antwortete das Mädchen selbstsicher. „Diesmal bleiben wir über Sommer hier.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Bist du nicht der Andi aus der siebten?“
„Fast richtig“, sagte Andi. „Ich heiße zwar Andi, aber ich komme jetzt in die achte Klasse.“
Das Mädchen war Andi flüchtig aus der Schule bekannt. Hier in der Siedlung kannte jeder jeden zumindest vom Sehen. Es war wie auf einem Dorf. Von vielen wusste Andi den Namen und wo sie wohnten. Nur zu den Familien, die keinen Nachwuchs hatten oder deren Kinder entweder ganz klein oder schon aus dem Haus waren, hatte er kaum Kontakt. Das Mädchen hatte er regelmäßig im Schulbus gesehen. Andi wusste von ihr, dass sie eine Klasse unter ihm ging. Jedoch hatte er noch nie mit ihr zu tun gehabt, sodass er ihren Namen nicht kannte.
„Und wie heißt du?“, fragte er.
„Ich heiße Otto“, sagte sie knapp.
„Otto?“, entgegnete Andi verwundert. „Das ist doch ein Jungenname. Du siehst aber wie ein Mädchen aus.“
„Ich bin auch ein Mädchen“, antwortete sie empört. „Eigentlich heiße ich Ottilie nach meiner Großmutter“, fügte sie verlegen hinzu. „Aber wer mich so nennt, den verprügele ich höchstpersönlich“, fuhr sie kämpferisch fort. „Also sagt gefälligst Otto zu mir!“
‚Die und mich verprügeln’, dachte sich Andi. ‚Ganz schön frech und überheblich ist die. Ich lass mich doch nicht von einem Mädchen verhauen. Aber immerhin gibt es jetzt noch jemandem mit so einem komischen Namen wie mich, der sich deshalb nur bei seinem Spitznamen rufen lässt.’
Das verschaffte Andi eine gewisse Zufriedenheit. Aber er sagte nichts davon, da er nicht auf seinen richtigen Namen zu sprechen kommen wollte. Das wäre ihm zu peinlich gewesen. Er war froh, dass das Mädchen ihn als Andi kannte.
„Wer bist du denn?“, fragte Otto und zeigte in Ferdis Richtung. „Dich habe ich hier noch nie gesehen.“
Ferdi schreckte hoch, als sei er bei etwas Verbotenem auf frischer Tat ertappt worden.
Als müsste er sich dafür entschuldigen, dass Otto ihn nicht kannte, antwortete er: „Ich bin nicht von hier. Ich bin nur zu Besuch.“
„Das ist mein Cousin Ferdi. Er verbringt hier bei mir die Ferien“, stellte Andi ihn vor.
Wieder zu Andi gewandt fragte Otto sehr direkt: „Was habt ihr jetzt vor?“
„Wir wollen eine kleine Radtour machen. Ich möchte Ferdi die Siedlung zeigen“, antwortete Andi.
„Darf ich mitkommen? Ich habe gerade nichts Besseres zu tun“, fragte Otto unverschämt.
Ursprünglich hatte Andi sich vorgenommen, Ferdi die Siedlung alleine zu zeigen und ihn dabei mit seiner Ortskenntnis zu beeindrucken. Daher hätte er jetzt nein sagen müssen. Aber als Andi vor fünf Jahren mit seinen Eltern hierher in die Siedlung gezogen war, hatte er die Grundregel gelernt: Völlig gleich, was man macht, es macht jedem einzelnen umso mehr Spaß, je mehr von den anderen Kindern dabei sind.
Also sagte Andi mit gespielter Gleichgültigkeit: „Na gut, meinetwegen.“
Ihre Räder waren fertig und sie machten sich zu dritt auf den Weg. Andi radelte voraus, da er seine Führungsrolle nicht aufgeben wollte. Die beiden anderen folgten ihm leicht versetzt. Zu dieser Zeit war kaum Verkehr in der Siedlung. So konnten sie mitten auf der Straße fahren, ohne ständig Autos ausweichen zu müssen. Andi freute sich, dass er jemanden gefunden hatte, der in den Ferien hier geblieben war. Es war zwar schön, dass Ferdi ihn besuchte, aber die gesamte Zeit ausschließlich mit ihm zu verbringen, wäre auf Dauer zu eintönig geworden. Außerdem konnten sie mehr unternehmen, wenn sie mehrere waren. Andi ärgerte sich nur, dass es ausgerechnet ein Mädchen sein musste, das sich zu ihnen gesellt hatte.
Die drei waren zwei Straßenecken weitergekommen, da schoss Andi ein Wasserstrahl mitten ins Gesicht. Kurz darauf wurden die beiden anderen ebenfalls vom Wasser getroffen. Überrascht hielt Andi an. Im Vorgarten des Hauses, an dem sie gerade vorbeifuhren, stand ein kleiner Junge mit einem Gartenschlauch. Der Knirps richtete den Strahl auf Andi und lachte dabei laut.
