Toni Hartl

WOM


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keinesfalls die Gefahr eines Waldbrandes entstehen konnte. Wenig später hatten sie bereits den halben See umrundet und setzten ihre Reise fort.

      Im Laufe des Vormittages erreichten sie eine Anhöhe, auf deren Gipfel wohl ein Sturm zahlreiche Bäume gefällt hatte. Dieser Umstand gönnte ihnen eine ungehinderte Fernsicht in südliche Richtung. Sie zügelten daher ihre Rehe und genossen den fantastischen Ausblick.

      „Siehst du das da hinten am Horizont?“ fragte Walgin seinen Gefährten, nachdem sie eine Weile schweigend gestaunt hatten. „Ja“ meinte Nondol und beschirmte mit einer Hand seine Augen gegen die Sonne. „Was meinst du, könnte das schon das Lärmgebirge sein?“

      „Ja, ich denke, das ist es wohl. Allerdings sind wir bereits wesentlich näher dran, als ich dachte. Das überrascht mich.“

      „Ja, mich auch“ entfuhr es Nondol gedehnt. Er hegte Zweifel, dass es sich bei der Bergkette, die sie am Horizont erblickten, wirklich um das Lärmgebirge handeln könnte. Mingar hatte geschätzt, dass sie es bei raschem Vorankommen in etwa 10 Tagen erreichen würden und nun sahen sie es bereits vor sich.

      „Nun ja, es ist ja im Grunde egal, welche Bergkette das da vorne ist“ ließ Walgin sich vernehmen. „Sie liegt jedenfalls in südlicher Richtung und wir werden darauf zureiten, ob es nun das Lärmgebirge sein mag, oder nicht.“

      „Wie recht du doch hast, du schlauer Bursche“ witzelte Nondol mit einem Lächeln. „Na dann mal weiter, wir haben keine Zeit zu verlieren. Bald bricht die Nacht herein und wir haben noch keinen Lagerplatz.“

      Angesichts des kaum angebrochenen Tages musste Walgin herzhaft lachen. Dann trieben sie ihre Rehe zu einem forschen Trab an und waren bald darauf im Halbdunkel des Waldes verschwunden, der sich – wie sie vorher festgestellt hatten - über eine schier endlose Ebene erstreckte.

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      Die nächsten sechs Tage verliefen ohne Zwischenfälle. Sie brachen jeweils früh morgens auf, legten eine gute Strecke des Weges zurück und lagerten des nachts möglichst im näheren Bereich von Bächen oder Seen. Ihren Rehen bereitete die Unternehmung bislang keine Probleme. Es handelte sich bei ihnen um ausdauernde, zähe Tiere, die obendrein noch jung waren. Nondol hatte beinahe den Eindruck, dass die Tiere Vergnügen an der Reise fanden.

      Bis auf den Umstand, dass die letzten beiden Tage nicht mehr ganz so heiß gewesen waren, wie die vorausgegangenen, hatte sich das Wetter nicht verändert. Dafür waren sie beide dankbar. Wie ungemütlich wäre es gewesen, ständig von Regen durchnässt zu sein und womöglich zu frieren.

      Am Morgen des siebten Tages – sie hatten, wie auch die Abende zuvor, wieder eine ideale Lagerstelle gefunden – erwachte Nondol bereits vor Tagesanbruch aus einem unruhigen Schlaf. Er öffnete die Augen. Es war dunkel, der Mond warf ein silbriges Licht durch die Äste und über sich konnte er durch das Astgewirr hindurch einen sternenklaren Himmel erkennen. Ein deutlich vernehmbares Schnarchen offenbarte ihm, dass Walgin noch fest schlief.

      Warum war er aufgewacht? Er erinnerte sich, dass er Angst empfunden hatte. Drohte Gefahr? Nein, die beiden Rehe lagen keine zehn Körperlängen entfernt unter einigen Sträuchern und wirkten vollkommen entspannt. Es musste ein schlimmer Traum gewesen sein, der ihm diese Beklemmung vermittelt hatte. Nondol versuchte sich an die Traumhandlung zu erinnern. Er hatte Atemnot empfunden. Ja, jetzt kamen Bruchstücke des Albtraumes zurück. Etwas hatte seinen Herzschlag gehemmt, seine Brust eingeengt. Es war aber keine Angst gewesen, die er empfunden hatte. Nein, es war Sehnsucht und eine Spur von Traurigkeit. Hatte er von daheim geträumt? Von Garlina? War es Heimweh, das ihn im Traum geplagt hatte?

