Katrin Maren Schulz

Rapsgezeiten


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Ich habe daraus meine ‚Rapsfeld-Theorie‘ erschaffen:

      An dem Tag meines Lebens, der mein letzter sein wird, möchte ich nicht denken müssen „hätte ich doch ...“.

      Und dieser Tag kann immer sein. Heute, morgen, übermorgen. Wie damals, bei den vorbeiziehenden Rapsfeldern, möchte ich auch jetzt, in jedem Moment, mein Leben so führen, dass ich beruhigt sein kann es ausgeschöpft zu haben. Gelingen aber, tut das nicht immer. Leider gibt es dennoch Lebensphasen, in denen ich ‚das Rapsfeld’ fürchte. Weil etwas in der Pipeline der Umsetzung hängt, was ich mich noch nicht traue.

      Vielleicht sollten wir alle unsere Schnäpse mischen, wenn sie einzeln nicht schmecken, und sehen, wie sich die Mischung verhält.

      Die Nachricht vom Tod hat gedankliche Konsequenzen, als wäre ich im Watt: sie öffnet mir die Augen, erweitert mein Blickfeld, und zwingt mich hinzusehen, auf die vielen Möglichkeiten, die ich habe. Diese Nachricht schleudert mich mit beiden Beinen auf den Boden und fragt:

      „Was willst du? Tu es!“

      Dabei ist das letzte ‚Tu es’ noch gar nicht lange her. Habe mich wieder tätowieren lassen, nach einer Ewigkeit des Wünschens. Über die alten Tattoos bin ich noch heute glücklich - warum nicht also ein neues? Meine Tattoos sind wie Marker, die ich mir gesetzt habe, über Jahre verteilt. Jedes einzelne erinnert mich an bestimmte Phasen meines Lebens, Erlebnisse, Vorkommnisse, die mich geprägt haben. Aufgezeichnete Fragmente einer Lebensgeschichte, individuell und subjektiv deutbar nur. Vor ein paar Wochen kam ein neues dazu: das, das schon im letzten Sommer am Ordinger Strand durch meinen Kopf geisterte, das ich skizzierte in mein Notizbuch, als ich im Strandkorb saß. Dieses neue Tattoo markert die Phase meines Lebens, in der ich ‚meinen’ Ort an der Nordsee gefunden habe, den Ort, der mir das Herz erwärmt, der mich willkommen hieß, an dem ich sein will, immer und immer wieder.

      Eine neue Heimat kam dazu, zu meinem Leben. Ein neuer Hafen, den ich neben meinem Zuhause in Berlin gerne ansteuere. Das neue Tattoo ist ein Anker. Symbol der Hoffnung.

      Ohne Anker, ohne Hoffnung, entsteht kein Handeln. Die Hoffnung ist wie ein Motor, ein Antrieb. Schiffe haben meist mehrere Anker, für die unterschiedlichen Anlässe und Vorkommnisse, auf rauer, oder ruhiger See. Mein Leben auch: hat mehrere Anker, die ich dort auswerfe, wo Sinn und Leidenschaft für das Tun spürbar sind. Und die ich auch wieder einholen kann, wenn es Zeit ist, die Reise fortzusetzen ...

      Die Reise jetzt, in diesem Frühsommer, wohin soll sie gehen?

      Das aktuelle „Was willst du? Tu es!“ - was ist das?

      Die Zeit jetzt ist überlagert vom Tod. Kein freier Kopf für eigene Pläne. Die Arbeitsgruppe trifft sich wieder. Nicht um über die Zukunft der Arbeit zu diskutieren diesmal, sondern um den Tod eines engagierten Mitstreiters zu verkraften. Zu versuchen, ihn zu verkraften. Um einen Nachruf zu schreiben. Um es zu teilen: das nicht fassen können und annehmen müssen.

      Ich bezweifle, ob meine Art zu trauern die gemeinsame ist. Lieber tue ich das allein, mit meinen Erinnerungen an ihn, nicht mit fremden. Die Gedenkfeier im großen Kreis lasse ich aus. Dass ich an ihn denke, egal wann und wo, das zählt.

      Und er, zusammen mit seinem Tod, er schleicht in meinem Denken herum, überall. Verwirrt es, reißt Schubladen auf, weggeschobene Gedanken raus, als wolle er mein Gehirn entrümpeln. Habe Angst, nicht das aufzugreifen, was sich mir bietet. Nicht das aufgegriffen zu haben, was sich mir geboten hat.

      Panik ob potenzieller vertaner Chancen breitet sich in mir aus.

      Was ist mein Lebensentwurf? Was treibt mich um? Was treibt mich an? Reicht es aus, achtsam gegenüber möglichen Veränderungen im Leben zu sein? Reicht es aus, darauf zu warten, dass sie anklopfen? So habe ich mir das im letzten Sommer zusammengereimt. Jetzt frage ich mich, ob ich nicht doch selbst mehr Veränderung anstoßen sollte?

      Die Zeit kommt mir so unwirklich vor. Ist das, was alles passiert, und nicht passiert – ist das mein Leben?

