Melanie Ryan

Unter Briten


Скачать книгу

mpty-line/>

      Melanie Ryan (geb. 1967) studierte Geschichte, Anglistik und Germanistik in Siegen. Seit beinahe 13 Jahren arbeitet sie undercover in der Londoner City, wo sie unauffällig das Leben und Walten von Briten in ihrem natürlichen Lebensraum erforscht.

      Seit 2009 hält sie ihre Beobachtungen in einem Blog fest. Zum ersten Mal ist in diesem eBook das Wesentliche zusammengefasst, das man wissen muss, wenn man einen Besuch in - oder gar Umzug nach - Großbritannien plant.

      Typisch Britisch? - Klischees und Realität

      Toleranz: Jeder wie er meint

      Als ich noch in Deutschland lebte, habe ich mich oft über die selbsternannten Wächter geärgert, die aufpassen, dass alles seine Ordnung hat, wie zum Beispiel der ältere Herr, der mich einmal in einem Zug aufklärte: „Das is hier aber erste Klasse“ oder der Mopedfahrer auf dem Supermarktplatz, der sich meine Autonummer aufschrieb, weil ich beim Einbiegen in eine freie Parkbucht den Blinker nicht gesetzt hatte.

      Hier in England kann einem so etwas nicht passieren. „Each to their own“ – jeder wie er meint – ist hier das Motto. Auch wenn Leute im Zug ihre leeren Chipstüten und Schokoriegelverpackungen einfach auf den Boden fallen lassen, halbvolle Cola- und Bierdosen oder Kaffeebecher unter ihren Sitz stellen, wo sie beim nächsten Bremsen umfallen und eine klebrige Pfütze hinterlassen, ihre Füße in schmutzigen Schuhen oder stinkenden Socken auf den gegenüberliegenden Sitz legen, ihren iPod so laut aufdrehen, dass man das blecherne Geschepper noch am anderen Ende des Wagens hören kann oder lauthals über Handy mit ihrem Freund Schluss machen.

      Seit ich jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit fahre wünsche ich mir manchmal die deutschen Einmischer zurück. Wahrscheinlich ist mit meinem kürzlich erfolgten Eintritt ins Erwachsenenalter meine Toleranzschwelle noch weiter gesunken, aber solche Beispiele von schlechtem Benehmen und Rücksichtslosigkeit gehen mir zunehmend auf den Wecker. In Deutschland ist das seltener so, weil über kurz oder lang jemand daherkommen und die Verursacher auffordern würde, gefälligst ihren Müll einzusammeln oder die Quadratlatschen vom Sitz zu nehmen. Es ist peinlich, zurechtgewiesen zu werden, und weil man weiß, dass man unweigerlich zurechtgewiesen wird, macht man es erst gar nicht. Das Ergebnis sind sauberere Züge und angenehmere Fahrten.

      Engländern ist es auch peinlich, öffentlich zurechtgewiesen zu werden, aber es ist beinahe noch peinlicher, der Zurechtweiser zu sein. „Eine Szene zu machen“ gehört noch weniger zum guten Ton als einen halbgegessenen Burger unter dem Sitz zu deponieren. Nur meine deutsche Freundin stört das gar nicht. Sitzt neben ihr, in einem Zug, in dem der individuelle Sitzraum ohnehin sparsam bemessen ist, ein Mann der breitbeinig und -armig eine Zeitung liest, so dass sie gezwungen ist, sich – je nachdem, wo sie sitzt – mit Wange und Schulter ans Fenster zu schmiegen oder mit einer Pobacke über dem Mittelgang zu balancieren, scheut sie sich nicht, für alle gut hörbar zu sagen: „Sie wissen schon, dass der Luftraum vor jedem Sitz für die Nutzung durch den vorgesehen ist, der gerade darauf sitzt?“. Oder: „Hallo, entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, sie haben ihren Müll vergessen.“ Meistens ist es dann so, dass der Angesprochene rot wird und ihrer Aufforderung stillschweigend Folge leistet. Trotz ihrer Erfolgserlebnisse habe ich mich bis jetzt noch nicht getraut, es ihr gleich zu tun.

      Dass Engländer sich nicht beschweren, heißt nicht, dass schlechtes Benehmen sie nicht ärgert, aber Reaktionen beschränken sich in der Regel auf Kopfschütteln, Grunzen und vielleicht missbilligendes Zungenschnalzen. Wenn mal einer was sagt, grinsen viele schadenfroh und sagen sich innerlich: „Yessss!“ Das weiß ich, weil sie über solche Vorfälle anschließend gern berichten. Man regt sich auch hier gern und viel auf, aber nie gegenüber denen, die die Ursache des Übels sind.

      Hier im Südosten kommt freilich noch hinzu, dass schon Leute verprügelt oder gar erstochen wurden, weil sie einen Mitreisenden höflich darauf hingewiesen hatten, seine leere Bierdose umweltgerecht dem Recycling zuzuführen.

