Michael Möller

Magic Melanie


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so viel Mühe machen, stößt die Liebe an Grenzen.

      Der R4 ging hinten mächtig in die Knie, aber sie war stolz auf ihr praktisches Gefährt. Sicher wäre der Umzug nach Ulm kein Problem damit. Den Wohnwagen noch verschließen! Sie brachte es nicht über sich, ihn offen stehen zu lassen, wie Opa das immer tat. Sie ging zurück und wollte sich zwingen, die Mäuse zu vergessen. Wieso schaffte sie sowas nie? Etwas vergessen, einfach so! Ein bisschen was von Onkel Harald hätte sie doch gern gehabt! Der Herrgott hatte vergessen, sie mit den ortsüblichen Scheuklappen auszustatten. Blickwinkel 360 Grad. Wie die Fliegen. Sie hoffte inständig, dass sie die Tierchen nicht mehr antreffen würde.

      Und wirklich: Die dunkle Ecke war leer! Kluge Tierchen. Haben gemerkt, dass sie nicht so sehr willkommen sind. Melanie sah noch einmal flüchtig, sehr flüchtig überall nach, schloß aber dann die Wagentür. Ein Schlüssel war nirgends zu finden. So genau mochte sie nicht nachschauen. Womöglich hätte sie dann das Mäusenest aufgestöbert. Schnell weg hier.

      Auf dem Weg zum Auto fühlte sie sich beobachtet. Das passierte immer, wenn sie etwas tat, was man nicht von ihr erwartete, was sie selbst vielleicht nicht ganz in Ordnung fand. Wer da nun saß und ein Auge auf sie warf, wusste sie nie. Ein bisschen Ähnlichkeit mit ihrem Opa hatte die Gestalt vielleicht.

      Melanie verscheuchte die Gedanken und setzte sich trotzig-schwungvoll in ihr Auto. Auf dem Beifahrersitz hatte es sich eine fünfköpfige Mäusefamilie bequem gemacht. Die drei Kleinen schliefen. Zwei größere Exemplare saßen richtig ordentlich in Fahrtrichtung. Die Maus mit den längsten Bartspitzen wisperte: "Nun fahr schon los!"

      Durchgebrannt

      "Ich werde noch wahnsinnig!" schrie Mel. Es klang enttäuschend dumpf im Auto. Sie wollte das Fenster runterkurbeln, tastete an der Tür, fand aber keine Kurbel. Sie war wieder einmal abgefallen. Wütend beugte sich Mel während der Fahrt bis zur Beifahrertür und drehte dort das Fenster einen Spalt herunter. Wollte nochmal schreien, kam sich aber zu blöd dabei vor. Warf nur den Mäusen einen bösen Blick zu und fuhr weiter, die Hände jetzt fest ums Lenkrad geklammert.

      Ich höre Stimmen, dachte sie. Ich fahre kaputte Gaskühlschränke und eine Horde Bonsai-Ratten durch die Gegend. Ich fahre nach Hause und weiß, dass dort noch mehr solche Erbstücke auf mich warten. Ich komme nicht dazu, diese blöde Kurbel festzuschrauben. Ich habe nix als ein Papier, dass mir meine Reife bescheinigt, und will in einem Monat auf eigenen Füßen stehen. Ich trage an jedem Fuß eine Eisenkugel, die jeden Tag schwerer wird. Und es ist überhaupt nicht kindisch, hier zu schreien.

      Und sie schrie. Schrie wie am Spieß. Die Tränen traten ihr in die Augen. Sie konnte die Straße vor sich nicht mehr erkennen. Bremste scharf ab. Stand. Heulte. Weinte wie das Kind, das sie immer noch war. Immer bleiben würde. Kind, Kind!

      "Du hältst den Verkehr auf!" wisperte es von unten. Mel ballte unwillkürlich die rechte Hand zur Faust und schwang sie drohend über den Tieren. Die beiden Großen streckten nur die Köpfchen hoch, senkten sie dann und rückten etwas näher an ihre Brut heran.

      "Tu es nicht. Du würdest es bereuen. Und nun fahr. Wir werden beobachtet." Mel blickte kurz in den Rückspiegel, drehte das Radio an und stellte laut, was da gerade dudelte. Sie fingerte erfolglos nach Taschentüchern. Der Ärmel der Jeansjacke musste herhalten. Er war sowieso fettverschmiert von den Ausbauarbeiten im Wohnwagen. Endlich fuhr sie dann aber doch los und streckte den Stinkefinger energisch aus. Allerdings so, dass die Autofahrer hinter ihr es nicht sehen konnten.

      Die Sonne verdrückte sich hinter den westlichen Hügeln und hinterließ ein rosiges Farbenspiel, das Melanie einigermaßen beruhigte. Trotzig ließ sie den Blick von der engen und kurvenreichen Straße abschweifen, die sie zunächst von Honscheid Richtung Petershagen führte. Tiefe Schatten bildeten sich bereits im jungen Grün der Eichen, die haarige Kuppen auf den Hügeln bildeten. Auf der Höhe kurz vor dem Weiler Ginspert hielt sie auf offener Strecke an, um in Ruhe das Spiel der Lichter auf den Wipfeln zu beobachten. Ein leichter Südwind brachte Bewegung in die Fichtenspitzen und trieb die Wolkenbänder leise vor sich her. Mel öffnete die Tür und atmete tief ein, genoss es, dass dieser elend lange Winter endlich vorbei war. Sie schloss für einen Moment die Augen und merkte, dass auch ihre Kopfschmerzen sich verzogen hatten. Der hartnäckige Dauerschnupfen der letzten Monate hatte sich aufgelöst. Deswegen waren auch keine Tempos mehr im Auto.

