Sven Gradert

Andran und Sanara


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über ihre toten Körper hinweg, als wären sie Müll. Je näher sie dem Lager kam, desto mehr Soldaten liefen ihr über den Weg. Viele waren betrunken und grölten durch die Nacht. Ganz offensichtlich wurde es ihnen noch einmal gestattet, sich zu amüsieren, bevor die Katapulte ihren Beschuss beendeten und die richtigen Kampfhandlungen, Mann gegen Mann begannen. Wann immer es ihr die Umstände erlaubten, brach sie den Soldaten, die ihr gefährlich nahekamen, Kraft ihres Willens das Genick. Waren einfach zu viele anwesend, spielte sie das Spiel mit. Sie lachte, ließ sich begrabschen und fand immer wieder einen Weg, sich herauszuwinden um schnell weiter zu gehen. Inzwischen hatte sie auf diese Weise die ersten Zelte und Vorläufer des gewaltigen Heerlagers erreicht. Sie passte ihren Gang den einer betrunkenen Hure an, die ihr über den Weg lief und marschierte einfach weiter. Inzwischen befand sie sich tief im Lager. Sie beherzigte Vitras' Rat, einen Bogen um die Zelte des Drachenbataillons zu schlagen. Immer weiter drang die Kriegszauberin in das Lager ein, ohne dass man ihr die geringste Beachtung entgegenbrachte. Überall vor den Zelten brannten Lagerfeuer, an denen die Soldaten sich wärmten, oder über denen sie den Inhalt ihrer Suppenschüsseln erwärmten. Häufig flogen irgendwelche Zeltplanen auf und halbnackte Dirnen rannten gackernd heraus, um sich sogleich einem anderen Soldaten um den Hals zu werfen. Vor vielen Zelten bildeten die Männer auch ein Halbrund, innerhalb derer Zweikämpfe stattfanden, auf dessen Ausgang teils hohe Summen gesetzt wurden. Plötzlich entdeckte Mai ein riesiges, prächtiges Zelt, das in nicht allzu weiter Entfernung auf einem etwas höher gelegenen Hügel aufgeschlagen war. Sie hielt unauffällig auf ihn zu und erkannte schnell, dass der gesamte Bereich rund um den Hügel von Soldaten abgesperrt war. Die Kriegszauberin hatte den Kommandostand gefunden. Suchend blickte sie sich um und entdeckte einen Karren, der hinter einem der einfachen Zelte abgestellt war. Zudem war es dort, wo das Gefährt stand, relativ dunkel. Flink begab sie sich dorthin und krabbelte unter den Karren. Dann wartete sie noch einen Moment ab, aber ganz offensichtlich hatte sie niemand bemerkt. Sie setzte sich und schlug die Beine übereinander. Die Kriegszauberin musste noch einmal an Sanara und ihre täglichen gemeinsamen Übungen denken. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht als sie an ihre erste Begegnung mit Filou zurückdachte. Dann begann sie sich zu konzentrieren.

      Wie üblich fing die Luft, die sie umgab, an zu flirren und zu schwirren. Mai ließ jedoch nicht ihren Willen wirken. Sie fuhr so stark fort, sich zu konzentrieren, dass ihre Adern an Hals und Armen hervortraten. Der Karren, unter dem sie sich befand, begann sachte zu schaukeln und kleine Holzsplitter lösten sich aus seinen Brettern. Völlig in sich versunken, konnte Mai die göttliche Quelle in ihrem Körper spüren. Die Kraftquelle, der alle Magier ihre Macht verdankten. Vorsichtig begann sie ihren Willen zu lenken, ließ ihn jedoch nicht frei, um ihn stärker und stärker werden zu lassen. Ihre Adern begannen zu pochen und zu schmerzen, der Schweiß rann in Strömen aus allen Poren ihres Körpers. Doch das bemerkte sie gar nicht mehr. Sie spürte nur noch ihren Willen der so stark wurde, bis sie ihn nicht mehr halten konnte. In diesem Augenblick lenkte sie ihn urplötzlich in ihr innerstes. Sie ließ ihren Willen auf ihre göttliche Quelle los. Ihre Körperorgane erlitten sofort einen totalen Zusammenbruch, das Blut in ihren Adern begann zu kochen. Die Atome ihres Körpers schossen, von ihrem Willen gelenkt, auf ihre Quelle. Durch die hieraus entstandenen Kollisionen in ihrem Körper kam es zu einem Umkehreffekt. Ihre Quelle explodierte. Es entstand ein ohrenbetäubender Knall, dessen Druckwelle noch auf den Wehranlagen Dirans zu spüren war. Gleichzeitig durchschlug ein Lichtblitz den Karren und schoss senkrecht in den Himmel, während die Kraft der gewaltigen Explosion nahezu das gesamte Heerlager verwüstete. Druckwelle jagte um Druckwelle aus dem Kern der Explosion, der vor wenigen Augenblicken noch Mais Körper darstellte. Ringförmig rasten die Detonationswellen vom Kern fort und brachten Tod und Zerstörung über alles was die Explosion überlebte.