      Einmal wurde ich Zeugin, wie ein Mann um die fünfzig im Zug zwei Jugendliche (die größer und breiter waren als er) am Kragen packte und schüttelte, weil sie einen Joint angezündet hatten. Sie nahmen eine solche Behandlung natürlich nicht stillschweigend hin und fingen an herumzupöbeln und den Mann zu bedrohen: „Ich hau’ dir gleich einen in die Fresse!“ An der Stelle fing ich an, in meiner Handtasche nach meinem Handy zu graben, aber der Mann antwortete: „Mach doch! Das will ich sehen.“ Die beiden sahen dann doch lieber von ihrem Vorhaben ab. Wahrscheinlich waren sie zu demselben Schluss gekommen wie ich: Der muss eine Nahkampfausbildung haben, sonst hätte er sich wie alle anderen schweigend über den Rauch geärgert, wie sich das gehört.

      Also, wenn Sie sich von den die Einmischern zu Hause auch genervt fühlen mögen: Es hat auch sein Gutes. Ich dagegen mache gerade eine Nahkampfausbildung.

      PS: Eine todsichere Methode, den Sitz neben sich selbst in einem vollgepackten Zug oder einer U-Bahn freizuhalten, ist offenbar, den Sitzsuchenden mit einem strahlenden Lächeln ins Gesicht zu sehen und mit der flachen Hand auf den freien Sitz neben sich zu klopfen, vielleicht begleitet von einem ermunternden Kopfnicken, wie es ein Londoner Comedian einmal vorschlug.

      Die steife Oberlippe

      Wusstet ihr, dass Engländer eine steife Oberlippe haben? „Stiff upper lip“ bedeutet, dass man sich nicht beklagt, dass man heldenhaft erträgt, eine Mischung aus „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ und „da muss man durch“. Es ist eine anatomische Besonderheit, auf die der Engländer sehr stolz ist.

      In einem heißen Sommer vor wenigen Jahren wurde es in der U-Bahn ziemlich warm. Touristen fielen um wie die Fliegen, während englische Arbeitnehmer im Anzug und mit Schlips ungerührt die Financial Times lasen.

      Vor einer Weile stand in der Zeitung, dass hierzulande der Anteil der Männer, die an chronischen Krankheiten sterben, wesentlich höher ist, als der der Frauen. Der Grund dafür ist, dass Männer nicht zum Arzt gehen, oder erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. Das wurde erklärt mit der steifen Oberlippe: Männer ertragen halt, und rennen nicht wegen jedes kleinen Zipperleins zum Arzt.

      Diese Theorie hat meiner Meinung nach zwei offensichtliche Schwachpunkte: Erstens reduziert sie die steife Oberlippe auf eine Eigenschaft englischer Männer. Ich bin sicher, englische Frauen wären damit nicht einverstanden, denn auch sie sind stolz auf die nationale Unerschütterlichkeit. Zweitens ertragen Männer – auch englische – Schmerzen wesentlich schlechter als Frauen und sind, wenn sie krank sind, wesentlich kränker. Meiner Meinung nach ist der Grund dafür, dass Männer nicht zum Arzt gehen, nicht das heldenhafte Erdulden von Unpässlichkeit, sondern Angst, dass der Arzt eine ernsthafte Erkrankung feststellen könnte.

      Die steife Oberlippe mag zwar zum nationalen Selbstbewusstsein beitragen, ist aber nach Meinung vieler Ausländer (unter anderem von Franzosen und Deutschen) auch der Grund dafür, dass sich hier so selten etwas ändert: volle, heiße, vollgemüllte verspätete Züge, geschlossene Bahnhöfe, volle Wartezimmer beim Arzt und lange Wartelisten im Krankenhaus, lange Schlangen bei der Post … Der Engländer erträgt und schweigt. Mit unbewegter Oberlippe.

      Das gilt aber nur, bis er nach Hause oder ins Büro kommt. Da steht dann die Oberlippe nicht mehr still und es wird gemosert, was das Zeug hält.

      Meister des belanglosen Gesprächs - Smalltalk

      Engländer sind Meister des Smalltalk. Deutsche tun sich damit manchmal schwer. Mancher, der länger hier ist, hat sich dran gewöhnt, andere können sich nie damit anfreunden.

      So eine Fahrstuhlfahrt ist mitunter lang, und es wäre nicht auszudenken, wenn man sich minutenlang schweigend gegenüberstehen müsste. Man muss sprechen. Freitags oder montags bietet sich das Thema „Wochenende“ an. Jeden Montag fragt mich irgendein Kollege im Aufzug (natürlich erst, nachdem er sich pflichtschuldigst nach meinem Befinden erkundigt hat): „Und? Was hast du am Wochenende gemacht“

      Jeden Freitag, wenn mich einer nach den Plänen fürs Wochenende fragt, und jeden Montag, wenn ich berichten soll, was ich am Wochenende gemacht habe, bricht mir der Schweiß aus, obwohl mich manchmal der Eindruck beschleicht, dass die Gestaltung meines Wochenendes den fragenden Briten im Grunde genauso wenig interessiert,