Katrin Maren Schulz

Rapsgezeiten


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Stadtleben, entschwindet sie. Wohin?

      Es ist Arbeitsgruppentreffen. Mein Ehrenamt, dem ich nebenbei nachgehe, weil das Thema mich so sehr interessiert. Und weil ein bisschen Ehrenamt ruhig jeder leisten kann, finde ich, zumindest bislang. Um nachhaltige Lebensstile geht es da, und die Rolle der Arbeit darin. Ihre Verteilung, die nicht gerecht ist: auf der einen Seite die Vollzeitstellen inklusive Überstunden, auf der anderen Seite die Arbeitslosen, die schon über eine Teilzeitstelle glücklich wären. Wir diskutieren politische Modelle, mit deren Hilfe die vorhandene Erwerbsarbeit umverteilt werden könnte, damit alle etwas davon haben.

      Es ist ein spannendes Thema, und auch genau meins. Ich arbeite in Teilzeit, bewusst. Aus der Überzeugung heraus, dass Erwerbsarbeit allein nicht das Zentrum meines Lebens ist, und es noch ein Leben darüber hinaus gibt: täglich, wöchentlich, monatlich. Nicht nur, oder erst, mit der Rente. So habe ich mehr Freizeit als andere, aber auch weniger Geld.

      Warum lassen sich nicht mehr Menschen von der Teilzeitarbeit begeistern, fragen wir uns. Und bleiben immer wieder an diesen finanziellen Aspekten stecken: weniger zu arbeiten kann sich sicherlich jeder gut vorstellen. Weniger Gehalt zu erhalten jedoch nicht. Selbst den Besserverdienenden scheint dies schwer zu fallen. Zu sehr lockt die Warenwelt, mit ihren Angeboten und Verheißungen eines noch prächtigeren Lebens.

      Mir graut es. Vor dieser Vorstellung, wie viele Menschen an fünf Tagen einer Woche, die doch nur sieben Tage hat, Dinge tun, die sie nicht wirklich für sich tun, sondern für einen Arbeitgeber. Wie viel das an Lebenszeit ist. Lebenszeit, die auch mit liebgewonnenen Menschen, oder selbstgewählten Tätigkeiten bereichert werden könnte. Ich verstehe die, die fünf Siebtel ihrer Lebenszeit einem Arbeitgeber zur Verfügung stellen, genauso wenig wie die, die auf dem Weg zur Arbeit hetzen. Ich verstehe die Vergötterung von Erwerbsarbeit nicht. Sie ist ein Hilfsmittel für das Leben für mich, nicht Lebensmittelpunkt.

      Auf dem Heimweg von der Arbeitsgruppe fühle ich mich öde und leer. Was bringt es, mein Engagement? Niemals werden wir etwas ändern, an den festgefahrenen, über Jahrzehnte etablierten Strukturen im Erwerbsleben und in der Arbeitsmarktpolitik. Wir haben schöne Ideen - aber wer will sie hören? Wir haben schöne Ideen - aber wir bekommen sie nicht gebündelt. Das ist das Verhängnis, oft, an politischer Arbeit: die Fakten bündeln zu können, um sie zu transportieren, nach außen.

      In dieser Arbeitsgruppe gelingt das selten. Kein Ende oder Ergebnis in Sicht. Erst heute wird mir das wirklich bewusst.

      Ob sich über so etwas wie die Zukunft der Arbeit, im politischen Sinne, jemand Gedanken macht, der am Watt lebt? Der täglich diese Weite und Stille um sich hat? Der dort womöglich selbständig arbeitet? Denkt der über das Politische in der Arbeit nach?

      Ich glaube nicht. Glaube vielmehr, das ist ein Großstädterding. Vielleicht, weil sich in der Großstadt eher die atypischen Lebens- und Arbeitsstile ansiedeln, die Patchwork-Lebensstile. Über meinen Schreibtisch im Büro gehen viele Lebensläufe, und Lebensgeschichten, weil ich für die Personalverwaltung verantwortlich bin. Einige sind da dabei, die früher vielleicht noch als ‚Job-Hopper‘ bezeichnet worden wären. Früher, als es noch normal war, sein Leben lang in einer Firma, in einem Berufsbild, zu bleiben. Heute ist es normaler geworden, mal dies und mal jenes zu tun, mal hier und mal dort gearbeitet zu haben. Der Wechsel ist Standard geworden.

      Was steckt dahinter? Sind es die Unsicherheiten des Arbeitsmarktes - oder die persönlichen Unzufriedenheiten und Suchen nach mehr?

      Ist es vor allem in der Stadt so, weil die so viele Möglichkeiten bietet? Oder ist es vor allem in der Stadt so, weil ihre Bewohner sich so wichtig nehmen, und immer weiter und weiter wollen? Wichtiger, als Landmenschen es tun, weil denen das große Ganze viel präsenter ist?

      Gehöre auch ich dazu, zu diesen Großstädtern, die sich so wichtig nehmen?

      In der U-Bahn, mit der ich nach Hause fahre, sehe ich einige von ihnen. Sie wälzen Arbeitspapiere, markern darin herum, mit gerunzelter Stirn. Oder sie telefonieren, und führen Gespräche, in denen in jedem zweiten Satz die Worte ‚Projekt‘ oder ‚Meeting‘ vorkommen. Mir graut, schon wieder. Vor diesem Eindruck, den ich von uns Großstädtern habe:

      Hier, in der Großstadt, da nehmen wir uns und alles so wichtig. Unsere Projekte, unsere Arbeit, unsere vermeintliche Unabkömmlichkeit. Dahinter die Angst zu verpassen, oder nicht zu genügen. Und wir übersehen dabei das, was dazwischen existiert, immer existiert, inspiriert, und des Rätsels Lösung gibt: einfach da zu sein. Einfach da sein, reagieren auf das was ist, was kommt, von draußen, weil es rein will, nach drinnen, zu uns.

      Das ist Wichtig-Nehmen: aufmerksam sein. Nicht abgelenkt, sondern da sein, präsent sein. Nicht der Körper noch hier und der Geist schon dort.

      Ich mag nicht wieder wichtig werden.

      Ich mag einfach nur da sein.

      Stattdessen stülpt sich der städtische Alltag über mich wie Matsch, wie ein Sumpf aus Verpflichtungen durch den ich wate. Der warme Spätsommer versüßt das nur mäßig. Würde gerne ab und zu die Pausetaste drücken, aber ich finde sie nicht. Lässt sich die Pausetaste nicht aus dem Urlaub in die Stadt importieren? Was hält mich in der Stadt davon ab, ‚nichts’ zu tun? Im Urlaub noch wollte ich mich dem Lebensfluss hingeben. Nun meine ich schon wieder, dagegen anstrampeln zu müssen. Oder habe ich ihn verloren?

      Im Norden habe ich das einfache Dasein schätzen gelernt. Einfaches Dasein, mit dem Meer vor der Nase. Nichts anderes machen können und müssen als das, was sich an diesem Ort bietet. An diesem Ort, an dem sich an Persönlichem nur das Notwendigste und Liebste befindet. An dem sich auch das Handeln eingrenzt auf das dem eigenen Leben Wichtigste. Nur.

      ‚Nur’ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Reduzierung, sondern Essenz.

      Am Meer ist so viel Kraft. Pure Energie. Ich ein kleines Element darin, und auch voller Kraft, als würde die überschwappen, durch die Wellen, in die Poren. Infiltriert mit Energie und Kraft, ich. So ganz anders als in der Stadt.

      Am Meer bei mir, in der Stadt neben mir.

      Dabei ist es doch so elementar, bei sich zu sein. Erschreckend, wie oft ich mich verliere, in meinem Stadtleben, und eben nicht bei mir bin, sondern nur funktioniere. ‚Nur’ diesmal in der Bedeutung der Reduzierung, nicht der Essenz.

      Nur zu funktionieren - das ist zu wenig.

      Nur da zu sein - das ist Fülle.

      Irgendwie werde ich nun den nahenden Winter in Berlin überstehen müssen, ohne seidigen Sand an den Füßen, und ohne funkelnde Salzwassertropfen auf der Haut.

      Ich denke immer wieder mal an Marielou in diesem Winter. Wie es ihr wohl geht? Ob sie wiederkommt im nächsten Jahr?

      Meine Neugier lässt mich öfter als früher am Haus von den Hansens vorbeigehen, immer in der Hoffnung, vielleicht etwas aufzuschnappen oder zu entdecken, was mir einen Hinweis auf sie geben könnte. Gestern hat es sich tatsächlich gelohnt: Herr Hansen hatte die Post auf dem Gartentisch liegen lassen, darunter war eine Weihnachtskarte von Marielou - ich konnte nicht anders, als die Karte zu lesen.

      „Manchmal frage ich mich, ob ich nicht mein Leben umkrempeln sollte: zu Euch in den Norden ziehen, und mir dort einen Job suchen“ stand, neben den Weihnachtsworten, darauf.

      Das klingt mir nach genau den Fragen, die aufkommen in dem Alter, in dem Marielou zu sein scheint. Ich kenne das. Mir ging es auch so als ich Mitte Dreißig war: was vorher gut und richtig war, schien es plötzlich nicht mehr zu sein. Was sich vorher fest und überzeugt anfühlte, wurde plötzlich unsicher und hinterfragt. Es fühlte sich an, als würden die Warums und Weshalbs hinter jeder Ecke lauern, an jedem Tag und in jedem Lebensaspekt. Als wolle das Leben noch einmal neu aufgebaut werden. Als sei es nicht schon anstrengend genug gewesen, das aufzubauen, was ist: wollte mein Leben sich noch einmal definieren und neu erschaffen. Leider scheint es dabei oft wie ein quengelndes Kind, das nicht sagt was es will, sondern nur, was es nicht will. Und wenn es etwas will, dann weiß es nicht, wie es das bekommen kann.

      Die Menschen nennen dies auch gerne eine ‚Midlife-Crisis‘, und packen ihre Gefühle in diese Schublade.