      Erst jetzt bemerkte er, dass er am ganzen Körper schwitzte. Das war eigenartig, denn so warm und wohlig der Schlafsack auch war, es hatte in der vergangenen Nacht keine höhere Temperatur geherrscht, als in den Nächten zuvor. Eher das Gegenteil war der Fall. Als er versuchte, sich aus der Seitenlage auf den Rücken zu drehen, hemmte der Beutel, den er ja auch nachts an seiner Brust trug, im engen Schlafsack seine Bewegung. Nondol griff danach, um ihn dicht an den Körper zu drücken und fühlte in diesem Moment, dass von dem kleinen Behältnis eine ungewöhnlich intensive Wärme ausging.

      Hatte er etwa in Bauchlage auf dem Stein gelegen? Ach ja, natürlich! Ich Dummkopf hab mir der Brust auf dem Beutel gelegen und der harte, runde Kristall hat gegen mein Herz gedrückt, kam ihm die Erleuchtung. Aber weshalb war das Leder so warm? Die Frage beiseite wischend entschloss er sich, da er nun schon einmal wach war, aufzustehen und trockenes Holz zu sammeln.

      Das Feuer prasselte bereits und das Wasser in der Pfanne begann eben zu kochen, als auch Walgin aus seinem Schlafsack kroch und sich den wärmenden Flammen näherte. Inzwischen trällerten in den Bäumen die Vögel und mit dem ersten Morgengrauen stieg allerorten leichter Dunst aus dem Boden.

      „Was ist denn mit dir heute los?“ begrüßte Walgin seinen Kameraden. „Bist du etwa neuerdings ein Schlafwandler und tust Dinge, die du sonst verabscheust?“

      „Ach komm“ winkte Nondol ab.

      „Na hör mal“ entrüstete sich Walgin auf eine Art, die erkennen ließ, dass er es nicht ernst meinte „das ist heute immerhin das erste Mal, dass nicht ich für das morgendliche Feuer zu sorgen habe. Da wird man sich doch noch wundern dürfen.“ Nondol überging diesen Witz und reichte ihm seine Tasse, aus der bereits der Dampf des heißen, duftenden Inhalts emporstieg. „Ich bin übrigens vorhin bis in den Wipfel dieser großen Buche dort hinten gestiegen und weißt du, was ich gesehen habe?“

      „Nichts, weil es dunkel war.“ Walgin konnte es einfach nicht lassen, seine trockenen Witze zu reißen. Er war heute scheinbar besonders gut gelaunt.

      „Haa, haa!“ lachte Nondol gekünstelt. „Ich habe“, hier machte er grinsend eine bewusste Pause, „das Lärmgebirge gesehen!“

      „Was!“ Walgin war auf einen Schlag ernst und hellwach.

      „Ja, mein Guter. Und wir sind ihm schon verdammt nahe gekommen. Kann gut sein, dass wir morgen bereits davorstehen.“ Es verschaffte Nondol eine ungemeine Befriedigung, seinem Freund diese neue Erkenntnis mitteilen zu können.

      „Das glaube ich erst, wenn es so weit ist“ erwiderte Walgin skeptisch. „Vergiss nicht, dass wir das Lärmgebirge bereits vor fünf oder sechs Tagen gesehen haben und dachten, wir wären schon Walon weiß, wie nahe dran. Damals dachten wir sogar, es müsste ein anderes Gebirge sein, weil es so nahe ist.“

      „Ja, du hast schon recht“ gestand Nondol ein. „Aber heute war es bereits im ersten Halblicht so deutlich zu erkennen, dass man fast schon meinte, man könnte die Gollnogs darauf herum krabbeln sehen.“ Dann fügte er noch herausfordernd hinzu: „Sieh doch selbst nach, du Kletterkünstler, wenn du es nicht glaubst.“

      Nondol war sehr wohl bewusst, dass es für Walgin kein großes Vergnügen bedeuten würde, auf einen Baum zu klettern. Schon gar nicht, wenn er so hoch war, wie die gewaltige Buche, die unweit von ihnen in den Himmel ragte. Und damit lag er richtig. Sein Freund verzichtete darauf und entfernte sich, um etwas abseits ihres Lagers Wasser zu lassen. Als er zurückkam sagte er, wobei er bereits wieder zum Scherzen aufgelegt schien: „Du hast recht, ich hab es gerade eben auch gesehen.“

      Als er auch noch hinzufügte: „Ich konnte sogar einen Wasserfall erkennen“, brachen beide in prustendes Gelächter aus und Nondol wurde aufs Neue bewusst, wie wohl im Walgins Gegenwart tat.

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      Sie erreichten das Lärmgebirge nicht, wie Nondol vermutet hatte, am nächsten Tag. Immer wieder, wenn sie in einen Waldbereich kamen, in dem die Bäume nicht gar so dicht oder hoch wuchsen, konnten sie zwar die Spitzen der Bergkette