Michael Möller

Magic Melanie


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der ihn in den letzten Jahren gesehen hatte: Ein ziemlich heruntergekommener Schausteller mit dem ewig gleichen großkarierten, lächerlichen Anzug. Dazu die winzigen, wasserblauen Augen, die jedoch, das musste man ihm lassen, bis zuletzt neugierig und seltsam wissend blinken konnten. Dass Belema so etwas wie einen letzten Willen zu Papier gebracht haben sollte, war für die Angehörigen erstaunlich genug.

      Tante Jessica sah man die Vorfreude an: Sie saß ganz vorn auf ihrem Sessel und drehte ein rosa Taschentuch mit gesticktem Monogramm in den Händen. Wahrscheinlich glaubte sie, dass so ein Tüchlein ihre Trauerbereitschaft demonstrieren würde, doch ihre Augen blieben trocken, freuten sich auf die alberne Testamentseröffnung: Noch nach seinem Tod würde Belema sich lächerlich machen - ein Nichtsnutz bläht sich ein letztes Mal auf. Der Mann war zeitlebens eine Zirkusnummer. Der Dumme August.

      Olaf wäre ohne sein Handy sicher nie gekommen, doch so könnte er dabei sein, wenn es vielleicht doch noch eine Kleinigkeit zu verscherbeln gab. Nur Onkel Harald war richtig nervös und machte angestrengt Konversation, „Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal in dieser Runde gesehen? Das muss ziemlich lange her sein, was?“

      Melanie fühlte sich hier nicht wohl. Sie war einfach überrascht von der "Vorladung", wie sie es nannte. Die Verwandtschaft kannte sie nur flüchtig. Tatsächlich floh sie wann immer möglich, falls Verwandtschaft in Sicht kam.

      Bis auf Onkel Harald waren sie nicht einmal bei der Beerdigung ihres Opas gewesen. Deshalb war es eine gute Bestattung geworden. Wenn es so etwas geben konnte. — Ein buntes Völkchen hatte sich auf dem städtischen Friedhof versammelt, Opas Kollegen und Freunde. Außer Mel war keiner in Schwarz gekommen. Es war ein kleiner, tapferer Umzug. Melanie hatte sich am Eingang ängstlich umgesehen. Durfte man so überhaupt einen Friedhof betreten?

      Ein Clown nahm ihre Hand. „Du musst Melanie sein. Belema schwärmte oft von deinen Augen. Wir haben immer gedacht, er übertreibt. — Magst du meinen Koffer tragen? Ich bin Pippo. Komm.“

      Pippo drückte ihr ein schwarzes Köfferchen in die Hand. Er ging mühsam, zog das linke Bein leicht nach. Am Grab bat er Melly um den Koffer, nahm seine Trompete heraus und spielte etwas Herzzerreißendes von Jimmy LaRocca. Sein grüner Spitzhut sah dabei so komisch aus, dass Melanie spürte, wie ihre Tränen blockiert wurden. Als sie sich umsah und bemerkte, dass die anderen entspannte Mienen machten, kleine Erinnerungen an den Kollegen tauschten, da löste sich der Krampf in ihren Schultern. Sie konnte einstimmen in das Weißt-du-noch-Spiel, wenn auch ihr Erinnern nicht so weit zurück reichte wie bei Pippo, der mit Belema im Krieg gewesen war, bei der Truppenbetreuung in Norwegen.

      Als sie später plaudernd und lachend durch das weiß verputzte Tor den Friedhof verließen, scherte sie sich nicht mehr um die dunklen, gebückten Gestalten, die bei der Friedhofsgärtnerei standen und ihre schwarzen Handtaschen fester packten, als fürchteten sie, das fahrende Volk mache sich sogleich über sie her. —

      "Ich lade euch alle ein!" Onkel Harald riss Mel aus ihren Gedanken und holte sie zurück in diese angeschlagene Kanzlei. Sofort spürte sie ihre Schultern. Wenn das so weiter ging, bekäme sie in wenigen Minuten wieder diese grausamen Kopfschmerzen. Entspann dich, Kind, sagte sie sich. Entspann dich.

      "Unten hab ich ein thailändisches Restaurant gesehen, ganz gemütlich. Ihr seid alle meine Gäste!"

      Oh Harald, armer Onkel. Er verpulverte schon, was er noch gar nicht hatte. Was er nie bekommen würde. Er konnte einem schon leid tun. Niemand reagierte auf seine großherzige Geste. Jessica steckte betreten ihr Taschentuch ein, Olaf ging die Liste der letzten Anrufe auf dem Display durch.

      Onkel Harald musste jetzt irgend etwas tun. Er zog tatsächlich sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner viel zu weiten Hose, und als er es in der Hand hielt, sah er nach, wieviel Barschaft er denn bei sich trug. Armer Onkel Harald, halt dein Geld beisammen, dachte Mel. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, hob er beschämt den Hintern aus dem Sessel und schob das Etui in die Tasche zurück.

