Liliana Dahlberg

Lang lebe die Lüge!


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ohne Violett auch einfach nur verloren. Violett setzte ihren Streifzug der Erinnerungen unbewusst fort. Wohl auch, weil es leichter war, als direkt zur Tat zu schreiten.

      Da Laura allen in Westshire konsequent die kalte Schulter zeigte, interessierte sich bald niemand mehr für das so ominöse Geheimnis ihrer Herkunft. Es passierten schließlich genug andere Dinge im Dorf. Man betrat Lauras Laden, weil sie gute Arbeit leistete, war aber jedes Mal froh, diesen bald darauf wieder verlassen zu können. Lauras Kunden bezeichneten ihr Geschäft scherzhaft gerne als getarnte Eisdiele und spielten damit unverhohlen auf die Kälte an, die dort durch Lauras frostige und distanzierte Art vorherrschte. Ihre glasklaren blauen Augen unterstrichen diesen Eindruck zusätzlich.

      Violett dagegen schätzte man in Westshire sehr, weil sie schon von klein auf all das war, was Laura nie zu sein vermochte: offenherzig und mit einer besonderen kindlichen Neugier ausgestattet. Viele meinten, sie hätte wohl ausschließlich die Gene ihres Vaters abbekommen, der ein netter Mann gewesen sein musste. Der einzige Klatsch, der Laura sicher nicht besonders störte. Wie dieser Mann, der natürlich ein großes Fragezeichen blieb, sich je in Laura hatte verlieben können, wusste keiner in Westshire zu sagen.

      Da Violett natürlich merkte, dass ihre Mutter keine sozialen Kontakte in der Stadt pflegte, hatte sie geglaubt, sich besonders anstrengen zu müssen, um sie glücklich zu machen. Sie gab sich in der Schule deswegen besonders viel Mühe und hörte den Lehrern selbst in ungeliebten Fächern wie Mathematik und Physik aufmerksam zu. Doch selbst wenn sie ihrer Mutter ausnahmsweise einmal eine schlechte Klausur präsentieren musste, bemerkte diese nur mit einem Lächeln, am Tag der Klausur habe sie wohl das »Vergesslichkeitsgespenst« aufgesucht. Trotzdem war Violett weiterhin bemüht, gute Noten nach Hause zu bringen, was ihr auch meistens gelang. Sie lernte außerdem schon früh, Verantwortung zu übernehmen, wurde während ihrer Schulzeit viermal zur Klassensprecherin gewählt und bekam bei ihrem Schulabschluss schließlich eines der besten Abgangszeugnisse überreicht. Violett wollte sich, nur wenige Wochen nach dem Schulabgang, nach einem geeigneten Studienplatz umsehen. Sie hatte nicht vor, sich bei ihrer Suche auf England zu beschränken.

      Ihr Freund Brian war bereits Student gewesen, als sie ihm zufällig an seiner Universität St. Sebastian in Schottland begegnet war, die sie näher inspizieren wollte. Auf den Fluren der Hochschule hatten sich ihre Blicke getroffen und Amor hatte wohl das Übrige getan. Das war vor knapp einem Jahr gewesen. Ihre Liebe war also noch ziemlich frisch.

      Beide hatten sich bis kurz vor Lauras Tod fast ausschließlich in Edinburgh in Brians doch recht luxuriöser Bleibe getroffen. Brian hatte es nicht nötig, in einem Studentenwohnheim zu leben, da seine Familie – als bestehe eine erbliche Veranlagung – beinahe ausschließlich aus Juristen bestand. Sehr renommierten noch dazu. Violett sah es mit einem Augenzwinkern als Erbkrankheit von Brians Familie an. Sie zog ihn nicht selten damit auf, wobei Brian ihre Bemerkung in der Regel alles andere als lustig fand. Doch beide verband eine Leidenschaft, die sie einander schnell nähergebracht hatte und die Violett zu ihrem Studienfach machen wollte: die Meeresbiologie. Violett liebte das Meer, das an der Küste Englands noch so ursprünglich und rau wirkte. Es gab dort nur wenige Strände, sodass man das Meer häufig nur von einem Kliff oder einer Felssteinküste aus beobachten konnte. Die wenigen Strände blieben, zumindest von den Einheimischen, verhältnismäßig unberührt, und Touristen verirrten sich auch nur äußerst selten dorthin. Brighton bildete da natürlich eine Ausnahme.

      Violett hatte schon von Kindesbeinen an gerne nach Muscheln Ausschau gehalten und sie vom Boden aufgelesen. Sie fragte sich immer, woher sie wohl kamen und wie alt ihr Gehäuse war. Auch andere Gegenstände, die das Meer anschwemmte, nahm sie genauestens unter die Lupe und in Augenschein. Violett besaß eine wirklich ansteckende und besondere kindliche Neugier. Obwohl Brian, wie er Violett einmal offenbarte, als kleiner Junge ganz ähnlich empfunden hatte, wagte er es später aus familiären Gründen nie, den Weg zu wählen, den sich Violett erträumte. Sein Vater Steven hielt den Hang seines Sohnes für ein Hirngespinst und die Meeresbiologie für eine überflüssige Wissenschaft. Nur ein Jurastudium könne ihm einmal den Wohlstand sichern, den er von zu Hause gewohnt sei, repetierte er Brian gegenüber fortlaufend.

