Melanie Ryan

Unter Briten


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Parkplatz der Welt“ bezeichnet. Bei dem überraschenden Wintereinbruch im Januar 2009 lagen Autofahrer 17 (!) Stunden lang auf der M25 fest und wurden vom Roten Kreuz mit Decken und Tee versorgt. Schließlich ist mit Tee alles nur noch halb so schlimm.

      Die M25 ist umgeben von riesigen Kreisverkehren mit mehreren Spuren. Fast jede Auf- und Abfahrt führt durch einen solchen Kreisverkehr. Stellt man sich die M25 als Uhr vor, dann ist unsere Auffahrt auf 3 Uhr. Vor ein paar Jahren, kurz nach dem Erwerb unseres Autos, wollte ich eine Freundin besuchen. Dazu musste ich über die M25 und ungefähr bei 1 Uhr abfahren.

      Unser kleiner Peugeot und ich näherten uns also zum ersten Mal der berüchtigten M25, von der wir beide schon so viel gehört hatten. Ich hatte Schweiß auf der Stirn und meine feuchten Patschehändchen umklammerten das Lenkrad, als ich zum ersten Mal auf den Kreisverkehr zu fuhr, der mich auf die Autobahn schwingen sollte. Zu spät, erst als ich vor der letzten Ampel vor dem Kreisverkehr stand, merkte ich, dass ich mich in die falsche Spur eingeordnet hatte. Zum Spurwechsel war es zu spät, dazu war zu viel Verkehr, und ich musste deshalb, sobald die Ampel auf grün sprang, sehenden Auges in einen Stau einfahren, der in der falschen Richtung (im Uhrzeigersinn) unterwegs war. Es blieb mir nichts anderes übrig als auf- und bei der nächsten Abfahrt wieder abzufahren, um dann die Richtung zu wechseln. So stand ich dann im strahlenden Sommersonnenschein auf dem größten Parkplatz der Welt. 30 Minuten lang kroch ich bis zur nächsten Ausfahrt. Für den Rückweg von dort zu „unserer“ Auffahrt brauchte ich drei Minuten.

      Autofahrer versuchen, die M25 so gut es geht zu meiden. Und doch ... Was täten wir ohne sie? Wir haben Freunde in Henley-on-Thames (9 Uhr). Wenn wir die besuchen, fahren wir im Halbkreis um die M25. Gäbe es die Autobahn nicht, müssten wir mitten durch London: 40 km Hölle. Da bleibt man doch lieber zu Hause. Dank M25 nehmen wir dann doch lieber 100 km Fegefeuer in Kauf. Da kommt man wenigstens am Ende wieder raus.

      Nichtpendeln

      Einmal besuchte ich eine Woche lang einen Kurs an meinem Wohnort. Eine Woche lang konnte ich so tun als arbeite ich vor Ort und bekam so zum ersten Mal seit meiner Ankunft in England einen Eindruck davon, was es heißt, nicht pendeln zu müssen.

      Pendeln am Morgen

      6:10 Uhr: Wecker aushauen und wieder eindösen

      6:30 Uhr: beschließen, aufzustehen

      6:40 Uhr: aufstehen und beeilen

      7:07 Uhr: Handtasche grabschen und hoffen, das alles drin ist, was man braucht; Armbanduhr vergessen; im Gehen Mantel zuknöpfen

      7:08 Uhr: in Trab fallen (dabei unter Umständen Stürzen, Kinn aufschlagen und Finger brechen, was die Ankunft bei der Arbeit wesentlich länger verzögert, als wenn man einfach den nächsten Zug genommen hätte, Rückkehr zur Arbeit nun ca. fünf Wochen später)

      7:17 Uhr: leicht übergewichtigen Körper im letzten Augenblick zwischen sich schließende Türen werfen; auf angestammten Platz fallen lassen und sich bemühen, leise zu atmen, damit nicht der Eindruck entsteht, man sei nicht fit

      8:08 Uhr: aussteigen und umgehend in Pendlerrennen einfädeln, Ellbogen und Füße einsetzen, um Platz an vorderster Front zu behaupten

      8:17 Uhr: da keine Zeit für Frühstück bei Prêt-à-Manger in Schlange einreihen und für ein kleines Vermögen Sandwich und Kaffee kaufen

      8:25 Uhr: mit Papiertüte, Handtasche, Zeitung und Schirm in der Hand im Aufzug stehen und über Verlauf des vergangenen oder Pläne für das kommende Wochenende befragt werden

