Melanie Ryan

Unter Briten


Скачать книгу

die auf den Boden, bevor ihr aussteigt. Die beim nächsten Bremsen auslaufenden Reste sorgen für den für die Londoner U-Bahn so charakteristischen Klebeboden. Ihr habt so zur generellen U-Bahn-Atmosphäre beigetragen.

      Regel Nr. 9

      Falls der Sitz gegenüber frei sein sollte, legt eure Füße darauf ab (lasst aber unbedingt die Schuhe an, legt keine Zeitung unter) und ignoriert auch die Schilder, auf denen darum gebeten wird, das nicht zu tun. Es wird niemand meckern, und ihr habt es schön gemütlich.

      Regel Nr. 10

      Stellt keinen Blickkontakt zu Reisenden her, die ihr nicht kennt. Während es in Fernreisezügen üblich ist, ein Gespräch mit Mitreisenden anzufangen, wird dies im Londoner Personennahverkehr tunlichst vermieden. Beim ignorieren der anderen Passagiere hilft die morgens kostenlos erhältliche Zeitung „Metro“, abends der „Evening Standard“. Verbergt euer Gesicht am besten ganz dahinter. Das ist auch sehr hilfreich für Regel 11.

      Regel Nr. 11

      Statistisch gesehen wird bei jeder 10. U-Bahn-Fahrt ein schräger Typ oder Besoffener (oder ein besoffener schräger Typ) in eurem Wagen mitreisen. Egal, auf welche Weise sich dessen Schräg- oder Besoffenheit äußert: Ignorieren. Man glotzt nicht, man sagt nichts. Londoner sind schließlich tolerant. Außerdem ist derjenige mitunter auch nicht gefährlich, sondern nur exzentrisch. Blickkontakt bedeutet, dass der Typ ein Gespräch mit euch anfangen wird und, glaubt mir, das sollte man besser umgehen.

      Regel Nr. 12

      Seht beim Aussteigen zu, dass ihr eure Siebensachen mitnehmt (außer dem halb gegessenen Kebab und dem Cola-Becher natürlich). Ein vergessener Rucksack oder auch nur eine Plastiktüte mit Einkäufen wird die ganze Linie stilllegen. Das kann euch eigentlich egal sein, da ihr ja ausgestiegen seid, mag euch aber am Ende doch noch einholen, wenn ihr merkt, dass ihr eine Haltestelle zu früh ausgestiegen seid.

      Die verschwundenen Züge der Circle Line

      Über das Pendeln in und um London könnte man Romane schreiben. Wenn man den Londonern glauben schenken kann, hassen sie die U-Bahn. Aber sie hassen es noch viel mehr, wenn sie nicht fährt. Erst dann lernt man schätzen, dass die Fahrt in einer Sardinenbüchse immer noch besser ist, als gar keine Fahrt. An Streiktagen lernt man die Tube – mit all ihren Fehlern – wieder zu schätzen.

      Ein Grund dafür, dass Londoner die U-Bahn nicht so richtig ins Herz geschlossen haben ist zwar die Unbequemlichkeit der Fahrt, aber ein anderer ist die Unzuverlässigkeit. Die Reise von A nach B kann sehr, sehr lange dauern. Manchmal steht man ewig wartend auf dem Bahnsteig, der immer voller wird, oder aber man sitzt ewig wartend in einer unbewegten U-Bahn in einem dunklen Tunnel. (Man hängt gewissermaßen im Schacht.) Verzögerungen können aber natürlich auch bei Eisenbahnfahrten auftreten.

      Oft liegt’s am Wetter. Wie kann das sein? Wen kümmert unter der Erde das Wetter? Doch auch die längste unterirdische U-Bahn-Strecke hat ein Ende, und das letzte Stück fahren die Züge oberirdisch. Eine Verzögerung hier verursacht einen Rückstau auf der ganzen Strecke. Die Londoner U-Bahn hat Probleme mit: Schnee, Eis, Blättern auf den Gleisen, Wind und Hitze. Bei starken Regenfällen werden die unterirdischen Gleise manchmal überflutet. Das optimale Wetter für den U-Bahn-Verkehr ist fast nicht zu erzielen.

      Immerhin wird man in der Regel per Durchsage darüber informiert, warum nichts geht. Meist ist es „Signalversagen“. Erstaunlicherweise hört man auch recht oft: „ ... due to a passenger incident“ oder „ ... due to a person under a train“ – es fallen oder springen anscheinend viele Leute vor Züge. Als ich noch in London lebte und täglich U-Bahn fuhr habe ich diese Durchsage tragischerweise im Schnitt einmal in der Woche gehört.

      Ganz häufig ist es auch: „... due to a security alert“. Das ist eigentlich in der Regel nichts weiter, als dass jemand eine Tasche in der U-Bahn vergessen hat, aber es führt zu erheblichen Verzögerungen, nicht erst seit den Anschlägen vom 7. Juli 2005, sondern auch schon lange davor. Alle nachfolgenden Züge werden angehalten und der Bahnhof in dem der Zug mit dem vergessenen Gepäckstück steht wird evakuiert. Ich weiß nicht wie oft ich einen Bahnhof aus Sicherheitsgründen verlassen musste. Jeder flucht auf den Dussel, der seinen Rucksack hat liegen lassen – und hofft, dass einem das nicht einmal selbst passiert. Kann ja mal vorkommen, darf aber nicht.

