Katrin Maren Schulz

Rapsgezeiten


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mag keine Schubladen, und das Wort Krise erst recht nicht. Ich sehe mir lieber Marielou an als das, was sie gerade ist: eine Persönlichkeit, die kurz vor der vermutlichen Mitte ihres Lebens angekommen ist. Ist es für diese Persönlichkeit nicht ganz normal nachzufragen, was war, was sein sollte, und was ist? Um daraus abzuleiten, was kommen soll? Ich finde das ist gesund, es ist eine Art von autobiografischer Bestandsaufnahme: welche Träume hatte ich einmal, welche davon wurden Realität, welche nicht? Und wenn nicht, warum? Sind noch nicht verwirklichte Träume noch von Bedeutung, oder im Laufe der Zeit uninteressant geworden? Gibt es Visionen, die erfüllt werden wollen?

      Es ist wichtig für ein gutes und glückliches Leben, diese Fragen für sich zu beantworten, und zu überprüfen, was wie wann umgesetzt werden könnte von all dem, was noch auf Umsetzung wartet. Darüber nachzudenken, welche Form und welcher Zeitpunkt sich dafür eignet.

      Meist ist es die innere Stimme, die einem das alles verrät.

      Jeder Mensch hat seine Antworten, zu seiner Zeit. Wichtig ist, sich Gelegenheit zu geben sich selbst zuzuhören, damit die innere Stimme nicht verstummt, müde und erschöpft vom Überhört-werden. Die Menschen sind so unachtsam gegenüber ihrer inneren Stimme. Dabei ist die doch die weiseste Begleiterin, die der Mensch nur haben kann. Der inneren Stimme zuzuhören ist schwierig, wenn eine Tätigkeit und Verpflichtung der nächsten folgt, wenn der Tagesablauf fest geplant ist, Verantwortungen wahrzunehmen sind, Dinge erledigt werden wollen.

      Aber die kann warten, so eine ‚Midlife-Crisis‘. Sie gibt erst Ruhe, wenn sie beantwortet ist, oder wenn sie erstickt wurde. Bevor sie erstirbt, begehrt sie aber erst noch mehrmals kräftig auf; denn sie versucht hartnäckig, ihre Wünsche durchzusetzen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Und ich bin gespannt darauf, welche Erfahrungen Marielou damit machen wird.

      Ein neues Jahr hat begonnen. Es ist Mai inzwischen. Dass alles gut ist, wie es ist, stimmt nicht mehr. Es stimmte an der Nordsee, im letzten Sommer. Aber nicht in meinem Stadtleben, in diesem Frühjahr. Den Winter über haben sich meine Fragezeichen hinter der Arbeit versteckt, ich habe mehr Zeit im Büro verbracht, als geplant war. Jetzt bin ich wieder bei meiner Teilzeit angekommen, und da tauchen sie wieder auf, die Fragezeichen vom letzten Jahr.

      Sie wollen wissen, ob ich zufrieden bin mit meinem Lebensentwurf. Und sie wollen wissen, wie es mit der Marielou weitergeht, die im Norden leben möchte.

      Im letzten Sommer entstand diese Idee, mein Leben durch mehrere Reisen in den Norden in Einklang zu bringen. Inzwischen bin ich noch nicht einmal mehr die, die überhaupt in den Norden reist, denn: mir ist das Geld ausgegangen. Knappheit. Immer bei null am Ende des Monats. Die Kehrseite der Teilzeitarbeit, nun spüre auch ich sie: das Teilzeitgehalt reicht für das Existenzielle, aber im Moment nicht für mehr.

      Vielleicht habe ich den Winter über auch zu viel für vermeintlich existenziell notwendig gehalten, und das Sparen auf den Sommer im Norden vergessen? Zu verlockend war es oft, mich nach einem anstrengenden Arbeitstag mit etwas besonderem, Käuflichen, zu belohnen. Bei drei bis vier Arbeitstagen pro Woche habe ich das nicht, dieses Bedürfnis nach Belohnung. Da belohnt mich die viele frei verfügbare Zeit.

      Ein Sparbuch habe ich noch, eines für ‚Notfälle‘. Aber da ran zu gehen, damit tue ich mich schwer - für einen neuen Aufenthalt an der Nordsee, in diesem Häuschen, an das ich so oft denke?

      Andererseits begehrt mit dem beginnenden Sommer auch die Sehnsucht nach St. Peter-Ording enorm auf. Die Sehnsucht danach, den Horizont zu sehen. Die Sehnsucht nach Menschenleere und Wattenstille. Nach Ausbruch aus der engen, vollen Stadt. Nach Alleinsein, mit mir.

      Bald habe ich eine Woche Urlaub. Was mache ich damit?

      Sehne mich nach einem Wink des Schicksals. Ich nenne das so: wenn etwas passiert, oder mir etwas begegnet, das mir unmissverständlich klar macht, was mein nächster Schritt sein soll. Dieses Etwas kann ein Gesprächsfetzen sein, den ich aufschnappe, oder ein Plakat. Ein Flyer, der irgendwo rumliegt, und auf mich zu warten scheint. Irgendetwas eben, das mir einen Impuls gibt. Die Frau im Zug hat so einen Gesprächsfetzen in mir hinterlassen. Die Frau im Zug auf der Fahrt nach St. Peter-Ording, im letzten Sommer. Komisch, dass ich mich immer noch daran erinnere. Manche Sätze hallen scheinbar sehr lange nach. Sie sagte in ihr Handy etwas von der Angst, die der Freiheit entgegensteht.