Wütend rannte Andi durch die Gartenpforte auf den Burschen zu und schrie: „Was fällt dir ein, mich nass zu spritzen. Dir werde ich es zeigen, du kleiner Wicht, du halbe Portion.“
Andi wollte den Jungen greifen, um ihn durchzuschütteln, als er selbst unsanft auf dem Rasen im Vorgarten landete. Er lag wie ein Maikäfer auf dem Rücken und strampelte mit Armen und Beinen. Der Kleine lachte noch immer.
„Du solltest wissen, der Junge ist nicht klein“, sagte Otto kühl. „Er geht in meine Parallelklasse und ist so alt wie ich. Er ist nur schmächtiger als wir. Übrigens macht er Kampfsport.“
„Hättest du mich nicht eher warnen können?“, fauchte Andi das Mädchen zornig an.
„Ich kann doch nicht ahnen, dass du ohne nachzudenken gleich in dein Verderben rennst. Außerdem hast du es ja selbst herausgefunden“, entgegnete Otto überheblich.
Andi rappelte sich auf und ging auf sicheren Abstand zu dem Jungen. Der Junge war sehr schlank, fast dürr und über einen Kopf kleiner als er.
„Okay, ich gebe mich geschlagen“, sagte Andi genervt. „Aber damit ich weiß, wer mich bezwungen hat, hast du einen Namen?“
„Ja, ich heiße Karl“, antwortete der Junge und lachte weiter.
„Einfach nur Karl oder hast du auch einen Spitznamen wie Kalle oder Karli oder Karlchen?“, fragte Andi nach.
„Nein, ich habe keine Spitznamen und ich mag auch keine. Nennt mich einfach nur Karl“, erwiderte der Junge ruhig, aber bestimmt.
‚Das gibt es also auch’, dachte Andi, ‚jemanden, der nur seinen richtigen Namen hat und der ausschließlich damit gerufen werden möchte.’
Andi musste an Karl den Großen denken und kam auf Karl den Kleinen als Spitznamen. Davon sagte er aber nichts, denn er wollte nicht riskieren, nochmals zu Boden geschickt zu werden.
Andis Wut hatte sich schnell gelegt. Der Wasserstrahl, mit dem Karl die drei bespritzt hatte, war eine willkommene Erfrischung bei dem warmen Wetter gewesen. Es war mehr der Schreck, unvorbereitet davon getroffen zu werden, der Andi wütend gemacht hatte.
Andi hatte sich beruhigt und fragte Karl sachlich: „Warum hast du uns nass gespritzt?“
„Ich wollte, dass ihr anhaltet“, antwortete Karl. „Ich war mir nicht sicher, ob ihr stehen bleibt, wenn ich bloß winke. Alle meine Freunde sind verreist. Nur ich bin alleine hier geblieben. Ich suche daher jemanden, mit dem ich etwas unternehmen kann.“
„Willkommen im Club“, sagte Andi und stellte Ferdi und sich kurz vor.
Otto und Karl kannten sich bereits aus der Schule.
„Hast du ein Fahrrad, Karl?“, fragte Andi. „Möchtest du mit uns kommen?“
Das ließ sich Karl nicht zweimal sagen. Er holte sein Rad und folgte den dreien. Andi war zufrieden. Immerhin war die kleine Gruppe auf vier Kinder angewachsen. Er nahm Karl noch etwas übel, dass er ihn ungefragt nass gespritzt hatte. Außerdem gefiel ihm nicht, dass Karl ihn ohne Mühe zu Fall bringen konnte, obwohl er kleiner war als er selbst. Dennoch war Andi froh, dass es ein Junge war, der sich der Gruppe angeschlossen hatte.
Die vier fuhren mit ihren Fahrrädern durch die Straßen. Nach einer halben Stunde hatte Andi Ferdi alles gezeigt, was es dort zu sehen gab. Die Kinder hielten bei einem kleinen Supermarkt, dem einzigen Geschäft in der Siedlung. Dort gab Ferdi von seinem Taschengeld für alle ein Eis aus. Er selbst kaufte sich die größte Portion. Sie setzten sich in einer nahegelegenen Grünanlage im Kreis um einen großen Stein herum und genossen die erfrischende Speise.
Nachdem die vier aufgegessen hatten, fragte Ferdi: „Was machen wir jetzt?“
„Der Spielplatz ist langweilig. Der ist nur für die Kleinen“, sagte Karl.
Sie beschlossen, sich umzusehen und kamen an dem Bolzplatz vorbei. Dort hielten sie an und stiegen von den Rädern, um