Sven Gradert

Andran und Sanara


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beschlich eine dunkle Vorahnung. Er rannte sofort die nächstgelegenen Stufen des Wehrganges herunter und ließ sich ein Pferd geben. Dann jagte er durch die leergefegten Straßen der Stadt zum Palast. Die noch verbliebenen Soldaten auf dem Platz sahen verwundert zu, wie der Zauberer im vollen Galopp vorüber schoss und das Tier erst kurz vor den Stufen zum Halten brachte. Ohne sich um irgendjemanden zu kümmern, hechtete er die Stufen empor und stieß jeden zur Seite, der ihm in den Weg kam. Dann rannte er durch die langgezogenen Flure in Richtung Mais Gemächern. Als er sie erreichte brach er die verschlossene Tür kraft seines Willens auf und trat ein. Als er Mai erblickte, spürte er einen Stich in seinem Herzen, dabei traute er seinen eigenen Augen nicht. Mai stand mit dem Rücken zu ihm und drehte sich langsam herum. Mit einem schnippen ihrer Finger brachte sie die Tür dazu wieder ins Schloss zu fallen. Mai stand barfuß vor ihm und trug lediglich eine ärmliche, zerrissene graue Leinentunika. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie abgeschnitten. Ihr Körper war mit unzähligen blauen Flecken und kleineren Wunden übersät, die sie sich selbst zugefügt hatte. Vitras musste schlucken. Er hätte sich nie vorstellen können, die stolze Kriegszauberin in einen derart erbärmlichen Zustand anzutreffen. Vitras hatte Mühe, überhaupt auch nur ein Wort hervorzubringen:

      „Was... was soll das?“

      Mai blickte ihn mit einer wilden Entschlossenheit an. So sehr ihr Aussehen jetzt auch täuschen mochte, in ihren Augen funkelte ein tödlicher, zu allem entschlossener Wille.

      „Das ist meine Tarnung!“ antwortete sie ihm, als ob es um ein passendes Kleid für den nächsten Ball ginge.

      „Wenn ich mich so ins Lager des Feindes schleiche, werde ich wohl kaum auffallen.“

      Plötzlich bekamen ihren Augen einen traurigen Ausdruck:

      „Es würde mir sehr viel bedeuten, wenn ihr mir Glück wünschen würdet. Wenn ihr mir euren Segen gebt. Nur, ich werde gehen. Eure Erlaubnis brauche ich nicht!“

      Vitras setzte sich auf einen kleinen Schemel der neben der Tür stand und bedachte Mai mit einem flehenden Blick:

      „Gibt es denn gar nichts, um euch von eurem Vorhaben abzubringen Mai? Ich will euch einfach nicht verlieren. Sanara wird es das Herz brechen!“

      Mai schritt auf ihn zu und ging vor ihm in die Knie. Dann nahm sie seine rechte Hand und umschloss sie mit den ihren:

      „Es gibt keine andere Möglichkeit Meister Vitras. Ihr wisst das auch ganz genau. Wenn ich mit meinem Tod bewirken kann, dass die Stadt gerettet wird, dass ihr und eure Enkeltochter überlebt und die Prophezeiung damit nicht abgewendet wird... dann zahle ich den Preis von ganzen Herzen!“

      Vitras schaute ihr lange in ihre ausdrucksstarken, dunklen, braunen Augen. Dabei nahm er seine freie Hand und strich der Kriegszauberin zärtlich über die Wangen, als sie auch schon fortfuhr:

      „Diran hat nicht die geringste Chance gegen diese gewaltige Übermacht. Sobald die Katapulte die Mauern an mehreren Stellen durchbrochen haben, werden ihre Krieger die Stadt stürmen. Selbst wenn es uns beiden gelingt, hunderte von ihnen zu töten, so werden Haruns Truppen am Ende doch siegreich sein.“

      Vitras musste sich eingestehen, dass Mai absolut Recht hatte. Aber ihren Tod konnte und wollte er nicht akzeptieren:

      „Dann werde ich eben gehen!“ sagte er ruhig und gefasst.

      Mai schüttelte jedoch nur leicht mit ihrem Kopf:

      „Und was glaubt ihr, wie Sanara das aufnehmen würde. Nein! Das Mädchen braucht euch dringender als mich.“

      Mit den Worten erhob sie sich und ging zu ihrem Bett, auf dem sich ein Paket befand, das mit feinen Leinentüchern verpackt und von dünnen Lederbändern zusammengehalten wurde.

      „Habt ihr eine Ahnung wie ich das Sanara erklären soll?“ fragte Vitras geistesabwesend, als Mai ihm das Paket überreichte.

