Michael Möller

Magic Melanie


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er, dass der schmuddelige Fetzen dadurch lesbarer würde.

      "Die Anwesenden haben sich ordnungsgemäß ausgewiesen und sind vollzählig erschienen. Ich darf Ihnen zunächst mein tiefes Bedauern über den Tod..."

      Er wirkte nicht sonderlich überrascht, als Tante Jessica ihn unterbrach:

      „Ich denke, das können Sie sich und uns ersparen, guter Mann."

      Der Notar blickte nur kurz über seine Brille hinweg auf Jessica, deutete sein Missfallen durch ein Zucken der Augenbrauen an, überging dann aber bereitwillig sein einstudiertes Präludium.

      Melanie ertappte sich bei einem Anflug von Schadenfreude, als sie hörte, was die notarielle Singsangstimme endlich unter den Erben verteilte. Für sich selbst hatte sie keinerlei Erwartungen. Deshalb konnte sie genüsslich zuhören, wie Großvater aus seinem Jenseits kleine Bosheiten verlesen ließ.

      Olaf, der schon die ganze Zeit etwas enttäuscht gewirkt hatte, weil sein Telefon ihn durch eindringliches Schweigen immer unwichtiger werden ließ, war ab sofort Besitzer eines Anleihepaketes.

      "Meine Mutter hat mit ihren Spargroschen den letzten Krieg finanziert", las der Notar. "Bei deinem Talent, Olaf, selbst Mist zu Geld zu machen, wird es dir nicht schwerfallen, deine Ansprüche an Vater Staat zu Geld zu machen." Melanie glaubte, Bels Stimme zu hören, wie sie sich über Olaf lustig machte. Die Anleihescheine waren schon zu Kriegszeiten das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt waren.

      Olaf hatte kapiert. Er schnappte nach kurzem Zögern seine Mappe und stürmte aus dem Büro. Im Hinausgehen rief er Onkel Harald noch ein "Ich ruf dich an!" zu. Der aber war viel zu aufgeregt, um so schnell reagieren zu können.

      Der Notar hatte sichtlich Mühe, Belemas kumpelhaftes Deutsch vorzutragen. Mit spitzem Mund las er: "Harald, alter Schwede! Jetzt bist du dran! Für dich habe ich etwas Besonderes: Meinen Wagen kannst Du haben. Sicher wirst Du ihn renovieren oder verbrennen. Nimm aber vorher das Plakat ab, das über meinem Bett hängt, hinter der Holzverkleidung. Es zeigt Mr. Frederick, den ich sehr bewundere. Du wirst einige seiner brillantesten Nummern darauf dargestellt sehen: Katzen und Hunde als" - der Notar las das nächste Wort sehr langsam "Equilibristen und Radfahrer; Haustiere, die eine Kutsche ziehen, und sehr viele Mäuse. Aus der Mitte blickt dich eine schwarze Katze an. Sie trägt eine Maus im Schnäuzchen, die wie tot aussieht. Drei andere putzen sich auf ihrem Kopf. Du wirst mir Recht geben: Die Katze hat Ähnlichkeit mit Jessica!" Ein prüfender Blick des Anwalts. "Was Dich aber wirklich interessiert: Das Plakat stammt aus der alten Friedländer-Druckerei und ist über 120 Jahre alt. Du wirst sicher ein Museum finden, das es dir abkaufen wird. Warte noch zwei bis drei Jahre damit."

      "Na, immerhin!" Onkel Harald überspielte seine Verlegenheit nicht sehr geschickt mit einem gezwungen fröhlichen Tonfall, aber er hatte Sportsgeist genug, um nicht aus dem Zimmer zu rennen. Vermutlich interessierte ihn auch, wie die beiden anderen ausgehen würden. Auch Mel wollte jetzt wissen, was ihr Opa sich für Jessica ausgedacht hatte.

      Eine Kristallkugel war es, "...in der ich schon so manches über dich lesen konnte. Vielleicht findest du ja auch etwas Interessantes darin. Konzentriere dich ganz feste, dann gelingt‘s! Ich hab’s mal mit unserer Nacht am Alpsee versucht, du weißt schon. Ich sah da Sachen, ich kann dir sagen. Eine tolle Sache, diese Kugel. — Ach ja: Wenn du meinen schwarzen Kater finden solltest behalt ihn bitte. Er wird dir gut stehen!" Aus dem Munde des Notars klang diese Spitze noch boshafter, als Belema sie je hätte aussprechen können. Tante Jessica war erstarrt und sprachlos. Das war das erste Mal, seit Mel sie kannte.

      "Nun zu Dir, mein Kind." Der Notar nutzte die Gelegenheit, die junge Frau endlich in Ruhe zu mustern. Melanie musste kurz in die Runde blicken und entschuldigte sich mit einem verlegenen Lächeln für die freundliche Anrede. "Du erinnerst Dich bestimmt an meinen kleinen Kühlschrank? Den aus meinem Wagen. Wenn du mich besuchen kamst, hast du im Sommer immer eine Tafel Schokolade dort gefunden. Die mit den Mandeln mochtest du am liebsten, stimmt's? Du kannst den Kühlschrank einfach ausbauen. Ich weiß, dass du das schaffst. Ich sage dir: Alles, was Du brauchst, findest du darin. Und kümmere Dich bitte um meine Tiere. Keine Angst, sie sind sehr klein und genügsam, fast selbständig. Du wirst sehen. Aber schau genau. Allez hopp! Vergiß mich nicht. Ich liebe Dich, meine kleine große Mellie."

