren Vergangenheit lag. In einem anderen Leben und einer fernen Welt.

      Doch eine Antwort blieb Laura Violett immer schuldig. Laura bewies ein besonderes Durchhaltevermögen.

      Violett fuhr innerlich zusammen und machte sich, einen Tag nach Lauras Tod, wieder schwere Vorwürfe, dass sie nicht auf die so wichtigen Antworten gepocht, nein, bestanden hatte. Aber wie hätte sie es anstellen sollen? Ihre Mutter so lange schütteln, bis ihr die Antworten buchstäblich aus dem Mund fielen? Nun musste Violett also die Spuren lesen, die ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, und das waren nicht viele.

      Violett war sich sicher, dass sie beide glücklicher geworden wären, wenn es damals diese Antworten gegeben hätte. Sie versuchte, sich all die Worte, die Lauras Mund während des Gewitters entglitten waren, erneut in Erinnerung zu rufen und sich darauf einen Reim zu machen. Was genau hatte ihre Mutter doch gleich wieder gesagt? Violett schüttelte sich, weil in ihr schmerzhafte Emotionen aufstiegen. Aber sie musste sich jetzt konzentrieren.

      Ein Edelmann, der in den Augen der anderen keiner war … Sie überlegte fieberhaft. Waren diese anderen vielleicht Menschen gewesen, die Laura nahegestanden hatten? Womöglich ihre eigenen Eltern? Das schien Violett durchaus logisch. Doch besser fühlte sie sich dadurch nicht. Denn nach Lauras Bekunden – das hatte sie auch jedermann im Dorf erzählt, der hartnäckig versucht hatte, ihren Panzer zu durchbrechen – waren ihre Familienmitglieder auf einer Safari in Afrika allesamt ums Leben gekommen. Das hatte sich Violett jedoch nie so richtig vorstellen können. Selbst die große Fantasie eines Kindes kannte Grenzen. Waren etwa all ihre Angehörigen von Löwen gefressen worden oder mit dem Reisebus gegen einen mächtigen Baum gefahren? Dennoch hatte sie diese Aussage Laura gegenüber nur einmal, während eines Streits – der letzte, den sie führen sollten –, in Zweifel gezogen.

      Lange hatte Violett nicht gewollt, dass ihre Mutter dachte, sie halte sie für eine Lügnerin. Außerdem erinnerte sie sich mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust daran, dass jede Frage nach ihrem Leben vor ihrer Schwangerschaft Laura noch verschlossener und fast apathisch werden ließ. Nicht nur Laura selbst, auch die Wände ihrer Wohnung schienen in diesen Momenten zu beben. Meist entstand dann ein langes Schweigen, und Laura lieferte Violett somit einer niederdrückenden Stille aus. Deshalb fand sich Violett als Kind zunächst auch schnell mit ihrem Schicksal ab, dass sie nie etwas über ihre Familie erfahren würde. Für andere wäre es wohl mehr als schwierig gewesen, aufzuwachsen mit dem Wissen, dass es ein großes und unausgesprochenes Geheimnis im eigenen Leben und dem der Mutter gab, doch Violett wurde trotzdem ein lebensbejahender Mensch, der keineswegs scheu oder verängstigt war. Sie hatte sich all die Jahre hindurch meist mit der Ansicht getröstet, dass das Geheimnis ihrer Mutter mit einem Dachboden gleichzusetzen war, auf dem sich bekanntermaßen Geheimnisse verbergen konnten. Bedauerlicherweise fehlte zu diesem der Aufstieg, und somit war er unerreichbar. Die Frage, welches Geheimnis auf ihm ruhte, wurde meistens verdrängt. Bis es zu diesem heftigen Streit zwischen Violett und ihrer Mutter kam, der die alte Frage wieder aufwarf, was Laura ihrer Tochter zeitlebens verheimlicht hatte. Dieser Streit war für beide Seiten kurz darauf wieder vorbei, da man die andere liebte und sich verzieh, aber innerlich hatte er für Violett nur weitere Fäden durch das unlösbare Geheimnis gezogen und ein noch undurchsichtigeres Strickmuster entstehen lassen.

      Die Liste der Unklarheiten war so lang, dass sie Violett innerlich erdrückte. Es fühlte sich an wie schleichendes Gift. Aber sie würde schon das passende Gegenmittel dafür finden, da war sie sich sicher.

      Ihr Blick wanderte durch die Wohnung, die noch im Halbdunkel lag, und die sie bis gestern noch gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnt hatte. Sie befand sich in einem eher desolaten Zustand, und das war noch eine milde Beschreibung. Doch Laura hatte sich einfach strikt geweigert, ihre Dreizimmerwohnung zu modernisieren, selbst als ihre Geschäfte gut gelaufen waren und Geld dafür da gewesen wäre. Sie wurde ihrem Charakter und Wesen entsprechend wortkarg und einsilbig, wenn Violett als kleines Kind wissen wollte, aus welchem Grund sie immer noch in einer Wohnung lebten, die mit alten Sanitäranlagen und einer Heizung ausgestattet war, die selbst im tiefsten Winter nur eine lauwarme Temperatur verströmte, und sie auf Möbeln saßen, die alle so aussahen, als hätte es sie schon gegeben, als Georg VI. regierte und Queen Elisabeth noch nicht den Thron bestiegen hatte. Es gab nur zwei Ausnahmen und Anlässe, für die Laura ihren Geldbeutel zückte: Violetts Geburtstag und Weihnachten. Aber Violett bekam zu ihrem Geburtstag auch nur Wünsche erfüllt, wenn es sich um Spielsachen oder andere Gegenstände handelte, die ihr Freude bereiten sollten, und nicht, wenn diese der besseren Ausstattung der Wohnung oder der Änderung ihrer Lebensverhältnisse gedient hätten. Violett hatte deshalb schnell den Eindruck gewonnen, ihre Mutter wolle sich in ihrer inszenierten Armut vor irgendeinem Ereignis aus ihrer Vergangenheit verstecken.

      Bei dem stetig wiederkehrenden Gedanken an den stürmischen Oktoberabend lag dies für Violett natürlich auf der Hand. Sie verzog schuldbewusst das Gesicht und stoppte ihre Reise der Erinnerungen.

      Sie beruhigte sich etwas. Sie würde Lauras Geheimnis schon noch lüften. Sie musste es einfach.

      Violett überlegte, welche Indizien es in ihrer Wohnung geben konnte, die irgendetwas über Lauras Vergangenheit verraten. Wahrscheinlich hatte Laura sie wissentlich entfernt. Aber waren vielleicht hinter einem Schrank oder unter ihrem Bett Briefe versteckt, die etwas über ihre Geschichte erzählen konnten? Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte Violett Lauras Schlafzimmer aus reinem Respekt nicht betreten. Zumal es Laura heilig gewesen war. Wie ein Rückzugswinkel ihrer Seele. Violett dachte an die Fotoalben, die in dem Schrank neben der antiken Kommode steckten, doch diese würden sich nicht als sonderlich hilfreich erweisen. Denn darin waren nur Aufnahmen zu finden, die sie selbst zeigten.

      Laura hatte stets darauf bestanden, wenn überhaupt,