      „Ihr werdet Sanara gar nichts erklären müssen!“ antwortete ihm Mai und lächelte: „Wenn es vollbracht ist, gebt ihr das hier. Sie wird dann alles verstehen!“

      Gedankenverloren nahm Vitras das Paket entgegen. Er stand auf und versuchte, sich zusammen zu reißen:

      „Wie sieht euer Plan denn nun genau aus?“

      „Ich habe alles mit Generalmajor Gisdern besprochen!“ erklärte ihm die Kriegszauberin: „Er hätte euch noch rechtzeitig benachrichtigt. Sobald es dunkel wird werde ich die Stadt durch einen Tunnel verlassen, der nicht unweit des feindlichen Lagers endet. Noch ein wenig Schmutz und Dreck...“ bei den Worten schaute Mai an sich herab: „Und man wird mich für nichts anderes als eine der vielen Huren halten, die sich immer im Tross eines Heeres dieser Größe aufhalten. Ich werde mich zur Mitte des Lagers begeben, von wo aus ich den größten Schaden anrichten kann. Ich hoffe, dort wird sich auch der Generalsstab befinden.“ Mai atmete tief ein, bevor sie weitersprach: „Einmal dort angekommen suche ich mir ein kleines Versteck... dann lasse ich es geschehen!“

      Vitras stellte das Paket für Sanara neben den Schemel, trat einen Schritt auf Mai zu und schloss sie in seine Arme, wie er es sonst nur mit seiner Enkeltochter tat. Mai erwiderte die Umarmung und hielt den Kriegszauberer fest an sich gedrückt. Als sie sich wieder voneinander lösten erkannte Vitras in ihren Augen, dass sie ihren inneren Frieden wiedergefunden hatte.

      Als die Dämmerung herein brach standen Vitras, sowie die Generäle Kurz und Gisdern mit mehreren Soldaten am Eingang des Tunnels den Mai nehmen wollte. Die Männer hatten allesamt eisige Minen, und es herrschte eine gedrückte Stimmung. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Von weitem waren noch immer die Einschläge der Katapulte zu hören. Der Feind hatte anscheinend beschlossen, auf gut Glück auch in der Dunkelheit den Beschuss fortzusetzen, was die Nerven der Einwohner Dirans blank liegen ließ. General Kurz stöhnte gequält auf, als Mai erschien und er die Kriegszauberin in dieser Aufmachung sah. Die Generäle sowie Vitras schlossen Mai ein letztes Mal in den Arm. Dabei hätte Mai schwören können, dass dem Kriegszauberer eine Träne über die Wange lief. Sie strich ihm über den kahlen Schädel und konnte das Pochen der eintätowierten Runen spüren. Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, im dunklen Tunnel. Die Männer starrten allesamt lange in die schwarze Öffnung des Tunnels, bis die Stimme des Keldanischen Generals sie aus ihren Gedanken holte:

      „Meister Vitras! Ich habe wenig, eigentlich überhaupt keine Erfahrung was die Magie anbelangt. Wie können wir erkennen, ob Meisterin Mais Vorhaben glückt? Woran erkenne ich das Zeichen für meine Männer?“

      „Das Zeichen für eure Männer?“ fragte Vitras verblüfft.

      „Meisterin Mai schlug vor,“ erklärte ihm der General: „das sobald wir das Zeichen sehen, ich mit meinen Soldaten ausrücken soll. Um mit den Resten, so wie sie es ausdrückte, aufzuräumen!“

      „Glaubt mir nur eines General Gisdern! Das Zeichen werdet ihr erkennen – und ihr werdet es in eurem ganzen Leben nicht vergessen!“

      Vitras und die beiden Generäle begaben sich nun wieder zu den Wehranlagen, während sich die Keldianischen Verbündeten für ihren Ausfall bereit machten.

      ***

      Mai brauchte ungefähr eine Stunde, bis sie in dem engen Tunnelsystem, kriechend den Ausgang erreichte. Eine kleine magische Feuerkugel, die sie die ganze Zeit über ihren Kopf schweben ließ, sorgte dafür, dass sie sich in der Dunkelheit der Tunnel zurechtfand. Der Ausgang war von außen komplett mit Wildsträuchern zugewachsen, die sich sogar schon ins Innere des Tunnels vorgekämpft hatten. Mai ließ die magische Kugel kraft ihres Willens erlöschen und begann augenblicklich sich durch das Dickicht der Gewächse zu kämpfen. Als sie sich endlich wieder im Freien befand, erschrak sie kurz, wie dicht sie dem Lager schon war. Sie erhob sich und schritt darauf zu. Nach wenigen Schritten begegnete ihr schon die erste Patrouille von drei Mann, die kaum als sie Mai sahen, lüsterne Bemerkungen in ihre Richtung warfen. Mai blickte flüchtig in alle Richtungen, um sich zu vergewissern, dass keine weiteren Soldaten in der unmittelbaren Umgebung waren. Dann schritt sie schnurstracks auf die drei zu. Die Männer hielten an und erwarteten gleich ihren Spaß zu bekommen, als sie