      8:30 Uhr: schnelle Schuhe gegen High Heels austauschen, Wimperntusche auftragen, frühstücken und Zeitung lesen

      9:00 Uhr: Arbeitsbeginn

      Nichtpendeln am Morgen

      7:40 Uhr: wach, aber noch viel zu früh zum Aufstehen

      7:55 Uhr: Aufstehen, Duschen, Anziehen

      7:10 Uhr: Kaffee kochen – eine Tasse für jetzt, eine für die Reisetasse zum Mitnehmen;

      7:13 Uhr: gestern vorbereiteten Salat, Apfel und Banane einpacken, Sandwich machen, in aller Ruhe überlegen, was man sonst noch braucht und alles in die Tasche stecken, Armbanduhr anlegen;

      7:20 Uhr: gemütlich mit Gatten frühstücken, Kaffee trinken, und anschließend Geschirr weg stellen

      7:30 Uhr: Schminken

      7:45 Uhr: Däumchendrehen

      7:50 Uhr: mit Gatten über besten Anfahrtsweg diskutieren, sagen, dass man ja jetzt Navi hat, also alles voll im Griff

      8:05 Uhr: Aufbruch, da Gatte von höllischer Rush Hour vor Ort berichtet

      8:06 Uhr: Navi programmieren (von Gerät berechnete Ankunftszeit 8:26 Uhr)

      8:11 Uhr: Navi ignorieren und vom Gatten beschriebener Strecke folgen

      8:12 Uhr: Navi berechnet Strecke neu, demnach neue Ankunftszeit 8:22 Uhr (Ha!)

      8:22 Uhr: Ankunft auf Parkplatz, da wegen Sommerferien Rush Hour nicht existent

      8:22 – 9:00 Uhr: Im Auto mitgebrachten Kaffee trinken und Roman lesen

      Pendeln am Abend

      17:10 Uhr: auf dem Weg zum Bahnhof noch eben schnell auf dem Rückweg in den Supermarkt huschen und zwei, drei fehlende Zutaten fürs Abendessen kaufen

      17:15 – 17:30 Uhr: in Kassenschlange stehen, davon die ersten fünf Minuten zwischen den Kühlregalen, wegen sommerlich leichter Kleidung Frostbeulen entwickeln

      17:30 Uhr: mit Self-Checkout herumschlagen

      17:35 Uhr: erneutes Pendlerrennen zurück zum Bahnhof

      17:45 Uhr: Zug um ein Haar verpassen und sich damit trösten, dass man darin sowieso keinen Sitzplatz mehr bekommen hätte

      17:46 Uhr: abchecken, von welchem Bahnsteig der nächste Zug fährt und strategisch dort postieren, wo die Tür sein wird (wegen zu späten Eintreffens aber leider nur in der zweiten oder dritten Reihe).

      17:55 Uhr: Zug setzt sich in Bewegung

      18:10 Uhr: Zug bleibt stehen

      18:20 Uhr: Zug immer noch am selben Fleck, Durchsage informiert, dass entweder

      a) eine Signalstörung vorliegt, oder

      b) ein LKW gegen die Brücke vor uns gefahren ist und die Statik geprüft wird, oder

      c) sich ein Selbstmörder von der Brücke vor uns stürzen will, oder

      d) sich nahe der Strecke ein Großfeuer befindet und wir umgeleitet werden; oder

      e) der Zug vor uns kaputt ist und abgeschleppt werden muss; oder

      f) unser Zug kaputt ist und wir alle entzugt („de-trained“) werden müssen

      18:50 Uhr: frühestmögliche Ankunft an Heimbahnhof, falls alle oben angegebenen Eventualitäten nicht eintreten.

      19:00 Uhr: Ankunft zu Hause mit knurrendem Magen

      19:02 Uhr: ärgern, weil Abwasch von gestern noch herumsteht und benötigter Topf schmutzig ist

      19:05 Uhr: Abwaschen

      19:20 Uhr: wahllos Lebensmittel in Pfanne werfen

      19:40 Uhr: Essen hinunterschlingen

      19:55 Uhr: abwaschen, Geschirr auf Abtropfgitter trocknen lassen

      20:15 Uhr: Wäsche aufhängen

      20:25 Uhr: auf Sofa sinken und Fernseher einschalten

      21:00 Uhr:„Dr. House“ anschauen

      22:00 Uhr: Bett

      Nichtpendeln am Abend

      17:00 Uhr: nach Feierabend noch kleinen Schlenker zum Supermarkt machen um zwei, drei fehlende