      Die Verteidiger auf den Wehranlagen Dirans mussten sich die Hände vor die Augen halten, als der grelle Lichtblitz in den Himmel emporschoss. Die Explosion war verheerend, die nachfolgenden Druckwellen katastrophal. Das feindliche Heerlager war sekundenlang taghell erleuchtet. Ungläubig beobachteten die Soldaten auf den Wehranlagen, die sich rasch ausbreitende Zerstörung.

      „Ich denke, das dürfte euer Zeichen sein!“ brüllte Vitras lautstark, damit General Gisdern ihn bei dem ohrenbetäubenden Lärm hören konnte. Gisdern zitterte am ganzen Körper. Schnell sammelte sich der Offizier jedoch wieder und rannte zu den wartenden Einheiten. So schnell die Katastrophe über Harun Ar Sabahs Armee hereinbrach, so schnell war alles wieder vorüber. Vitras gab dem Tor Kommandanten ein Handzeichen, woraufhin dieser das Haupttor öffnen ließ. Vitras blieb auf dem Wehrgang oberhalb des Tores und beobachtete, wie die viertausend Keldianer aus dem Tor preschten und auf das feindliche Heerlager zuhielten. Dort angekommen, bot sich ihnen ein Bild der kompletten Zerstörung. Die Keldianer ritten durch ein Meer aus Schutt und leblosen Körperteilen. Wann immer sie Überlebende fanden, töteten sie diese aus einem Akt des Erbarmens und Mitleids – und nicht länger, weil es sich um den Feind handelte. Der Sieg über Harun Ar Sabahs Armee war komplett und total.

      Vitras blieb lange auf der Wehranlage stehen und schaute abwechselnd, mal zum Sternenfirmament dann wieder zum zerstörten Heerlager. Dabei dachte er an Mai. Als die ersten Keldianer zurückkehrten und von der Niederlage des Feindes berichteten, brach ein ohrenbetäubender Jubel auf den Mauern aus. Wie ein Lauffeuer breitete sich die Nachricht in der gesamten Stadt aus. Trotz des Sieges mochte in Vitras keine Freude aufkommen. Erleichterung gewiss, aber keine Freude. In Gedanken versunken verließ er die Wehranlagen, stieg auf ein Pferd das ihm ein junger Diranischer Soldat brachte und ritt zurück zum Palast. Von überall strömten die Bewohner Dirans auf die Straßen und feierten überschwänglich.

      Im Palast angekommen suchte Vitras erneut Mais Gemächer auf und setzte sich wieder auf den kleinen Schemel. Bis zum frühen Morgen blieb er dort sitzen und dachte an all die schönen Momente mit der stolzen Kriegszauberin zurück. Ihre Trainingseinheiten mit Sanara, ihre gespielte Furcht vor Filou oder auch die Art wie sie ihre Augen verdrehte, wenn sie kurz davor stand einen Wutanfall zu bekommen. Noch immer stand das Paket dort, wo er es am Vortag abgestellt hatte. Er hob es auf, verließ den Raum und ging zu seinen und Sanaras Gemächern. Er hatte Angst vor dem was nun vielleicht kommen mochte. Als er die Tür öffnete stand Sanara schon fertig angezogen im Zimmer und begrüßte ihn.

      „Guten Morgen Großvater! Ist es wahr, wir haben wirklich gewonnen?“

      Vitras nickte ihr lediglich zu: „Ja es ist wahr. Der Feind ist geschlagen!“

      „Das sind ja großartige Neuigkeiten,“ erwiderte sie, während sie sich ihr Kurzschwert anlegte.

      „Ich werde gleich zu Mai gehen und sie fragen ob wir das Training wieder aufnehmen können.“

      Vitras schritt auf seine Enkeltochter zu und beschloss sich genau an Mais Worte zu halten.

      „Ihr werdet ihr gar nichts sagen müssen. Wenn es vollbracht ist gebt ihr das hier. Sie wird dann verstehen.“

      „Ich habe hier etwas für dich,“ brachte er in einem stockenden Tonfall hervor: „Etwas, dass ich dir von Mai geben soll!“

      Überrascht nahm Sanara das Paket aus den Händen ihres Großvaters und bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Als sie ihm ins Gesicht schaute, wurde ihr schlagartig klar, dass etwas schreckliches passiert sein musste. Vitras fuhr einmal zärtlich mit seiner Hand über Sanaras pechschwarzes Haar. Dann drehte er sich um und verließ die Räumlichkeiten wieder. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte ging Sanara mit dem ziemlich großen Paket in ihr Zimmer, stellte es auf ihr Bett und setzte sich daneben. Filou schnupperte interessiert an den Leinentüchern, die das Paket umschlossen während Sanara die Lederschnüre auseinander band, um es zu öffnen. Ihr Herz krampfte sich zusammen als sie den Inhalt sah. Fein säuberlich zusammen gelegt befand sich Mais schwarzer Kampfanzug darin, mitsamt all den Wurfsternen, Messern und einem nagelneuen Paar Stiefeln. Obenauf lag ein zusammengefalteter Brief. Sanara nahm das Papier in ihre Hände und konnte urplötzlich ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie Mai niemals wiedersehen würde. Dann faltete sie den Brief auseinander und begann zu lesen.

       Liebe Sanara,

       wenn Du diese Zeilen liest, werde ich im großen Sanktrum wandeln. Es tut mir unendlich leid, dass mir nur so wenig Zeit mit Dir vergönnt