      Melanie wurde rot und war ihrer Tante richtig dankbar, dass sie die Lage mit ihrem hysterisch-spitzen Lachen entspannte: "Einen Kühlschrank! Ich kann mir vorstellen, wie es da drin aussieht. Hoffentlich bist du nicht allergisch gegen Schimmelpilze!" Sprach's und raffte Mantel und Handtasche. "Viel Glück, mein Kind! Ich werde in Kürze mal einen Blick in deine Zukunft werfen. Ich werde die Kugel gleich mitnehmen. Ich ruf dich dann an, kleine große Mellie!"

      Meine Güte, jetzt klang sie wirklich wie eine der Hexen auf den Märchencassetten, die Mutter manchmal hervorkramte und dudeln ließ.

      Melanie wußte nicht, was sie mit dem winzigen Kühlschränkchen anfangen sollte. Das sah nur nach Arbeit aus. Aber was hatte sie erwartet? — Allez hopp.

      Kümmernisse

      Mutter hatte inzwischen alle Gardinen abgenommen, auch die vom Flurfenster, das man nur erreichen kann, wenn man die Leiter auf die vierte Treppenstufe stellt. Sie lagen auf einem Haufen in der Küche, und Philos hatte sich ein Plätzchen darauf eingerichtet. Unschuldig blickte er Melanie an, lenkte mit ruhigem Blick ab von den Fetzen, in die er die Küchengardinchen verwandelt hatte. "Das war aber mal nötig", stöhnte Mutter und streute aus einer Tüte ein blaues Pulver über die vergilbten Stores aus dem Wohnzimmer. Mutter hatte sich vor drei Jahren das Rauchen angewöhnt.

      "Bitte, Mama, was tust du? Gleich wirst du noch Wasser auf die Gardinen schütten!"

      "Unsinn. Das ist ein Trockenreinigungsmittel. Laß mich nur machen. Wenn du nur mit dem Hund noch etwas rausgehst."

      Melanie musste die Arme sehr weit machen, um den staubigen Wäscheberg zu packen. Philos hatte sich sicherheitshalber verzogen. Auf dem Weg in die Waschküche verlor sie mehrere Stücke und ärgerte sich, dass sie den Weg noch einmal machen musste.

      "Soll ich dir helfen?" rief Mutter aus der Haustür. Sie hatte die Leiter unterm Arm und versuchte, damit um die Ecke zu kommen. Ein Topf mit Duftgeranien wurde Opfer dieser Aktion und verteilte seine krümelige Erde auf dem Flurteppich.

      "Bitte nicht, Mama. Es geht schon."

      Vor der Waschmaschine saß Philos und machte sein Wollen-wir-nicht-endlich-hier-raus?-Gesicht. Melanie machte es nach, so gut es ging, und als Philos nicht gleich verstand, sagte sie entschieden: "Ja! Wir wollen endlich hier raus!" Sie ging in die Hocke und presste mit dem Po die Waschmaschinentür hinter dem Wäscheknäuel zu. Das richtige Programm wählte sie wie im Schlaf. Philos kratzte behutsam, aber unüberhörbar an der Kellertür, die in den Garten führte. Draußen war es bereits dunkel geworden. Niemand raffte sich auf, eine Beleuchtung für die Treppe installieren zu lassen. Wenn Vater noch da wäre, hätte er das längst erledigt.

      Melanie stieß die Trauer, die sie manchmal wie ein Panther aus dem Nichts ansprang, mit einem Seufzer von sich. Sie kannte jede einzelne dieser Stufen, hatte sie schon oft von Herbstlaub, Schnee und Moos befreit. Sie sprang hinter Philos her und war schon auf der letzten Stufe, als sie einen Fuß auf etwas Weiches setzte, das erbärmlich aufjaulte. Philos hatte sich vor Schreck flach auf den Boden gelegt, denn er hatte jemand im Garten ausgemacht, den er nicht erkannte. Melanie sah den schwarzen Umriß einer menschlichen Gestalt, der sich von der Wand der kleinen Scheune abhob, in der die Ponies standen. Sie kannte diesen Umriß und war nicht überrascht, als sie Juro an seiner kehligen Jungenstimme erkannte: „Wo warst du? Ich warte seit Stunde hier.“

      „Du hast doch wohl meine Mutter nicht belästigt!“ Mutter hatte Angst vor ihm. Er war sehr groß für seine dreizehn Jahre, und seine dunklen Haare und Augen schüchterten sie ein. Vor allem aber die fanatische Hartnäckigkeit, mit der er um Melanie herumschlich, hatte sie vorsichtig gemacht. Mamas tägliche Warnungen hatten einen anderen Klang, seit Juro hier aufgetaucht war: "Geh nicht im Dunkeln auf die Straße, Kind! Nicht allein!"

      Immer wenn er anrief und Melanie nicht schnell genug am Telefon war,