      Bei Violetts Besuchen am Meer war, als sie noch in den Kinderschuhen steckte, auch immer ihre Mutter zugegen gewesen. Violetts Interesse an der Meereskunde hatte Laura erfreut zur Kenntnis genommen. Doch diese Freude währte nur bis zu Violetts Schulabgang. Denn als Violett erfuhr, dass man das Fach an der altehrwürdigen Universität Londons belegen konnte, hatte sich Laura ihrer Tochter plötzlich in einem bislang unbekannten Licht gezeigt. Laura war ungehalten, richtig aufbrausend geworden. Ein seltener Gefühlsausbruch, der an ein Phänomen grenzte. Die sanften Gesichtszüge, mit denen sie ihrer Tochter sonst gegenübertrat, waren verschwunden und einer sehr angespannten Physiognomie gewichen. Laura hatte mit gereizter Stimme gemeint, dass es doch auch noch andere Universitäten im Land gäbe. London müsse es zwangsläufig nicht sein, und außerdem könne sie doch wie Brian in Schottland studieren. Dass sie ihn als Beispiel anführte, sagte viel aus. Denn Brian schien für sie in ihrem Haus stets nur ein geduldeter Gast zu sein. Man hätte sogar meinen können, dass Laura ihm nur die Tür öffnete, weil es die unglücklichen Umstände nun einmal so wollten, dass er Violetts Freund war. Schon rein wegen Lauras Antipathie gegenüber Brian hatte Violett oft den Zug nach Schottland nehmen müssen.

      Doch Violett merkte ziemlich schnell, dass es ihrer Mutter überhaupt nicht recht wäre, wenn sie zum Studieren fortging oder das Haus verließ. Das wunderte sie sehr, denn sie hatte gedacht, es würde ihre Mutter freuen, wenn sie ihren Traum von der Meeresbiologie wahr machen und in die Forschung gehen würde. Sie spürte deutlich, dass Laura sie nicht ziehen lassen wollte, obwohl diese nie müde geworden war, zu betonen, sie wolle Violett nur glücklich und strahlend sehen. In Violett hatte dies einen großen innerlichen Konflikt ausgelöst. Sie wusste natürlich, dass sie Lauras einziges Kind war, aber war über all die Jahre aufseiten von Laura eine solche Abhängigkeit entstanden, dass sie nicht das Haus verlassen durfte? War es denn ihre Schuld, dass ihre Mutter ihren Lebensmittelpunkt auf sie gelegt hatte, seit sie zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte? War es ihre Schuld, dass es keine Kontakte zu den Dorfbewohnern gab, da ihre Mutter all jenen, die sie einst zur Teestunde einladen wollten, einen Korb gegeben und diejenigen, die es wiederholt gewagt hatten, mit vernichtenden Blicken abgestraft hatte? Dass nur ihre Schulfreunde Zutritt zur Wohnung bekommen hatten? Violett wusste ja, dass es nicht an deren renovierungsbedürftigem Charakter lag, dass Laura weder mit den Nachbarn noch mit den restlichen Seelen des Dorfes verkehrte. Anschaffungen wurden aus Prinzip nicht getätigt. Laura musste eine panische Angst davor gehabt haben, dass ihr die Einwohner etwas entlocken könnten, was sie freiwillig nie preisgeben wollte. Aber waren all diese Punkte Argumente, wenn es um ihr eigenes Glück ging? Laura liebte ihre Tochter sehr und hätte sich, wenn die Umstände anders gewesen wären, deren Lebenstraum gewiss nie in den Weg gestellt. Doch die Situation war und blieb paradox.

      Zunächst war die Zeit auf dem Kalenderblatt ganz unschuldig verstrichen. Zeit, die Violett für ihre Lebenspläne hätte nutzen können. Aber es schien sich nichts zu ändern.

      Laura war für alle in der Gegend eben weiterhin nur eine Person gewesen, die gut mit Nadel und Faden umgehen konnte. Ihre Kunden hatten sowieso schon lange den Eindruck gewonnen, dass ihr der Beruf als Näherin nur als Fassade diente, um den eigentlichen Menschen, der sich dahinter verbergen mochte, zu verstecken. Aber das interessierte längst niemanden mehr.

      Obwohl Laura ihre Arbeit immer zur vollen Zufriedenheit ihrer Kundschaft erledigte, schien sie darauf kein bisschen stolz zu sein. Ein Gefühl von Berufung oder Freude war ihrem Gesicht nie abzulesen gewesen. Nur für Violett konnte sie ein Gefühl von Stolz empfinden.

      Doch schließlich war auch diese verdächtig ruhige Zeit einmal ihrem Ende zugegangen, zumal Violett bewusst gewesen war, dass mit jedem Kalenderblatt, das fiel, ihre Chance, sich in London für Meeresbiologie einzuschreiben, um ein weiteres Stück schwand. Sie hatte es mit Lauras Einverständnis tun wollen, doch in ihrem Inneren war ihr natürlich klar gewesen, dass ihre Mutter ihr dafür nie ihr Einverständnis geben würde. Wenn sie sich immatrikuliert hätte, glaubte sie ihre Mutter zu verraten, und wenn sie es nicht tat, sich selbst.

      Somit war es zu den ersten unglücklichen Streitgesprächen bei Tisch gekommen, obwohl Violett bei diesen Unterredungen im