      Mel bedauerte sehr, dass sie Philos zuhause bei Mutter zurückgelassen hatte. Sie hatte Sorge, dass der Hund die Hektik der Stadt nicht gut vertragen würde. Aber wie es aussah, war sie es, der die Aufregungen zu viel wurden. Der Schmerz begann immer im Nacken, tief unten, und kroch dann langsam höher bis zum Schädeldach. Jetzt machte er sich gerade auf den Weg. Mit Philos hätte sie sich prima ablenken können, und den anderen täte der alte Herr bestimmt auch gut. Es war ein Golden Retriever, der mit seinen acht Jahren genug von der Hundewelt gesehen hatte, um die Menschen in seiner Nähe beruhigen zu können. Ob er gerade Mama beruhigen konnte?

      Sie war heute morgen schlecht dran gewesen und hatte das Frühstück nicht angerührt. Was sie jetzt wohl gerade anstellte? Jedenfalls war mit einem Haufen Arbeit zu rechnen, wenn diese Farce hier beendet war und Mel heimfahren könnte.

      Als der Notar sich endlich ins Büro bemühte, fiel die Spannung auf den Gesichtern zusammen wie Hefeteig in Zugluft. Der Mann sah so furchtbar grau und verschlissen aus wie ein Autoverkäufer, dem die Firma seit Monaten Vorwürfe macht wegen der miserablen Abschlusszahlen.

      „Dr. Abstoß.“ Mehr war von seiner Begrüßung nicht zu verstehen, die er mit einem winzigen Nicken begleitete. Nur Melanie grinste er kurz an und hielt den Blick dann eine Sekunde zu lang.

      Mel kannte das schon, dieses Glotzen und Ringen, aber sie war immer noch die erste, die den Blick abwandte. Mama hatte oft genug staunend und warnend vor ihr gestanden. "Deine Augen, Kind, diese Augen! So blaue Augen, Kind! Die werden es dir einmal leichter machen im Leben. Oder viel schwerer."

      Ach, Mama. Jedenfalls starrten immer alle ungläubig und suchten Hinweise auf gefärbte Kontaktlinsen oder sonst etwas Künstliches. Oder Übernatürliches. Mel fand sich ganz gewöhnlich. Das blonde Haar trug sie halblang, meist in der Mitte gescheitelt. Kein Makeup, nicht mal beim Abi-Ball. Als sie 12 war, hatte sie beschlossen, keine Kleidchen mehr zu tragen. Auch heute war sie in Jeans und Pulli gekommen. Ganz gewöhnlich.

      Der Notar nahm flink hinter seinem abgewetzten Schreibtisch Platz. Eine billige Unterschriftenmappe aus schwarzer Pappe, die an den Rändern schon ausfranste, öffnete er und blätterte wichtigtuerisch darin herum, obwohl nur ein einziger, reichlich zerknitterter Zettel darin lag, der auch noch Fettflecken zeigte. Abstoß hielt ihn mit spitzen Fingern vor seine Nase. Melanie überlegte, ob er daran wohl etwas riechen könne von Opa Bel.

      So lange sie zurückdenken konnte, hatte er in seinem immer schon altersschwachen Zirkuswagen gelebt. Hier roch es nach Tieren und kaltem Zigarrenrauch. Mittags kam oft der klebrige Geruch seiner Kohlsuppe hinzu, und am Abend, wenn er von der Vorstellung zurückkam, wurde alles übertönt von seinem billigen Pitralon Rasierwasser. Sein Leben hatte er in diesen wenigen Duftwelten zugebracht. Artistenleben.

      Opa mochte diese Berufsbezeichnung nicht, und Melanie hatte dafür gesorgt, dass in seinen Grabstein nur die Worte ,Belema" und ,Bändiger" eingemeißelt wurden.

      Tante Jessica hatte nur gelacht: "Bändiger!", rief sie, "wen oder was hätte der je gebändigt? Der kriegte sich doch nicht mal selbst in den Griff!" Widerstand leistete sie jedoch nicht. Es war ihr nicht wichtig genug, und billiger wurde es so auf jeden Fall.

      Belema war kein Bilderbuch-Dompteur, sah nie aus wie die beeindruckenden Mannsbilder, die Mel aus den Pixi-Büchlein kannte: Rotbackig und muskelbepackt, verkleidet wie ein südamerikanischer General, mit wuchtigen Epauletten und glänzenden Litzen.

      "Talmi", sagte er nur, wenn man ihn darauf ansprach. "Damit kannst du gar nichts erreichen bei den Tieren. Und die Zuschauer, die sowas brauchen, sollen zum Teufel gehen. Oder zum Schützenfest."

      Großvater hätte es sicher leichter gehabt im Leben mit so etwas wie den blauen Augen seiner Enkelin, oder mit einem pompösen Aufzug. Es gab nicht viele Zirkusdirektoren, die seine Qualitäten richtig einschätzen konnten. Bellini in Wien hatte ihm zuletzt ein Gnadenbrot gegeben: Eine komische Nummer, bei der seine Gebrechen nicht hinderlich waren.

      Nur Philos spürte in Belemas Gegenwart bis zuletzt den ungebrochenen Willen. Nie hatte Melanie bemerkt, wie die Verständigung zwischen den beiden ablief. Da waren keine großen oder kleinen Gesten, keine auffälligen Blicke und erst recht keine Worte nötig. Der Hund war völlig willenlos in seiner