      Als sie das Radio ausmachte, hörte sie erst einmal gar nichts mehr, außer diesem verrückten Nachdröhnen der Dire Straits, die Paps immer so gern gehabt hatte. Dann mischten sich piepsige Vogelstimmen hinein, die sie nicht kannte. Bis dann urplötzlich der erste Kranichschrei in diesem Jahr sie elektrisierte. Sie kletterte aus dem Auto, um den Kopf empor zu recken. Gerade rechtzeitig genug, um den Vogelzug noch zu erkennen. Es war nicht die klassische Eins, die jetzt in den Norden zog, sondern ein ziemlich ungeordneter Haufen. Aber irgendwie fanden die Vögel sich immer wieder für Sekunden zusammen, um dann in alle Richtungen auseinander zu stieben. Dennoch würden sie ihren Lagerplatz irgendwo an der Ostsee erreichen. Diese Tiere hatten eine untrügliche Orientierung. — Und wie war das in ihrem eigenen Leben? Im Moment sah alles ziemlich chaotisch aus, aber bald würden die Lebenslinien sich wie über einem Magnetfeld ordnen und endlich ein Muster ergeben. Ganz egal was für eins, aber ein Muster! Sie musste nur dieses verdammte Kraftfeld finden, von dem sie überhaupt keine Vorstellung besaß.

      Ein BMW kurvte mühsam an ihr vorbei. Der Fahrer, ein rundlicher Graukopf, schüttelte ärgerlich den Kopf, so dass sein Goldkettchen im Abendlicht blitzte. Melanie stieg in ihr Auto und machte sich Mut für den Heimweg. Probierte den Kranich-Schrei und nahm sich vor, die Unterlagen für ihre Bewerbung in Ulm zu checken. Papierkram war nicht ihre Stärke.

      Als sie in Waldberg den schmalen Wirtschaftsweg zu ihrem Elternhaus hinauf fuhr, fiel ihr der blaue BMW auf. Graukopf! Auch das noch. Mel stellte sich neben den Wagen des Besuchers, stieg nach einem Blick auf ihre Tierchen aus und ließ die Tür sehr weit offen stehen.

      Durch die grünlich getönten Scheiben des BMW sah sie die Freisprechanlage mit dem finnischen Luxushandy und das Display eines Navigationssystems. Sicher hatte ihn eine freundliche Damenstimme hierher geleitet. Melanie wünschte sich, dass dieser kleine Flecken Heimat für die Satelliten da oben nicht erkennbar wäre. Gerne hätte sie das irgendwo beantragt, für ihre Mutter und für sich selbst. Doch auf dieser Erde durfte es keine weißen Flecken mehr geben. Dabei hätte sich das winklige Fachwerkhaus auf dem Bruchsteinsockel so herrlich geeignet als weißer Fleck.

      Auf dem Rücksitz erkannte sie noch die Senior-Gigolo-Grundausstattung: Eine bauchige Flasche mit protzigem Champagner-Schiftzug, der an Moet & Chandon erinnern sollte. Daneben lag, in Plastikfolie eingewickelt und mit blassgrüner Schleife gebunden, eine Phantasie- Orchidee, der auch eine längere Reise überhaupt nichts ausmachen konnte. Vielleicht hatte Graukopf ja noch ein Alternativ-Date ausgemacht? So ein überwältigendes Präsent für die Dame des Herzens lässt man doch nicht im Auto liegen! — Es würde enden wie immer, wusste Mel.

      Drinnen war man noch beim Vorspiel. Mutter zeigte Graukopf gerade den Computer. Seltsamerweise kam sie mit dem Apparat immer gut zurecht, während sie an einem simplen Radiowecker schon verzweifeln konnte.

      Sie begrüßte Melanie, ohne sie anzusehen: "Oh, Liebes, wunderbar! Da kann ich dir gleich Herrn..."

      "Sehr erfreut, wir hatten bereits das Vergnügen, nicht wahr?", unterbrach sie der Namenlose und zwinkerte Melanie zu.

      Sophie Sternfeld kannte ihn vorerst nur als Cicero. Eigentlich hieß er Christoph Bauschulte und kam aus einem Kaff bei Münster. Den entschlossenen Senator Cicero mimte er nur im Chatroom.

      Melanie grüßte ihre Mutter kurz und fragte dann, ob Philos aufgetaucht sei. "Nein, Liebes, aber mach dir doch keine Sorgen. Vielleicht wird er ja auf seine alten Tage nochmal rollig", kicherte sie mit einem verschwörerischen Blick auf Graukopf.

      "Mutter! Philos ist seit Jahren kastriert." Sie hätte nun gerne ihrerseits dem Herrn Cicero einen Blick zugeworfen, aber das gelang ihr nicht. Womöglich hätte er dann in ihre Augen starren müssen wie dieser Dr. Abstoß.

      "Ich durfte soeben mit Ihrer Frau Mutter anstoßen.