      Meine Freiheit wäre jetzt ein Urlaub im Norden. Die Angst um meine finanzielle Situation steht ihr entgegen.

      Tausche ich Freiheit gegen Sicherheit? Dafür fühle ich mich zu zögerlich. Dazu fehlt mir der Mut. Dafür fehlt mir der Wink des Schicksals.

      Früher habe ich mich immer auf ‚das Schicksal’ verlassen – nun bin ich enttäuscht von ihm, weil es sich nicht zeigt. Früher hat sich das Schicksal öfter mal eingemischt in mein Leben. Hat mir Jobs besorgt, oder hilfreiche Kontakte. Hat mir Freunde vorgestellt, uns zusammengebracht. Mit ‚meinem’ Haus im Norden vom letzten Jahr, da hatte es auch seine Finger im Spiel, das Schicksal. Über Linda hat es den Kontakt zwischen mir und der Besitzerin des Hauses, Frau Martens, hergestellt. Und die wiederum hat mich an Herrn Hansen verwiesen. Ohne diesen Kontakt wäre ich nie an meinen Lieblingsfleckenerde auf Eiderstedt gekommen.

      Aber jetzt? Wo ist es? Wo ist der Wink, der mich lotst, durch diesen Sommer, mit zu wenig Geld zum Reisen?

      Es helfen nur zwei Dinge in dieser Wartezeit: zu tun, was zu tun ist, und einen guten Draht zur inneren Stimme aufbauen. Also los. Schwimme ich weiter im großstädtischen Treiben, meinen Tätigkeiten, und höre mir dabei zu.

      Plötzlich prallt etwas hart in meinem städtischen Alltag auf: der Tod. Ein guter Bekannter, einer aus der Arbeitsgruppe, ist mit Anfang fünfzig gestorben. Einfach so, auf einer Dienstreise. Seinen Vortrag hatte er zuvor noch gehalten. Ausgelaugt war er. Ausgelaugt vom vielen Ehrenamt und Engagement, das ihm wohl viel ideelle Anerkennung brachte, umso weniger finanzielle allerdings. Ausgebrannt war er, und ausgelaugt. Das Herz hat sich verabschiedet.

      Der meldet sich nicht an, der Tod. Er steht überrumpelnd, erschlagend, einfach so da und greift zu.

      Visionär war er, auch Hedonist, irgendwie auch Anarchist, und bodenständiger Träumer. Schöne Abende habe ich mit ihm erlebt, zuletzt den im indischen Restaurant. Er kippte den Gratis-Mangolikör in den Schnaps, den er sich bestellt hatte, weil der Schnaps allein so widerlich schmeckte. Und weil er sehen wollte, wie sich die Mischung verhält. Er hob theatralisch gestikulierend die Arme und rief „es lebe das Proletariat“ als ein Obdachloser das Restaurant betrat und fragte, ob er die Toilette benutzen könne. Er schwärmte von seinem verfallenen Schloss in Tschechien, zu dem ich in diesem Sommer unbedingt mit sollte, nicht zuletzt, weil er mich endlich mal vögeln wollte, was er - frank und frei wie immer - offen kundtat. Abende mit ihm waren einfach immer fantastisch, amüsant und inspirierend.

      Nun, genau drei Wochen nach dem Restaurantbesuch, ist er tot. Habe die Todesnachricht per E-Mail erhalten. Gruselig ist das. Inmitten von Spam und Newslettern steht der Tod eines Menschen, den ich auf die uns eigene Weise lieb hatte und sehr schätzte. Aber es gibt nun mal weder den geeigneten Zeitpunkt, noch die geeignete Mitteilungsart, für eine solche Nachricht.

      Und jetzt das Gedankenchaos: schöpfe ich alles aus, was das Leben mir anbietet? Gehe ich verschwenderisch, womöglich geringschätzend, mit seinen Angeboten um? Verpasse ich zu viel, lehne ich zu viel ab? Warum setze ich so manches, von dem ich träume, nicht schneller um?

      Vielleicht bleibt ja gar nicht mehr viel Zeit ...

      Sentimentalitäten der Trauerphase? Oder sind nicht genau das die Fragen, die wir uns täglich stellen sollten? Dann ist das hier gerade gar kein Gedankenchaos, sondern Klarheit.

      Vor Jahren fuhr ich einmal mit einer Freundin, in deren Auto, im Berliner Umland an Rapsfeldern entlang. Sie fuhr viel zu schnell, und die Rapsfelder wurden zu gelber, strukturloser Fläche. Ich ging davon aus, dass es gleich kracht, und Es zu Ende ist. Mein Geist hob irgendwie ab, Bilder meines Lebens zogen an mir vorbei im Schnelldurchlauf, und ich weiß noch, dass ich dachte:

      „Ich habe alles ausgekostet und ausgeschöpft in meinem bisherigen Leben - alles ist gut. Schade nur, dass ich Tim nicht mehr erzählen kann, wie schön dieser