      In wenigen Jahren werde ich vierzig. Und frage mich, ob das überhaupt meine Lebensweise ist, so wie ich hier lebe, in der Großstadt, in der vieles so anders ist als in einer Kleinstadt: kopfgrenzenloser, individueller, chaotischer, provisorischer, unzensierter. Aber eben auch laut, und voll. Fern von Natur, und fern meiner Authentizität.

      Zweifle. Als würde mich dieser Zwiespalt einfach ständig begleiten: Stadt oder Land?

      Heute ist die Beerdigung des verstorbenen Bekannten, da graut mir eigentlich davor. Vielleicht wird sie mich aber auch zurechtrücken. Ich werde hingehen, ob ich will oder nicht.

      Schon so oft bin ich an diesem Friedhof vorbeigefahren. Nie habe ich ihn besucht. Inmitten der Stadt, nahe dem Alexanderplatz, liegt er, umrahmt von weinbewachsenen Backsteinmauern. Hinter ihnen ist vom Stadtlärm fast nichts mehr zu hören. Der Friedhof saugt den Lärm einfach auf. Ein sehr alter Friedhof, mit einer Kapelle, in der es riecht, wie es in einer sehr alten Kapelle riecht: nach altem Gemäuer, Blütenduft und Kerzenwachs. Die Atmosphäre voller Trauer. Tag für Tag befinden sich trauernde Menschen hier drin. Es ist, als würde das Gemäuer ächzen unter der Last der Tränen und leidvollen Gedanken, die sich in ihm stauen. Und als würde es zugleich all dies tragen können und aufsaugen in sich.

      Ich bin froh, als es heraus geht, wieder ins Grün des Friedhofs. Durch den alten Baumbestand blinzelt die Sonne, und blauer Himmel. Unwirklich in einer Beerdigungssituation. Und doch stehe ich da, und betrachte die Endlichkeit des Lebens. Sie scheint in mich hineinzukriechen, diese Endlichkeit, durch den erdigen Friedhofsboden meine Beine entlang bis ins Gehirn. Da klopft sie an, und fragt:

      „Weißt du denn immer noch nicht, was du zu tun hast?“

      Nach dem Zeremoniell verlasse ich die Trauernden. Gehe über den Friedhof, durch seine Stille. Neben mir, noch immer, die Endlichkeit, die auf eine Antwort wartet. Die mir nun klar wird, so klar. Ich stehe auf diesem Friedhof, eine Woche Urlaub vor mir, und habe keine Zweifel mehr: ich muss wieder nach St. Peter-Ording. Ja, ich habe wenig Geld zurzeit. Aber ein Sparbuch. So eines, zu dem die Eltern immer gesagt haben: falls Du mal einen besonderen Wunsch hast. Ich habe ein Sparbuch, mit Geld darauf. Ich bin auf einer Beerdigung, und erlebe die Endlichkeit des Lebens. Und da überlege ich, ob ich es mir leisten kann, ein paar Tage zu verreisen?

      Es ist als würde diese Beerdigung mich wachrütteln: worauf will ich noch warten? Worauf will ich noch sparen? Auf die Zukunft?

      Das, was ich heute Zukunft nenne, ist nicht mehr die Art von Zukunft, von der meine Eltern sprachen, als sie mir mein Sparbuch anlegten. Diese Zukunft findet jetzt gerade statt.

      Wenn ich jetzt von Zukunft spreche, dann begebe ich mich Richtung Reife, nicht mehr Richtung Erwachsen-Werden.

      Das bin ich schon.

      Vielleicht heute geworden.

      Das Wetter ist heute so sonnig und klar, geschmückt mit frischem Wind, dass ich mich an die Küste versetzt fühle. Ich weiß: ich will, nein, ich muss, wieder nach St. Peter-Ording.

      Zwei Stunden später rufe ich Herrn Hansen an. Das Häuschen ist vermietet, aber bei ihm ist noch eine Ferienwohnung frei: von Sonntag bis Samstag, fünf ganze Tage, werde ich im geliebten Land sein.

      Die Entscheidung fühlt sich absolut gut und richtig an. So selbstverständlich, dass ich gar nicht zappelig freudig bin, sondern plötzlich ganz ruhig werde. Als würde ich das Selbstverständlichste tun, was ich nur tun könnte:

      Pendeln, zwischen Stadt und Land. Nicht nur im Kopf, sondern auch in der Tat.

      Heute auf dem Wochenmarkt stand Frau Hansen hinter mir in der Schlange vor einem Stand und unterhielt sich mit einer Bekannten.

      „Die junge Frau aus Berlin, die im letzten Jahr allein im Haus von Frau Martens war, hat sich spontan für Sonntag angekündigt“ erzählte sie.

      Mein Herz hat Freudensprünge vollführt: das kann nur Marielou sein. Sonst war im vergangenen Jahr keine Frau allein in dem Haus. Aber warum nur hat sie so kurzfristig gebucht? Wenn selbst ich bereits im letzten Jahr wusste, dass sie wiederkommen wird: wusste sie