      Manche Ansagen veranlassen aber die Reisenden zur Verwunderung. Gut war eines morgens eine Durchsage auf der Circle Line: „Erhebliche Verspätungen aus Mangel an Zügen“. Wie? Gestern Abend waren sie alle noch da und heute sind sie weg? Wie kann das sein? Haben Jugendliche Joyrider des nachts die U-Bahn-Züge geklaut? Die Abendzeitung klärte es auf: Die U-Bahn-Fahrer weigerten sich, die älteren Züge der Circle Line zu fahren, weil das Bremssystem ihrer Meinung nach Mängel aufwies. (Davon hat man dann nie wieder was gehört. Die Circle Line scheint wieder alle Züge zu haben. Wie ich hoffe jetzt mit Bremsen.)

      Meine Kollegin, neulich morgens unterwegs in einem Eisenbahnzug, steckte nach der (normalen) einstündigen Fahrt noch eine halbe Stunde fest, in Sichtweite ihres Zielbahnhofs London Bridge. Der Grund: „hohes Verkehrsaufkommen“. Wie bitte? Das ist doch keine Autobahn. Kamen an diesem morgen unerwartet viele Züge in London Bridge Station an? Und die Bahnhofsverwaltung sagte: „Mensch, was ist denn heute hier los? Wo wollen die denn alle hin? So viele Züge! Ist hier heute ein Fußballspiel oder so was? Ich glaube, wir haben gar nicht genug Bahnsteige.“

      Pendlerrennen

      Etwa 300.000 Menschen arbeiten in der Londoner City, aber nur ungefähr 8.000 leben dort. Wir anderen 292.000 pendeln, da unser Gehalt es uns leider nicht erlaubt, näher an unserem Arbeitsplatz zu wohnen. Im Schnitt verbringen wir zwei Stunden am Tag im öffentlichen Nahverkehr in London.

      In der City herrscht eine relativ strenge Kleiderordnung: Anzug, Hosenanzug oder Kostüm in schwarz, dunkelblau, anthrazit oder grau – mit oder ohne Nadelstreifen – mit wechselndem Hemd oder Bluse. Jeden Morgen werfen wir uns in unsere Bürokluft … und schnüren uns dann Turnschuhe an die Füße. Die Stöckelschuhe wohnen im Büro und werden erst dort angelegt. Schließlich wollen wir uns erstens nicht die Absätze ruinieren und haben zweitens ein Rennen vor uns. Uns doch egal, wie das aussieht, es kennt uns ja sowieso keiner und außerdem ist diese Praxis über die Jahre zum City Chic avanciert. Nur ganz vereinzelt ist mal jemand in Stöckelschuhen unterwegs. Die haben es wahrscheinlich nicht weit.

      Am Bahnhof warten wir dann an der Bahnsteigkante auf unseren Zug. Es stehen immer kleine Gruppen von drei oder vier Leuten zusammen. Nicht weil sie Freunde sind, sondern weil genau da die Tür sein wird, wenn der Zug zum stehen kommt.

      Dann steigen wir ein und steuern auf unseren Stammplatz zu. Und wehe da sitzt schon einer oder, noch schlimmer, die Person vor uns setzt sich da hin. Da bedarf es aller Selbstbeherrschung, die man aufbringen kann, um nicht zu rufen: „Äj, da sitz’ ich!!!“

      Die nächste Stunde verbringen wir dann lesend oder dösend. Kaum nähert sich der Zug der Endstation, stehen alle schon mal auf und bewegen sich in Richtung Tür, denn sobald die sich öffnet, beginnt das Rennen. Wir können es kaum erwarten, zur Arbeit zu kommen. Die beiden einzigen Rolltreppen an meinem Bahnhof fahren während der Morgenstoßzeit beide nach unten, abends beide nach oben. Neben den Rolltreppen ist auch noch eine gewöhnliche Treppe, aber wehe dem, der während der morgendlichen „Rush Hour” in den Bahnhof hinein will! Da wälzt sich auch hier eine Menschenmenge nach unten. Hinauf gelangen nur die, die die geheime Treppe bei den Toiletten kennen.

      Wer jeden Morgen mit demselben Zug fährt, dem begegnen auch jeden Morgen dieselben Leute, wie am Murmeltiertag. Zum Beispiel der Mann, der immer so das Gesicht verzieht, als ob er Schmerzen hat (aber so ist sein Gesicht), oder das alternde Pärchen, das immer Hand in Hand zur Arbeit geht, oder die Frau, die immer Kaugummi kaut, oder die, die unten herum aussieht wie 30 (Minirock, Super High Heels und lange, gebräunte, nackte Beine), aber im Gesicht wie 50, oder der große Dicke mit dem roten Kopf, der morgens schon schwitzt und auf dem Weg ins Büro eine raucht. Der sieht immer aus, als ob er jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden